Friedrich Mildenberger über Martin Kähler (1835-1912): „Christus, die Bibel und die Kirche gehören also untrennbar zusammen. Miteinander bilden sie die Voraussetzung des persönlichen Glaubens, wie sie umgekehrt wieder durch solchen persönlichen Glauben in ihrer besonderen Qualität bestätigt werden. Diese besondere Qualität aber ist zugleich in der geschichtlichen Wirksamkeit der Bibel als göttliche Wirkung kenntlich.“

Martin Kähler

Von Friedrich Mildenberger

Man pflegt Martin Kähler zusammen mit seinem Freund Hermann Cremer, der durch das »Biblisch-theologische Wörterbuch der neutestamentlichen Gräzität« bekannt wurde, und mit dem etwas jüngeren Adolf Schlatter als »Biblizisten« zu bezeichnen. So läßt sich der gerade auch als Lehrer einflußreiche Theologe wenigstens grob in die theologischen Richtungen des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts einordnen. Politisch wie kirchlich konservativ geprägt, wirkte er als theologischer Lehrer in Halle, fast fünfzig Jahre lang, 1860-1912, mit einer kurzen Unterbrechung in Bonn, 1864-1867. So ruhig sein Lebensgang wenig­stens äußerlich verlief, sein Denken fordert immer wieder neu zur Auseinander­setzung heraus, und die Interpretation kommt dabei keineswegs zu einheitlichen Ergebnissen (vgl. die Kritik von Link an Wirsching und Leipold und die schroffe Auseinandersetzung von Schmid mit Link). Was macht die Faszination dieses Denkens aus, das für unsere gegenwärtige Theologie erst nach und nach durch Neudrucke und die Auswertung des handschriftlichen Nachlasses (vgl. Frohnes, Seiler, Link) gerade auch in seinen Spannungen immer klarer erschlossen wird? Zur Erläuterung dieser Frage soll zunächst Kähler selbst zu Wort kommen, ehe einiges zum Lebensgang und zur kritischen Würdigung seines Denkens gesagt wird.

I

In der dritten Auflage der Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche hat Kähler u. a. den Artikel über »Biblische Theologie« beigetragen (Bd. 3, 1898, 192-200), ein Thema, das ihn in seiner frühen Lehrtätigkeit mehrfach beschäftigte (vgl. Seiler, 123 f.). Das Programm, womit sich die Biblische Theologie in Unterscheidung von der Dogmatik als »die aus sich selbst ausgelegte Schrift« empfahl, sollte »mit höchst möglicher Gegenständlichkeit den Inhalt der Hl. Schrift nach der Sachordnung, die in demselben geschichtlich gegeben ist, erschöpfend und übersichtlich darstellen. Und damit wird eine Lücke in der prot. Theol. ausgefüllt werden, die ehedem sich schmerzlich oder doch zum Schaden fühlbar gemacht hat; denn erst so wird die Hl. Schrift ganz werden können, was sie nach reformatorischem Grund­satze sein sollte: Maßstab und Quelle der Lehre im umfassendsten Sinne. Sie kommt selbst zu Worte ohne jede möglicherweise trübende oder verkürzende Vermittelung, und der Dogma­tiker erfährt so, was in jedem Punkt wirkliche Schriftlehre und Lehre der ganzen Schrift ist« (195). Das Ergebnis der Arbeit sei dann aber ziemlich genau das Gegenteil dieser Erwartungen gewesen: Biblische Theologie münde ein in eine Gesamtgeschichte des Urchristentums einerseits, die Geschichte des Religions­volkes andererseits. »So führt – wie es scheint – die rein geschichtliche Fassung, welche in den bibl. Schriften lediglich Quellen für die Erforschung der Vergan­genheit sieht, unaufhaltsam zur Auflösung der selbständigen Disziplin der Bibl. Theol. Indem die menschliche Bedingtheit und Entwicklung dieser Religion zur Einsicht gebracht wird, müssen ihre dahinterliegenden Stufen insgesamt die unbedingt maßgebende Bedeutung für ihre Ausbildung unter neuen Bedingun­gen verlieren« (ebd.)

