Von Hans Joachim Iwand
Während die östliche Theologie die Gottesfurcht paränetisch behandelt, begegnen in der abendländischen Entwicklung zwei Wege ihrer systematischen Bestimmung. Der eine Weg wird im MA ausgebildet und gibt die psychologische wie charismatische Grundlegung für die Beichte und das Sakrament der Buße ab. Der andere Weg wird in der Reformation beschritten und hat seine Voraussetzungen in dem neuen Verständnis der Buße und des Verhältnisses von Gesetz und Evangelium.
1. Abendländischer Ansatz
Für die erste Entwicklung ist die von Augustin ausgebildete Unterscheidung zwischen »reiner« und »knechtischer« Furcht (timor castus und timor servilis) bedeutsam. Etwas vereinfachend kann man sagen: die Diskussion bewegt sich zwischen der Furcht Gottes, wie sie in Ps 19, 10 beschrieben ist: »Die lautere Furcht bleibt in Ewigkeit«, und 1Joh 4, 18: »Die Furcht, die durch die vollkommene Liebe ausgetrieben wird«. Diese Furcht heißt nach Röm 8, 15 die »knechtische Furcht«, »die im alten Menschen ihre Anlage hat«. Während jene »bleibende« Furcht auf die Gottesliebe bezogen und aus ihr abgeleitet wird, ist die knechtische Furcht einfach eine Furcht vor Strafe. Diese kann den Menschen nie von innen her gerecht machen. Das vermag allein die »kindliche Furcht« (timor filialis), die aus der reinen Gottesliebe stammt.
Fragt man, wie denn mit der Gottesliebe Furcht verbunden sein kann, so antworten die meisten mittelalterlichen Theologen von Augustin (z. B. in Ev. Jo. tr. 43, 7 zu Joh 8, 48 ff.) bis zu Thomas von Aquino (S. Th. 1/II q. 43a. 1), daß die Liebe die Ursache (causa) der Furcht sei, nicht etwa umgekehrt. Und zwar dürfte dieser bedeutsame Satz, der in der reformatorischen Furchtlehre nicht mehr anzutreffen ist (erst mit Kierkegaards »Begriff der Angst« kommt diese Ableitung wieder auf), darin seinen Grund haben, daß die Gottesliebe als ein stets bedrohter, gefährdeter Besitz verstanden wird, wie ja auch Augustin und die Theologen des MA dieses Miteinander von Liebe und Furcht deutlich machen an der Angst der in reiner Liebe um ihren Mann bangenden Frau (coniunx casta) im Unterschied zu jener anderen (coniunx adultera), die aus Furcht vor dem Mann die äußere Treue hält (Augustin, in ep. Jo. tr. 9, 6). Dies Beispiel wird in die christliche Existenz verlegt, um den Unterschied herauszustellen zwischen der mit der Liebe bleibend verbundenen Furcht (des Verlassenwerdens durch den Geliebten) und jener anderen mit der echten Liebe unvereinbaren Furcht (des Entdeckt- und Gestraftwerdens vom nicht-geliebten, aber gesetzlichen Ehemann).
Wie kann Liebe mit Furcht verbunden sein? Es ist dies zunächst ein Ausdruck der Demut (humilitas). Man weiß, daß die Gottesgemeinschaft Gnade ist und diese das Gebot in sich schließt. So ist mit dem Besitz die Sorge um den Verlust gegeben. Auf der anderen Seite wurzelt diese Bestimmung der Gottesfurcht darin, daß Gott als Wert erscheint, als summum bonum, den zu verlieren wir ständig in Gefahr sind. So ist mit der Liebe zugleich das Moment der Angst gesetzt, d. h. die Furcht ist abgeleitet aus einer immer als Möglichkeit am Rande des neuen Lebens auftauchenden Beraubung (daher wird Furcht als passio verstanden).
