Pfarrer Samuel Dieterle zum Gedenken (1950)
Von Eduard Thurneysen
Ob ich der rechte Mann bin, um dem so plötzlich unter uns heimgerufenen Basler Pfarrer Samuel Dieterle in den «Neuen Wegen» einen Nachruf zu widmen, weiß ich nicht. Ich tue es auf Aufforderung, und ich tue es gerne, weil ich allerdings Samuel Dieterle in besonderer Weise nahestehen, ja, durch viele Jahre hindurch sogar in enger Arbeitsgemeinschaft mit ihm leben durfte. Es sei mir daher erlaubt, meinen Nachruf in persönlicher Weise zu gestalten.
Meine erste deutliche Erinnerung an Pfarrer Dieterle reicht in dessen Studentenjahre zurück. Er war 1882 geboren und also sechs Jahre älter als ich, und das bedeutet nicht wenig, jedenfalls in jugendlichen Zeiten. Ich war Schüler, als er noch die Studentenmütze trug, und daher schaute ich an ihm herauf. Er hatte mich und andere Junge zusammen mit seinem uns allen ja nicht weniger wohlbekannten Freund Rudolf Schwarz zu einem Spaziergang eingeladen, der uns in die damals noch nicht abgesperrte badische Nachbarschaft führte, also in das Land Johann Peter Hebels, der unserm Heimgegangenen von Jugend auf in seiner gemütstiefen Art innerlich nahe war. Als Student trug er selber den Übernamen «Hebel», und erst noch vor wenigen Jahren hat Dieterle am Hebel-Fest in Lörrach bei einem Festgottesdienst die Predigt gehalten. Jener Spaziergang ist mir darum noch in Erinnerung, weil an diesem Nachmittag das sprühende, gemütvolle, fröhliche Wesen des jungen Dieterle hell in Erscheinung trat und uns Junge sofort ganz für ihn eingenommen hat. Und das ist kennzeichnend für ihn geblieben. Er ist ein ganzer, ernster Mann gewesen, aber eine innere Fröhlichkeit, ein geistvoller Humor, eine tapfere Lebensfreude hat ihn beseelt und hat alle gewonnen, die mit ihm näher zusammentrafen. Er hat durch seine Person, durch seine gemütstiefe Art und sein frohes Wesen alle die widerlegt, die sich einen Prediger, und erst noch einen, der zugleich Abstinent und christlicher Sozialist ist, nur als düstern Fanatiker vorstellen können. Wenn das einer nicht war, wenn einer ein ganz menschlicher Mann gewesen ist, so war es Dieterle. Man muß ihn vor allem im Kreise der Seinen erlebt haben, in ernstem und frohem Gespräch — und es ging immer im Gespräch mit ihm um Wesentliches —, um diese seine reiche und lebendige Menschlichkeit vor Augen zu haben.
Die Jahre kamen und gingen. Dieterle wurde Pfarrer in Wetzikon und fand dort seine Lebensgefährtin, mit der er, und die mit ihm in einer ganz selten guten und lebendigen Lebensgemeinschaft verbunden war und blieb. Vielleicht war es nicht immer ganz einfach, Dieterles Lebensgefährtin zu sein, denn man mußte auch stürmische Wege mitgehen und nach fernen und hohen Zielen ausschauen können. Aber dafür bereitete er den Seinen ein innerlich reiches und bewegtes Leben, keine Idylle, aber ich möchte sagen: einen Bauplatz, eine Arbeitsstätte, wo er selber unermündlich am Werke war, wo es um eine große und wichtige Sache ging, der er selber seine ganze Kraft hingab, und nun mußten oder durften auch die Seinen mit dabei sein am Werk, an der Arbeit des Gatten und Vaters. Im Jahre 1909 wurde Samuel Dieterle von Wetzikon nach der Vorstadtgemeinde Brüggen bei St. Gallen berufen und hat dort fast volle 20 Jahre hindurch gewirkt.