Die Aporie eines geschichtlichen Verstehens der Bibel wird von Kähler an einzelnen Problemkomplexen aufgewiesen. Doch treten solche Einzelheiten in den Schatten einer grundlegenden Alternative, durch deren Entscheidung auch die Einzelergebnisse der geschichtlichen Forschung mit bestimmt werden: »der Frage, ob sie es bloß mit den Resten einer religiösen Litteratur oder mit den Urkunden, Erzeugnissen und Schilderungen einer Geschichte zu thun hat, welche durch Gottes Offenbarung herrschend bestimmt ist« (196). Kähler weist in diesem Zusammenhang hin »auf eine Gegenbewegung gegen eine unbedingte Durchführung des ausschließlich geschichtlichen Verfahrens in der Bibl. Theo­logie« (197), der er sich selber zurechnen will. Wie für alle Theologie, so solle auch für die Bibelforschung »geschichtlich« wohl Beiwort sein, könne aber nicht zum Hauptwort werden. »Weil sie Wissenschaft ist, kann sie sich dem Fort­schritte der Wissenschaften in ihren Methoden und ihren inhaltlichen Erwerbun­gen gewiß nicht entziehen. Weil sie aber auch einen eigenen und eigenartigen Gegenstand hat, ist sie in der Lage, jenen Bewegungen in der Erkenntnisarbeit selbständig gegenüberzustehen, und nüchtern zu bleiben, wenn die Wissen­schaftlichkeit, bewußt oder unbewußt, in den Dienst einer dem Christenthum fremden Weltanschauung tritt und mit ebenso unbewiesenen Hypothesen arbei­tet, wie die Religionsgeschichte bisher« (ebd).

Zur Begründung dieser kritischen Haltung gegenüber dem wissenschaftlichen Anspruch in der Bibelforschung kann Kähler auf den kirchlichen Schriftge­brauch verweisen. Dieser ist für die Theologie feste Grundlage ihrer Selbständig­keit. »Denn die Bibelreligion ist nicht bloß Thatsache der weltgeschichtlichen Vergangenheit, sondern wirksame Thatsache der Gegenwart, und ebenso die Hl. Schrift nicht nur ein Stück der kirchlichen Litteraturgeschichte, sondern eine bestimmende Macht im fortgehenden kirchlichen Leben.« Darum dürfe die kirchliche Wissenschaft »nie die innige Beziehung vergessen, welche zwischen der Hl. Schrift und dem Dogma von dem Worte Gottes als Gnadenmittel besteht« (ebd). Die Folgerung aus dieser Voraussetzung ist, daß die Biblische Theologie das Alte Testament vom Neuen her, daß sie Einzelnes vom Ganzen her zu erfassen sucht. Sie ist also in ihrer exegetischen Arbeit auf die Systematik bezogen, freilich so, daß sie doch immer das »reife Ergebnis aus dem Werden der Offenbarungsreligion« nun gerade in diesem Werden erforscht. »Das aber geschieht wissenschaftlich, wenn man auf den Gehalt hin forscht, von dem die Christen und die Kirche leben« (198). Es ist darum nach Kählers Urteil ein »ungeschichtliches Verfahren, … die Schriften beider Testamente lediglich als Urkunden für die Geschichte des Religionsvolkes und der Urkirche zu betrach­ten und zu behandeln. Die Bibel … hat ihr Dasein und ihre Geschichte als ein wirksames Ganzes in der Kirche« (199). Auf diese Wirksamkeit hin ist sie in der Biblischen Theologie zu erfassen. Nicht ein hinter den Texten liegendes Ursprüngliches kann Ziel der Fragestellung sein, sondern das gepredigte Wort, aus dem die Kirche lebt. »Dieses Wort in seiner maßgebenden Ursprünglichkeit nach Inhalt und Form schuldet die Bibl. Theologie der Kirche, also z. B. nicht das wahrscheinliche »Evangelium Jesus sondern den Jesus Christus der urchrist­lichen Überlieferung mit seiner Verkündigung, also auch in den verschiedenen überlieferten Gestalten« (ebd).

Gewiß läßt sich diese Offenbarungsqualität der Bibel nicht beweisen. Es braucht dazu den persönlichen Einsatz. »Wer jedoch unter die Wirksamkeit der Kirche und ihrer Bibel tritt, der wird auf Christum hingeführt, und kein Bibelleser kann an ihrem Zeugnis von ihm und von der Offenbarung, von dem lebendigen Gottesworte vorbei« (Art. Bibel, RE 3. Aufl., Bd. 2, 1897, 690). Christus, die Bibel und die Kirche gehören also untrennbar zusammen. Miteinander bilden sie die Voraussetzung des persönlichen Glaubens, wie sie umgekehrt wieder durch solchen persönlichen Glauben in ihrer besonderen Qualität bestätigt werden. Diese besondere Qualität aber ist zugleich in der geschichtlichen Wirksamkeit der Bibel als göttliche Wirkung kenntlich. »Suchen wir den kürzesten Ausdruck, so erscheint dem christlichen Glauben die Bibel mit ihrer Geschichte als die große Thatsache, in welcher Gott die glaubenweckende Kunde von seiner Offenbarung in die Geschichte der Menschheit unausscheidbar hineingeflochten hat, und in ihr das klare Zeugnis von der Menschheit Ziel und das überwindende Angebot seiner Gnade. Darum bleibt sie die geschichtliche und zugleich unwan­delbare Gestalt des unentbehrlichen Gnadenmittels« (691).