2. Weitere Entwicklung
Durch das neue Verständnis der Glaubensgewißheit im reformatorischen Sinne mußte eine wesentliche Änderung eintreten. Die Gottesfurcht verlangt nach einer neuen Begründung. Diese ergibt sich aus der fiducia Dei (AC II, 23: »Wir nennen um der Verständlichkeit willen die Gaben selbst mit Namen: Gotteserkenntnis, Gottesfurcht und Vertrauen zu Gott«). Zuvor muß jedoch die sich im Laufe der Zeit entfaltende, höchst lehrreiche Entwicklung der knechtischen Furcht besprochen werden. Mehr und mehr wird der ursprüngliche Gegensatz zwischen ihr und der reinen bzw. kindlichen Furcht abgemildert und in einen Übergang verwandelt. Die knechtische Furcht wird zur unentbehrlichen Vorstufe für die rechte Gottesfurcht. Denn, so argumentiert man, es ist etwas anderes, ob wir Furcht haben vor Menschen, »die den Leib töten, die Seele aber nicht können töten« (timor mundanus), oder ob wir den fürchten, »der Seele und Leib verderben kann zur Hölle« (Mt 10, 28). Es ist bes. Petrus Lombardus, der mit seiner Normaldogmatik dieser Neufassung der Gottesfurcht, also der positiven Bewertung der knechtischen Furcht, zum Siege verhilft. Die Furcht vor dem Strafgericht Gottes wird als Moment der Erziehung (consuetudo) maßgeblich. Die knechtische Furcht kann sich als Anfangsstadium (timor initialis) erweisen. Beim Tun des Rechten nimmt die Höllenangst ab und schwindet dahin, während die kindliche Furcht kräftiger wird und schließlich als der ständige Begleiter übrigbleibt (Sent. III dist. 34). Bis heute beharrt die kath. Dogmatik auf diesem Stande, um die »unvollkommene Reue«, die »Furchtreue«, als »sittlich gut« und als »heilsame Vorbereitung auf die Rechtfertigung« gemäß Tridentinum Sess. XIV can. 15 anzuerkennen (F. Diekamp, Kath. Dogmatik III, 19326, 252 ff.). Man unterscheidet ziemlich unglücklich zwischen »knechtischer« und »knechtlicher« Furcht. Darin hat sich seit der Verurteilung von Luthers Angriff auf die positive Wertung der Furchtreue im römischen Lehrsystem nichts geändert (Denz. 746. 915).
3. Reformatorische Wende
Gleichwohl wirft die erzieherische Würdigung, die die knechtische Furcht bzw. die Furcht vor der ewigen Verdammnis hier findet, eine echte Frage auf. Sie betrifft die Verbindung von Gottesfurcht und (metaphysischer) Vorstellung. Es scheint einleuchtend, daß es ethisch etwas anderes ist, ob die Strafe auf das gerechte Urteil eines ewigen Richters bezogen wird oder nur auf eine innerweltliche Vergeltung. So kann man es aus psychologischen und pädagogischen Gründen zwar verstehen, daß man den timor servilis als das Anheben der Gottesfurcht wertete, aber man muß gleichwohl bedenken, daß hier der Bruch eintritt, den wir als reformatorische Wendung in der abendländischen Kirche bezeichnen. Wie Luthers Resolutiones von 1518 deutlich zeigen, hat der Ablaßstreit seine Wurzeln in der entscheidenden Wandlung, die das Phänomen der Furcht unter dem Einfluß der biblischen Theologie erfährt: »Wenn es jene Furcht nicht gäbe, so wäre weder Tod noch Hölle noch irgendeine andere Strafe bedrängend« (WA 1, 556, 23). Die Furcht hängt nicht an den objektiven, äußeren Gegebenheiten, sondern daß diese so oder auch anders auf uns wirken, hängt an der Stellung des Menschen zu Gott. Die Furcht bricht zwar angesichts des Todes auf, aber sie hat darin nicht ihre Wurzel. Sie hat ihre Wurzel in der Gottesferne des Gottlosen. Darum werden jetzt die Vorstellungen vom Fegfeuer, von den Höllenstufen und -strafen gleichgültig. Diese reflektierte Furcht als durch eine bestimmte Vorstellungswelt erzeugt und gleichzeitig temperiert, wird abgetragen, und der Mensch sieht sich der echten Furcht Gottes in ihrer unermeßlichen Realität konfrontiert (als bedeutsamstes Dokument solcher Anfechtung vgl. a. a. O. 557: Sed et ego novi hominem …).