Und hier nun setzen meine weiteren Erinnerungen an ihn ein. Die erste ist eine Begegnung, die ich mit ihm hatte während eines Streikes in Basel. Ich war unterdessen selber Pfarrer im Aargau geworden, und Dieterle stand als Feldprediger im Dienst. Es waren wohl die Generalstreiktage des Jahres 1918. Ich traf ihn in Uniform, aber er war innerlich tief aufgewühlt und belastet. Er hat ja dann entschlossen sein Feldpredigeramt beim Basler Regiment niedergelegt und ist dem Bund antimilitaristischer Pfarrer beigetreten, und zwar eben aus den Erfahrungen solcher schweren Tage, wo man das Militär gegen «den innern Feind» aufzubieten für nötig hielt. Wie sollte er da noch mittun können, nachdem er bereits in Wetzikon tief hineingeführt worden war in die Not und Problematik der sozialen Lage! Er erkannte mit ganzer Klarheit, daß der Klassenkampf von unten nichts anderes ist als eine Folge des längst vorher geführten Klassenkampfes von oben. Und er erkannte, daß es vom Evangelium her nichts anderes geben könne als die Solidarität mit den um ihr Lebensrecht kämpfenden Arbeitern. Es waren jene Jahre, wo die ersten Bücher von Hermann Kutter erschienen, vor allem das Bucht «Sie müssen», ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft, in welchem dargestellt wurde, daß es im Kampf gegen die Mammonsherrschaft keine Neutralität für die Kirche geben dürfe, kein wohlabgewogenes Gleichgewicht von oben und unten, sondern eine klare, evangelische Parteinahme für die, die unten leben, die Armen, die Bedrückten, Und später waren es die Schriften und Worte von Leonhard Ragaz, die einen Mann wie Dieterle nicht weniger auf riefen zum Eintreten in den Kampf gegen Mammon und gesellschaftliche Vorurteile. Und das andere Kampfgebiet, das Dieterle betreten mußte, war das Alkoholelend. Er brach für sich selber mit den Trinksitten und trat in die Reihen des Blauen Kreuzes, um sie nie mehr zu verlassen, solange er lebte. Ja, gerade hier hat er eine ganz große und sicher oft genug mühevolle Arbeit geleistet. Bei seinem Tode war er Zentralpräsident des deutschschweizerischen Zweiges des Blauen Kreuzes. Und sein Hinschied reißt eine tiefe Lücke in diese Bewegung.
In diesen Bruggener Jahren geschah es dann, daß ich neben Dieterle an die selbe Gemeinde, auf die gleiche Kanzel berufen wurde. Es sind dies für mich gerade durch die Zusammenarbeit mit ihm unvergeßliche Jahre geworden. Es ist ja nicht ganz selbstverständlich, daß zwei Pfarrer an der gleichen Gemeinde es immer leicht haben, miteinander Schritt zu halten und der Gemeinde in wirklicher Eintracht zu dienen. Ich erinnere mich noch eines Gespräches, das ich mit einem Altersgenossen und Studienfreund von Samuel Dieterle hatte, bald nachdem ich nach Brüggen gewählt worden war. Er meinte, mir voraussagen zu müssen, daß ich neben einem Prediger von Format wie Dieterle durchaus im Schatten werde zu leben haben. Aber davon war nun wirklich keine Rede. Ich durfte mich selber sein und bleiben, ohne von Dieterles «Format» mich erdrückt zu fühlen. Aber daß dies so geschah, gehört eben auch ganz mit zum «Format» von Dieterle. Er war ein Prediger, der Gewalt hatte in seinem Wort, und er war der Mann, der die ganze Gemeinde innerlich aufgeweckt hatte und zusammenhielt. Wenn er etwa an einem Festtage die Kanzel betrat bei gedrängt voller Kirche und das Wort ergriff, so spürte man, daß hier ein Pfarrer und Hirte vor einer Gemeinde stand, die ihm folgte, weil sie ihm Großes, Lebendiges verdankte und an ihm hing, weil er sie wahrhaft väterlich und mit männlicher Kraft speiste und tränkte aus dem Schafe des Wortes Gottes, das er ihr verkündigte. Da gab es keine Phrasen, aber da wurde stark und klar und ins Leben eingreifend gepredigt. Da wurde ein Wort laut, das vor allem auch die Männerwelt ansprach und mitnahm. Ich weiß von mehr als einem solchen Mann, der durch Dieterle entscheidend geweckt und geführt worden ist. Unter Dieterles Verkündigung wurde die Kirche wieder aus jenem halb langweiligen, halb feierlichen Ort, zu dem sie mancherorts herabgesunken ist, zu einer Stätte, wo Leben erwacht, weil der Geist der Bibel zu wehen beginnt. Da wurden keine Flicke auf das alte Kleid gesetzt, da wurde das neue Kleid angemessen; da wurde nicht alter Wein getrunken, da wurde neuer Wein ausgeschenkt (trotz aller Abstinenz, die sich durchaus damit vertrug!). Ich kann nur sagen, daß ich selber von Dieterle als Prediger viel gelernt habe und diese Schule nicht missen möchte.