Die historisch-kritische Arbeit der wissenschaftlichen Theologie wird hier zugleich bejaht und begrenzt. Die Bejahung wird nicht damit begründet, daß Konzessionen an die moderne wissenschaftliche Denkweise nun einmal unver­meidlich sind. Es ist vielmehr die Tatsache der geschichtlichen Offenbarung Gottes in Jesus Christus selbst, die zu einer solchen geschichtlichen Auffassung nötigt. Nur mit ihr bleibt das theologische Denken bei der gottgegebenen Wirklichkeit, in der der Glaube seinen Grund hat. Auch die Begrenzung ist nicht nur defensiv, sondern will der kritischen Historie nachweisen, daß sie der geschichtlichen Tatsache nicht gerecht wird, die der Glaube an Christus in seiner Vermittlung durch die Bibel darstellt. Diese Besonderheit kann sie gerade nicht erfassen, wo sie ihren weltanschaulichen Prämissen nachgibt und die Besonder­heit des geschichtlichen Christus und seiner Wirksamkeit in der Vermittlung durch die Bibel in den Gedanken einer allgemeinen religiösen Entwicklung hinein auflöst. In der Bejahung wie in der Begrenzung der historischen Kritik wird so eine Lösung des Problems versprochen, das nicht nur die Theologie des 19. Jahrhunderts beschäftigte, sondern das weiter offen ist. Trägt der Lösungsan­satz Kählers bei der geschichtlichen Wirksamkeit der Schrift, oder handelt es sich hier nur um eine subjektive Versicherung, die den Glauben auf sich selber gründet? Ist seine Verbindung von Christologie und Bibelautorität tragfähig genug, um dem Sog anthropologischer Verallgemeinerungen zu widerstehen, wie sie die apologetische Haltung der modernen Theologie kennzeichnen? Darüber streitet die Kählerinterpretation, und die Antworten, die gegeben werden, hängen unmittelbar zusammen mit dem jeweiligen Lösungsvorschlag, den der Interpret in den angeschnittenen Fragen selbst machen will. So erklärt sich leicht das Interesse an Kähler wie die Strittigkeit in der Interpretation seiner Gedanken.

II

Karl Martin August Kähler wurde am 6. Januar 1835 in Neuhausen bei Königs­berg geboren. Der Vater, damals noch rationalistisch-idealistisch bestimmter Theologe, sei u. a. durch die Lektüre des in Kählers Geburtsjahr erschienenen Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß nachdenklich geworden und habe sich immer mehr auf einen positiv-kirchlichen Standpunkt hin entwickelt. Der seit einer schweren Asthmaerkrankung im zweiten Lebensjahr immer kränkliche Knabe – »Ich kann mich keiner Zeit erinnern, in der es mir nicht an Widerstands­kraft gegen Erkältungen gefehlt, häufiges Kopfweh mir die Leistung gehemmt hätte und die angespannten Kräfte nur allzubald nachgelassen hätten«, so schreibt er in seinen Erinnerungen (TuC, 5) – sah sich vom Vater dem älteren Bruder gegenüber zurückgesetzt, der später die Offizierslaufbahn einschlug. Das Verhältnis zur Mutter war enger; freilich habe er im Elternhaus keine besondere religiöse Prägung erfahren, obwohl er natürlich von klein auf ins Tisch- und Abendgebet eingeübt wurde. Doch lernte er das kirchliche Leben im Pfarrhaus wie in der Superintendentur in Preußisch-Holland, wohin der Vater 1841 berufen wurde, aus der Perspektive des Amtes kennen. In langen Gesprä­chen, deren Freude Kähler dem Vater nicht verderben mochte, hat ihm dieser dann von seiner Arbeit im Konsistorium erzählt; diese Gespräche hätten ihn damals schrecklich gelangweilt, seien aber, wie er meint, später doch in seinem Denken wirksam geworden (TuC, 61). Seine politische Haltung, königstreu und konservativ, ist dagegen nachdrücklich durch das Elternhaus und seinen Freun­deskreis geprägt worden; hier lebte man in der Erinnerung an die Erneuerung des preußischen Staates nach der Niederlage gegen Napoleon und die Befreiungs­kriege. Der Liberalismus von 1848 konnte daher nicht Fuß fassen.