Dieser Furcht gegenüber hält das sorgsam ausgewogene System von Reue, Bekenntnis und Genugtuung, in dem der von der Schuld überwältigte Mensch Zuflucht suchte, nicht stand. Der Einbruch der nicht »religiös« gedeuteten, der existentiellen Furcht Gottes ist so stark, daß alle derartigen Hilfen ihr gegenüber versagen. Die Reformation muß eine Zeit gewesen sein, in welcher der Ernst des Gerichtes Gottes so groß und ausweglos auf dem Plan war, daß nichts dem Menschen helfen konnte und die Verharmlosung des timor servilis im Feuer des Zornes Gottes wie Spinngewebe verbrannte (vgl. dazu Melanchthons ständigen Bezug auf die terrores conscientiae). Es wird offenbar: es gibt keinen Übergang aus der knechtischen zur kindlichen Furcht (AC XII, 37. 38). Mit der falschen Furcht Gottes, eben der, die aus der Angst geboren ist, hängt auch die Flucht in die Werke zusammen, die die Haltlosigkeit dieser Position zwar verdeckt, aber nicht aufhebt. Kein menschliches, sondern allein »Gottes eigentliches Werk«, also Jesus Christus als der für uns gestorbene und auferstandene Herr ist dieser Furcht gewachsen. Gottesfurcht recht verstanden weiß also darum, daß nichts, was der Mensch an seinen eigensten Möglichkeiten hat, weder als Gesinnung noch als Tat, im Zorngericht Gottes Bestand hat. Luther prägt für diese Art der echten Gottesfurcht den Begriff einer Bewegung: »von Gott zu Gott fliehen«. Darin dürfte die Dialektik von Gesetz und Evangelium beschlossen sein. Die Reformatoren stellen aufs neue heraus, was schon das AT und Paulus aufs deutlichste sagen (Ps 139; Röm 2, 5 ff.), daß die Furcht vor Gott ein eschatologisches, durch säkulare oder auch kultische securitas verdecktes Phänomen ist, das ohne Zutun des Menschen aufbrechen und ihn vor eine ausweglose Situation stellen kann. Andererseits ist der Glaube, der aus der Gnade Gottes lebt, nie ohne Furcht Gottes. Aber auch hier ist das Kennzeichen das »allein«: Gott allein fürchten heißt Gott wahrhaft fürchten (GrKat 323). Die falsche, aus der Ungewißheit stammende servile Furcht liefert uns den unabsehbaren Möglichkeiten der Angst vor Gott aus, die wahre Furcht Gottes im Sinne von Jes 11, 2 f.; Ps 46, 3; 103, 11; 130, 4; Jer 1, 8 usw. hat ihr Fundament in der Gewißheit, daß Gott lebt und daß er seiner Verheißung treu bleibt. Gott fürchten heißt ihn aus seinem Wort erkennen und seiner Gnade trauen. Insofern gehören metus Dei und fiducia Dei zusammen (vgl. 1. Gebot).
Es ist wichtig zu sehen, daß das biblisch-reformatorische Verständnis der Gottesfurcht ebenfalls wieder verlorengeht. Es wird ersetzt durch das Gegensatzpaar Lust-Unlust (Schleiermacher), Wert-Übel (Leibniz, Ritschl). Wahrscheinlich liegt die Wurzel für diesen Verfall in der Gleichsetzung des Gebotes Gottes mit dem Vernunftgesetz. Der homo sapiens als Subjekt der praktischen Vernunft wird sein eigener Gesetzgeber und muß nun taub und blind werden für die Zeichen und Sprache des Zornes Gottes (Kreuz Christi) und die richtende, unsere Schuld offenbarende Macht seines Gesetzes. Der Mensch hat von sich aus das Gegenüber von Gott und sich selbst aufgehoben. Am Ende steht der vermessene Versuch, durch die Absolutsetzung menschlicher Freiheit die atavistischen Reste der lähmenden Gottesfurcht (deisidaimonia), die in den Momenten geschichtlicher Krisen im Bewußtsein des Menschen auftreten, zu tilgen und ihn so zur befreienden Tat emporzureißen (J. P. Sartre, Les mouches). Gottesfurcht aber hieße umgekehrt: Der Freiheit Gottes in der Offenbarung seines Willens Raum geben, so daß Gott ganz Gott und ganz unser Gott und Herr zu sein vermag.
Lit.: S. KIERKEGAARD, Der Begriff der Angst, 1844, bes. Kap. 4. 5 (GesW, übers. v. E. HIRSCH, Bd. 11/12, 1952, 114 ff.) – F. NIETZSCHE, Morgenröte, 1880/81, Abschn. 72 (GesW X, 67 ff.) – DERS., Zur Genealogie der Moral, 1887, II, bes. Abschn. 16 ff. (ebd. XV, 351 ff.) – A. W. HUNZINGER, Lutherstudien II/1: Das Furchtproblem in der kath. Lehre von Augustin bis Luther, 1906 – M. SCHELER, Vom Ewigen im Menschen, (1921) 19242, 29 ff. – H. G. STOKER, Das Gewissen, 1925 – M. HEIDEGGER, Sein u. Zeit, (1927) 19577, bes. §§ 30 ff.
RGG3, Bd. 2 (1958), Sp. 1795-1798.