Aber nun war es so, daß Dieterle bei all seiner großen Predigergabe gar nichts an sich hatte von einem Kanzelredner, der seine eigene Ehre sucht. Eben das hat er nie getan. Er predigte nicht sich selber, sondern er predigte, wie der Apostel es vorschreibt, nichts anderes als Jesus Christus und sein Evangelium, so wie es ihm aufgegangen war. Und so hat er sich auch im täglichen Zusammenarbeiten in der Gemeinde niemals aufgespielt als der Ältere, Erfahrenere, als der, der vieles konnte, was ich nicht konnte, sondern er hat sich schlicht und brüderlich neben den jüngeren und in manchem so anders gearteten Amtsbruder gestellt, der ich war. Er freute sich, daß ich mich freuen konnte an der Wirksamkeit, die er entfalten durfte, und er gab mir ganz freien Raum und half mir, wo er konnte, meinen mir gewiesenen Weg in der Verkündigung und in der Arbeit zu gehen. So kam es zu jenem gegenseitigen, neidlosen Zusammenarbeiten, das leider oft genug in der Kirche fehlt und das doch so wichtig wäre für den Aufbau der Gemeinde. Es erfüllte sich ein wenig auf geistigem Gebiete das soziale Wort aus der ersten Christengemeinde: «Sie hatten alle Dinge gemein!» Wir konnten zusammenstehen freilich auch aus dem Grunde, daß wir beide eine gemeinsame, innere Veräusserung hatten. Auch ich war aufs stärkste bewegt von der Botschaft der beiden Blumhardt und Hermann Kutters. Und wir trafen uns in dem Bemühen, uns mit unserer Verkündigung mitten hineinzustellen ins einfache Volk, aus dem sich unsere Gemeinde rekrutierte. So traten wir auch hin und wieder miteinander in Arbeiterversammlungen auf, in die wir gerufen wurden, und bestanden Diskussionen über soziale und politische Probleme oder besuchten die damals noch im Schwange stehenden religiössozialen Konferenzen. Daß ich als Theologe etwas andere Wege betrat, daß ich mich verbunden wußte mit Karl Barth, und daß Dieterle mir auf diesen Wegen nicht ohne weiteres folgte, daß ich also mein eigenes geistiges Gesicht hatte, das hat uns aber wiederum nicht auseinandergetrieben, sondern hat wohl unsere Gespräche und Auseinandersetzungen belebt und befruchtet, hat aber nicht zu einem Risse geführt.
1927 wurde ich nach Basel gewählt, aber schon 1929 folgte Dieterle einem Ruf an die Petersgemeinde in Basel. Die Zeit enger Zusammenarbeit hörte damit auf. Wir hatten verschiedene Gemeinden und in manchem auch unterschiedliche Aufträge und Aufgaben und Wege. Dieterle ging auch in Basel seinen Weg der Verkündigung, in welcher das soziale Anliegen und das Anliegen des Kampfes gegen die Mächte des Geldes und des Krieges das volle Übergewicht behielt. Er hat wie in Brüggen eine Gemeinde um sich gesammelt, die seiner Predigt Großes verdankt. Er hat sich auch in Basel weiter und weiter vor allem darum bemüht. den. Arbeitern Heimatrecht in der Gemeinde zu erkämpfen. Er litt unter der Verbürgerlichung der Kirche und hat sich, wo er konnte, eingesetzt für die Sadie der Unterdrückten und Zurückgesetzten. Er ist dabei auf viel Unverständnis und Anfechtung gestoßen, aber er hat dies fröhlich und getrost getragen als Zeichen dafür, daß er gerade mit dieser seiner Verkündigung auf dem rechten Wege sei. Die Basler Kirche, ja, das Baslervolk verdankt ihm Großes, und er ist in seiner Art und in der Wirkung, die er hatte, geradezu unersetzlich geblieben. Man wird ihn und sein tapferes Wort auf der Kanzel und vor allem auch in der kirchlichen Öffentlichkeit (also etwa in der Synode!) tief vermissen. Es wird zwar auch solche geben, die ein wenig aufatmen, daß dieser unbequeme Mahner und Rufer verstummt ist (vielleicht gerade in der Synode!), aber das gehört mit zu der Wirkung, die von Dieterle ausgegangen ist. Und die Kirche als solche jedenfalls lebt davon, daß immer wieder solche Wächter aufstehen. Würden sie endgültig verstummen, so wäre dies das Ende ihres Lebens.