Der begabte Knabe hat sich in der Schule nie schwer getan, obwohl die Schulbildung zunächst recht unregelmäßig war. Von besonderem Interesse wurden für ihn Dichtung und Literatur, und er träumte lange Zeit davon, selbst Dichter zu werden. Erst sehr viel später, beim Studienaufenthalt in Tübingen (1858/59), kam die Stunde, »in der ich vier Bände meiner Verse in meinen kleinen Ofen steckte und vor mir auflodern sah, – sie waren mir doch wohl im Stillen noch immer eine Götze gewesen. Mit ihrem Rauch ist, denke ich, der letzte Anhauch des Traumes von einem ›Dichter‹ durch den Schlot entflogen« (TuC, 173). Von besonderem Interesse war für ihn auch Geschichte, und er hat dieses Interesse sein Leben lang bewahrt. Dagegen berührten ihn religiöse Fragen anscheinend nicht sonderlich. So schreibt er, er habe an Einsegnung und ersten Abendmahlsgang eine unsäglich peinliche Erinnerung. Im Blick auf die Eltern fehlte ihm der Mut, die Teilnahme abzulehnen; zugleich aber hatte er die störende Empfindung, nicht hinzuzugehören (TuC, 59 f.).

Nach dem Abschluß der Schulzeit bezog Martin Kähler in Königsberg die Universität, um Jura zu studieren, wählte damit die Beamtenlaufbahn, obwohl ihn der Vater gerne als Theologen gesehen hätte. Eine Typhuserkrankung erschütterte ihn schwer, und führte schließlich zu dem Entschluß, doch Theolo­gie zu studieren. Die Begegnung mit dem Tod hatte ihm den Zugang zur religiösen Wirklichkeit erschlossen. »Ich war nichts weniger als gefaßt gewesen; ich hatte in ein gähnendes Nichts geschaut, mit unermeßlichem Schrecken. Alles, was ich erworben hatte, sank in diesen Abgrund, – und er war ja jedenfalls einmal zu erwarten. Da ich wieder lesen konnte, so machte ich nun den »Unverfälschten Liedersegen‹, mit dem mich mein Vater einmal zum Geburtstage nicht eben erfreut hatte, zum Hauptgegenstand meiner Beschäftigung. Ich versuchte es auch mit der Bibel. Ich versuchte auch wieder zu beten« (TuC, 76 f.). Freilich war das keine schlagartige Bekehrung, sondern eher tastendes Suchen. Erst spät (1912) urteilte Kähler über dieses Erleben: »Blicke ich jetzt zurück, so kann ich diese Wendung nur den ›Zug des Vaters zum Sohn‹ nennen, der mich dahin führte, wo mir in meiner Richtung die Begegnung mit dem Gekreuzigten zuteil werden sollte« (TuC, 365).

Die Anfänge des Theologiestudiums in Königsberg brachten nicht viel Ertrag. Zum Wintersemester 1853 ging Kähler nach Heidelberg, wo ihn besonders Richard Rothe mit seiner Vorlesung über das Leben Jesu beeindruckte. Vor allem hat er dort Freunde gefunden, die ihn weiter förderten. Die eigentlichen theologischen und religiösen Anstöße aber erhielt er in Halle, insbesondere durch die Begegnung mit Friedrich August Tholuck, der ihn zu seinem Amanuensis machte und zur akademischen Laufbahn ermunterte. Das Vertrauensver­hältnis zu Tholuck dauerte bis zu dessen Tod, und Kähler hat seiner Förderung in jeder Hinsicht viel verdankt. Neben Tholuck hat ihn in Halle vor allem noch Julius Müller beeindruckt. Durch Tholuck wurde Kähler mit dem damaligen kirchlichen Leben vertraut, so daß er sagen konnte, der Verkehr mit Tholuck habe ihm »eine neuere Kirchengeschichte nicht nur ersetzt, sondern jede leben­digste Schrift durch die Frische des persönlich Erlebten und Aufgefaßten« überboten (126). Tholucks Beziehungen brachten ihn mit vielen kirchlichen, theologischen und politischen Größen der Zeit in Verbindung. Das Zusammen­treffen mit Hengstenberg (1802-1869, einflußreicher konservativer Theologe und Herausgeber der Evangelischen Kirchenzeitung, Berlin) freilich war für ihn enttäu­schend. »Den Grund gab mir Tholuck nachher an; Hengstenberg hatte auf die Mitteilung, ich sei zum Universitätslehrer bestimmt, geäußert: »Wird wie sein Großvater sein; Begeisterungsseligkeit und nichts Reelles dahinter«.« (TuC 125). Das hatte Kähler besonders betroffen, weil er eben zuvor mit seinem Vater über diesen Großvater einen peinlichen Briefwechsel geführt hatte. »Ich war zu sehr in der ersten Heftigkeit der pietistisch-orthodoxen Bewegung begriffen, um einen billigen Maßstab an den rationalistischen Idealisten zu legen« (ebd).

