Eberhard Buschs letzte Begegnung mit Karl Barth: „So sang er auch jetzt, obwohl das Fenster seines Zim­mers zur nachtdunklen Straße hin offenstand. Ich warf einen fragenden Blick dorthin. Ob es wohl Beschwerden wegen nächtlicher Ruhestörung geben könnte? Doch er liebte es zu betonen: »Lasset den Lobgesang hören!« Sei es denn jetzt auch zu vorgerückter Stunde!“

Stets sein gewärtig

Meine letzte Begegnung mit Karl Barth kurz vor seinem Tod ist mir um so unvergeßlicher, als sie sich in einer Weise vollzog, bei der keiner ahnte, daß es die letzte Be­gegnung sein würde.

Wir hatten abends zusammengesessen, und der Abend hatte sich in die Länge gezogen. Es war schließlich weit nach Mitternacht, in der Nacht zum ersten Advent. Karl Barth bat gleichwohl, noch abzuwarten, bis er im Bett liege, um dann noch etwas zu singen.

Ich hatte ihn schon manches Mal singen gehört, zuwei­len auch, wenn er allein an seinem Schreibtisch saß, und das regelrecht, mit dem Gesangbuch in der Hand. Und wenn er in einem Gottesdienst war, pflegte man selbst in großer Versammlung seine Stimme herauszuhören. Er sang mit der Kraft eines Löwen.

So sang er auch jetzt, obwohl das Fenster seines Zim­mers zur nachtdunklen Straße hin offenstand. Ich warf einen fragenden Blick dorthin. Ob es wohl Beschwerden wegen nächtlicher Ruhestörung geben könnte? Doch er liebte es zu betonen: »Lasset den Lobgesang hören!« Sei es denn jetzt auch zu vorgerückter Stunde!

Als ich in sein Schlafzimmer trat, sang er eben eines sei­ner unvergessenen Kinderlieder von einst:

»Jetzt schlof i frehlig y,
es isch hitte luschtig gsi.
Der lieb Gott het recht a mi denkt,
und het mir hit vyl Fraide gschenkt …«

Und dann schlug er zu gemeinsamem Gesang das Adventslied vor: »Nun jauchzet, all ihr Frommen, in dieser Gnadenzeit«, in dem es zuletzt heißt:

»Er wird nun bald erscheinen
in seiner Herrlichkeit,
der all euer Klag und Weinen
verwandeln wird in Freud.
Er ist’s, der helfen kann.
Macht eure Lampen fertig,
und seid stets sein gewärtig,
er ist schon auf der Bahn.«

So sangen wir. Und er sang so laut wie eh und je. Und das war der Abschied.

Quelle: Karl Barth – Erfahrungen und Begegnungen erzählt von Eberhard Busch, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 1986, S. 93f.

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