Das Studium in Tübingen (1858/59) vertiefte die positiv biblische Ausrichtung, die Kähler in Halle gewonnen hatte. Das vor allem durch den Einfluß von Johann Tobias Beck, von dem er in Halle schon viel gehört hatte, und der nun einen großen Eindruck auf ihn machte. Beck habe ihm ein Zutrauen zu den biblischen Texten vermittelt, so daß ihn kritische Untersuchungen nie mehr bange machen konnten. »Sodann hat mir Beck den Sinn für biblische Anschauungen geöffnet und mir ein inneres Bild davon entstehen lassen, wie die biblischen Texte in der Auslegung zu reproduzieren seien, statt daß man nur Bemerkungen über diesel­ben aneinanderhängt … Ja, Beck hat es doch eigentlich erst zuwege gebracht, daß ich jene Stellung zur Bibel gewann, in der ich mit Freuden jahrelang fast nur am Neuen Testament arbeiten konnte, ehe ich zu dem systematischen Studium zurückkehrte. Dagegen hat er mir den damals schon fast ein Jahrzehnt gebildeten Sinn für Geschichte nicht verleiden können; und er war es dann, der mich ihm gegenüber immer selbständiger in den Ausgangspunkten machte, ja, mir seine Einseitigkeit geradezu zum Anlaß für das Suchen und Finden eines anderen Standpunktes werden ließ« (TuC, 172). In Tübingen traf Kähler auch mit Hermann Cremer zusammen, mit dem ihn dann eine das ganze Leben währende Freundschaft und Arbeitsgemeinschaft verband, die Cremer durch die Widmung seines Wörterbuchs dokumentierte.

Nach Halle zurückgekehrt, machte er sich an die Ausarbeitung seiner Disserta­tion über die christliche Lehre vom Gewissen. Die Promotion zum Lizentiaten war zugleich Habilitation. Im Mai 1860 begann Kähler mit seinen Vorlesungen, die zunächst, wie es die Ordnung der Halle’schen Fakultät vorschrieb, dem Neuen Testament galten. Er stellte sich für diese Arbeit einen hohen Anspruch: »Der biblische Text soll so zu den Zuhörern sprechen, als wenn der Verfasser, unserer Ausdrucksweise mächtig, heute zu uns redete« (TuC, 185). Seine Arbeit an den Texten war eigenständig und methodisch reflektiert. »Neben dem Hauptakzent auf der gedanklichen Durchdringung der biblischen Schriften und der Verlagerung der Einleitung zu einer Schrift vom Anfang ans Ende als Zusammenfassung der Arbeit am Text kennzeichnet Kählers exegetisches Ver­fahren als drittes Charakteristikum die Erörterung zentraler biblischer Begriffe« (Link, 108). Die Vorlesungen galten hauptsächlich den Briefen des Neuen Testaments; er las Korintherbriefe, Römer, Galater, Epheser, Kolosser, Hebräer, Jakobus und Apostelgeschichte, und schloß diese Arbeiten in einer neutestamentlichen Theologie ab (TuC, 185). So fand die später vornehmlich systematische Arbeit ihre solide exegetische Grundlage.

Die 1864 erfolgte Berufung zum außerordentlichen Professor in Bonn auf die durch den Weggang Albrecht Ritschls freigewordene Stelle ermöglichte Kähler die Heirat und eröffnete einen neuen Wirkungskreis. Neben der exegetischen sollte nun die systematische Arbeit stärker zum Zuge kommen; insbesondere arbeitete er hier an der Ethik. Doch fehlte noch der Zusammenhang. »Zur Ruhe kam ich doch erst, als ich die gesamte Wissenschaft der christlichen Lehre zu entwerfen vermochte«, so urteilt er selbst über diese Versuche (TuC, 224). Der Aufenthalt in Bonn sollte freilich ein kurzes Intermezzo bleiben. Ein Ordinariat war in Bonn nicht zu erreichen. So folgte Kähler einem Ruf zurück nach Halle als außerordentlicher Professor und Inspektor des neugegründeten Schlesischen Konviktes in Halle. Die Einrichtung und Leitung dieser Anstalt nahm ihn für Jahre sehr stark in Anspruch, so daß darüber die Lehrtätigkeit an der Fakultät zurücktrat und größere Veröffentlichungen nicht zustandekamen. Dazu hatte er immer wieder mit schweren Erkrankungen zu tun, die ihn zusätzlich hemmten. So sehr ihn einerseits die theologische und geistliche Arbeit mit den Studierenden ausfüllte, so sehr litt er andererseits darunter, daß die akademische Karriere anscheinend ins Stocken gekommen war. Sein Sohn hat diesem Abschnitt seiner Biographie die Überschrift gegeben: »Das tiefe Tal«, deutet damit an, wie schwer diese Zeit der Zurücksetzung für Kähler zu durchleben war.

Erst die 1877 erschienene große Arbeit über das Gewissen – er hatte das Thema nur ungern wieder aufgenommen und beließ es bei einem ersten, das Altertum und das Neue Testament umfassenden Band – brachte die Anerkennung der theologischen Fachwelt. Die Hallenser Fakultät verlieh ihm den Doktor der Theologie, und 1879 erhielt er als Nachfolger von Julius Müller ein Ordinariat für Systematische Theologie und Neues Testament. Die Arbeit im Schlesischen Konvikt mußte er nun zwar aufgeben, doch blieb er ihm als Ephorus verbunden. Diese Verbindung mit der besonderen Tradition Halle’s und der Arbeit seines Lehrers Tholuck mag mit dazu beigetragen haben, daß er Halle nicht mehr verließ, trotz ehrenvoller Berufungen nach Göttingen (als Nachfolger Ritschls) und nach Berlin.

Erst jetzt konnte sich Kähler recht entfalten. 1883 erschien der große systematische Entwurf »Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus im Abrisse dargestellt«, der in den drei Lehrkreisen »Christli­che Apologetik«, »Evangelische Dogmatik«, »Theologische Ethik« jenes System vorlegte, das schon dem jungen Studenten, freilich da noch in ganz anderer Gestalt, vorgeschwebt war. Mit seinem wohl bekanntesten Werk, dem Vortrag »Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus«, 1893 in erster, 1896 in zweiter Auflage erschienen, griff er mit scharf provozie­renden Formulierungen in die theologische Debatte ein. Eine Fülle weiterer Veröffentlichungen befaßten sich mit der Bibelfrage, der Christologie und der Mission. Daneben ruhte auch die Arbeit am Neuen Testament nicht. Kähler war zu einem der anerkannten Vertreter der positiven Theologie geworden. Als Lehrer hoch geschätzt, führte er auf seine Art die Tradition seelsorgerlicher Arbeit an den Theologiestudenten fort, die für Halle kennzeichnend war. Am 7. September 1912 ist er während eines Kuraufenthaltes in Freudenstadt im Schwarzwald gestorben.

III

Der Lebensgang Kählers ist wenigstens äußerlich ganz undramatisch. Nicht einmal die frühe Erfahrung der Todesnähe hat ihn aus der vorgezeichneten Bahn geworfen; eher hat sie ihn in diese Bahn hineingebracht. Und was von inneren Kämpfen berichtet wird, das gehört zu der Art und Weise, wie sich eine an der Erweckungsbewegung orientierte Frömmigkeit nun einmal zu artikulieren hatte, wollte sie nicht stumm bleiben. Daß man von seinen inneren Erfahrungen und religiösen Kämpfen redete, das gehörte zu dieser Gestalt der Christlichkeit, der »viva vox in der Art der pietistisch-konfessionellen Erweckung des neun­zehnten Jahrhunderts« (TuC, 367) mit dazu, die Kähler in seiner Studienzeit prägte. So sehr diese Art von Christlichkeit für uns vergangen ist, so wenig läßt sich doch bei Kähler der Christ und der Theologe trennen: Der Christ, der in einer Art und Weise geglaubt und geredet hat, die nicht die unsrige ist, und der Theologe, der sich mit Fragen herumgeschlagen hat, die doch immer auch noch unsere Fragen sind. Der Theologe ist vielmehr durch den Christen gerade im Kern seines Lösungsvorschlages für die Probleme der Christologie und der Bibelautorität so bestimmt, daß sich Theologie und Frömmigkeitsgestalt gegen­seitig durchdringen: Die Frömmigkeit bietet der Theologie die entscheidende Begründung, wie umgekehrt die Theologie das Erleben des Glaubens expliziert. Daß dabei die eigene Erfahrung sich an der Reformation orientierte und sich theologisch in reformatorischen Begriffen auszusprechen suchte, gehört zu den Merkmalen der Erweckungsfrömmigkeit des neunzehnten Jahrhunderts. Auch Kähler sagt ja von sich, er verdanke dieser Erweckung »den Zusammenhang mit dem reformatorischen Bekenntnis« (TuC, 367). Eine einfache Identifikation von Reformation und Erweckung, wie sie gerade in Selbstzeugnissen jener Zeit begegnet, ist freilich nicht möglich.

Der Versuch, die Tragfähigkeit der Kähler’schen Theologie auch für unsere Gegenwart zu beurteilen, kann jedenfalls nicht von dieser Frömmigkeitsgestalt absehen. In ihr spielt die Bekehrung eine entscheidende Rolle: Sündenbewußtsein, Selbstverurteilung und Änderung der Lebensführung. Mit Kählers eigenen Worten aus seinem Lebensrückblick von 1912: »Mir sind nie innere, unvermit­telte Anweisungen, Zusprüche oder Vergewisserungen zuteil geworden. Jedoch meine Führung in ihrer Zusammenstimmung redet zu mir eine vernehmliche Sprache. Ein Zug ist mir hierbei besonders beachtenswert. Mein dogmatisches Denken, wie stark von der theologischen Arbeit im ganzen mitbestimmt, blieb immer zuletzt eigensinnig ein mir zustimmendes, eigenartiges. In dem Punkte ›Bekehrung‹ traf ich mit Cremer in der Schule der Halleschen Soteriologen zusammen, in dem, wofür er die Formel ›Unheilsgewißheit‹ geprägt hat. Ich habe einmal, nicht vorbedacht, im Kolleg gesagt: ›Ich glaube an die Bibel, weil Römer 7 drin steht‹. Auch sonst: ›aus der richtig gestellten Diagnose schließe ich auf eine vertrauenswürdige Prognose und Therapie‹. Bei mir erklärt sich diese Stellung, weil mir der Anfang der Sinnesänderung aus der tatsächlichen Verurtei­lung des Bisherigen erwuchs. Ich wurde, ich kann wohl sagen, durch Abschreckung herumgeholt. Das war bei Cremer gar nicht der Fall. Seine Stellung war aber keineswegs angelernt oder theoretisch; vielmehr im höchsten Grad erfah­rungsmäßig. Er kannte die Abgründe am Weg zum lebendigen Glauben« (TuC, 370). Daß die Dogmatik durch die Erfahrung bestätigt wird, dient also der Vergewis­serung des Christen in seinem Christsein wie des Theologen, der danach fragt, ob seine Theologie stimmt.

Für die Beurteilung der Kähler’schen Theologie ist das von Gewicht. Das individuell erfahrene Heilsbedürfnis gewinnt hier einen hohen, vielleicht zu hohen Stellenwert. In seiner 1912 erschienenen letzten größeren Veröffentli­chung »Heilsgewißheit« (ThB 42, 369-422) bezeichnet er das bewußte Heilsbe­dürfnis, das Cremer die »Unheilsgewißheit« genannt habe, als die erste Voraus­setzung der Heilsgewißtheit. Die zweite Voraussetzung bestehe dann in der Heilsbegründung und der Kunde von ihr. »Die geöffnete Tür vor der Himmels­leiter, das ist die in die Welt der Sünde und des Todes mitten hineingestellte Heilswirklichkeit, wie sie zur Heilsmöglichkeit für alle und jeden wird« (ThB 42, 380). Diese muß christologisch ausgeführt werden. Dabei ist das biblische Zeugnis vom auferweckten Gekreuzigten maßgebliche Mitte. »Die Apostel haben in Gottes Tun an seinem Sohn nicht nur seine weltlenkende Weisheit, sondern vornehmlich seine aller menschlichen Erfahrung jenseitige Feindesliebe angeschaut, sein zielbewußtes Suchen der Sünder erkannt. Damit eröffnet sich der Blick für den letzten Beweggrund und die umfassende Bedeutung dieses Ereignisses« (Das Kreuz Grund und Maß der Christologie, 1911, ThB 42, 292-350, 309). Nur so kann die objektive Voraussetzung und Ermöglichung der subjektiven Gewißheit genügend klar hinausgestellt werden. Die damit gewon­nene Freiheit gerade auch gegenüber einer Reduktion der Christologie auf den historischen Jesus ermöglicht Kähler eine breite Aufnahme der biblischen wie der kirchlichen Tradition, ohne doch einer traditionalistischen Verkrampfung zu verfallen. Ängstlichkeit, die um den Glauben besorgt ist, ist nicht seine Sache. Freilich muß dann gerade hier auf die problematische Engführung im Glaubens­verständnis hingewiesen werden, die im individuellen Erlebnis der Gewißheit gipfelt. »Der Glaube jedes einzelnen rücksichtlich seines Verhältnisses zu Gott … wurzelt darin, daß die allen geltende Zusage des Evangeliums einem jeden unter den Führungen zum eindrücklichen Zuspruch Gottes wird, der alle Furcht und alles Sorgen aufhebt; denn in ihm wird die innergöttliche Zuwendung eben zu ihm, dem einzelnen, über allen Zweifel hinausgehoben. Dieser einzelne ist in die offene Tür vor Gott hineingestellt; er und sein Leib ist durch die stetige Innenwirkung des Geistes zum Tempel des nicht mehr im Dunkel wohnenden verborgenen Gottes geworden« (ThB 42, 391). Da ist der Glaube, wie Kähler selbst sagt, nicht von dem Innenleben des Christen zu unterscheiden. Eben darin aber deutet sich die Problematik an, die dann auch die Kähler’sche Problemlö­sung (s. o. I) mit betrifft: Kann die Beziehung auf das in Jesus Christus gewährte Heil hier gerade dann tragfähig bleiben, wenn dieses Innenleben seiner selbst nicht mehr gewiß ist, sich in Zweifel zu verlieren droht? Die reformatorische Theologie konnte hier auf das Wort von Christus verweisen; ihre Distinktion der Innerlichkeit des aktiven Glaubensvollzugs als notitia und assensus und der rein empfangenden und so am Wort hängenden fiducia ermöglichte die Unterschei­dung des angefochtenen Innenlebens von der Glaubensgewißheit gerade um dieser Gewißheit willen. Fällt diese Unterscheidung hin, so besteht die Gefahr, daß sich die Innerlichkeit nur noch an sich selbst klammert. »Bewährte Bekenner werden es zu den schwersten Prüfungen ihres Glaubens rechnen, wenn ihnen Gott zum Gegenstand der Bezweiflung zu werden drohte. Die zitternde Heilsge­wißheit [Sperrung von mir, F. M.] hielt dann nur Stand, weil sie die tiefgewur­zelte Frucht jenes inhaltreichen Erlebens war, das sich erst in der Berufung zusammenfaßte« (ThB 42, 415). Die Erinnerung an das eigene Erleben, die Kontinuität des glaubenden Subjektes muß hier des Zweifels Herr werden. Nur dann kann es bei der Bibelautorität und ihrer christologischen Begründung bleiben. Darin sehe ich eine deutliche Grenze im Denken Kählers; sie läßt daran zweifeln, ob seine Problemlösungen wirklich tragfähig sind.

Werke

Das Gewissen, Halle 1878 (Nachdruck 1967).

Die Wissenschaft der christlichen Lehre von dem evangelischen Grundartikel aus. 1883, 3. Aufl. 1905 (Nachdruck mit Einführung von M. Fischer, 1966).

Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus. 1892 (4. Aufl. München 1969).

Zur Lehre von der Versöhnung. Dogmatische Zeitfragen. Alte und neue Ausführungen zur Wissenschaft der christlichen Lehre. 2. Heft, 1898 (2. Aufl. Gütersloh 1937).

Zur Bibelfrage. Dogmatische Zeitfragen. 1. Bd., 2. verm. Aufl. 1907 (Nachdr. 1937; Neuaufl. in: Aufsätze zur Bibelfrage. Hg. von E. Kähler, München 1967).

Theologe und Christ. Erinnerungen und Bekenntnisse. Hg. von A. Kähler. Berlin 1926 (zit.: TuC).

Schriften zur Christologie und Mission. Gesamtausgabe der Schriften zur Mission. Hg. von H. Frohnes. München 1971 (zit.: ThB 42).

Geschichte der protestantischen Dogmatik im 19. Jahrhundert. Hg. von E. Kähler. München 1962.

Darstellungen

Fischer, M.: Martin Kähler. In: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. von M. Greschat. Bd. 1, Stuttgart 1978, 130-149.

Frohnes, H.: Der Nachlaß von Martin Kähler. In: ZKG 80 (1969), 79-99.

Leipold, H.: Offenbarung und Geschichte als Problem des Verstehens. Eine Untersuchung zur Theologie Martin Kählers. Gütersloh 1962.

Link, H. G.: Geschichte Jesu und Bild Christi. Die Entwicklung der Christologie Martin Kählers. Neukirchen 1975.

Niemeier, G.: Wirklichkeit und Gestalt des theologischen Systems Martin Kählers. Gütersloh 1937.

Schmid, J.H.: Erkenntnis des geschichtlichen Christus bei Martin Kähler und bei Adolf Schlatter. Basel 1978.

Seiler, Ch.: Die theologische Entwicklung Martin Kählers bis 1869. Gütersloh 1966.

Wirsching, J.: Gott in der Geschichte. München 1963.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 9,2: Die neueste Zeit II, Stuttgart u.a.: Kohlhammer, 1985, S. 278-288.

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