Wenn ich versuchen soll, mit ein paar Worten das geistige Bild dieses Predigers und Hirten zu umreißen, so wäre eines sicher zu sagen: Samuel Dieterle hat ein innerlich gesammeltes Leben gelebt. Das will sagen: er hatte in seinem Leben eine Mitte, um die sich alle seine Kräfte zusammenschlossen. Die Sache Gottes war für ihn diese Mitte, ich könnte auch sagen: das Reich, die Herrschaft Gottes. Es war ihm in der Bibel — Dieterle war ein unermüdlicher und treuer Leser und Erforscher der Bibel —, und es war ihm in der Schule der Blumhardt, Kutters und Ragazens aufgegangen, daß es beim Evangelium von Christus nicht um bloße Frömmigkeitspflege, nicht um bloßes Seelenheilchristentum gehen könne, sondern um die neue Welt, die von Gott her zu uns nicht erst kommt, sondern schon gekommen ist, die Welt des Vaters, wie Hermann Kutter sie in einem frühen, glühenden, ersten Predigtband genannt hatte. Es war ihm aufgegangen, daß Dunkel liegt über den Völkern, Dunkel auch über jedem einzelnen Menschendasein, daß man sich aber in dieses Dunkel nicht zu schicken hat, daß vielmehr Gott Licht bringen will und schon gebracht hat in der Erscheinung des Jesus Christus in alles Dunkel, und daß wir uns nach diesem Lichte ausstrecken sollen, ausstrecken dürfen, eben nach eben jenem Licht seines Reiches, seiner kommenden und gekommenen Welt. Gott hat die Zügel seiner Herrschaft auf Erden wieder ergriffen. Und damit haben die Mächte, haben also Mammon und Krieg, Alkohol und die Gewalt des Todes ihr Spiel verloren. Darum gilt es, aufzustehen vom Schlaf, zu erwachen aus allem bloßen Seelenchristentum und aller Schicksalsgläubigkeit und die Wanderschaft anzutreten durch das Dunkel, das heute noch herrscht, dem Tage entgegen, der einmal anbrechen wird, ja, der schon im Anbrechen ist. Um was anderes geht es denn in all den großen Auseinandersetzungen, den geistigen, weltanschaulichen, aber auch den politischen und wirtschaftlichen unserer Tage als darum, daß der Eine Recht behält, der auf dem Throne sitzt und spricht: «Siehe, ich mache alles neu!»?
Das war die Grundanschauung Dieterles. Das hat er aufgenommen aus der Arbeit an der Bibel, die in der neuen Theologie von heute ein wenig von allen Seiten geleistet wird. Mögen die einzelnen Theologen sich dabei oft in Gegenstellungen befinden und in allerlei Lager auseinander« fallen, Dieterle hat sich um diese an sich ernsten Auseinandersetzungen nicht so sehr gekümmert, aber er hat die Resultate mit seinem scharfen Verstände und seinem lebendigen Glauben aufgenommen und sich daran gehalten. Er hat auf seine Weise den Aufbruch mitgemacht, der in seinen Mannesjahren alle diejenigen unter den Pfarrern, die nicht hinter dem Ofen sitzen blieben oder auf dem Monde daheim sein wollten, bewegt hat. Er hat sich also auf die Wanderschaft gemacht dem Tage Jesu Christi entgegen. Und er hat begriffen, daß dies bedeutet, daß man an« binde mit den Mächten und Gewalten, die scheinbar (aber nur für den Unglauben!) noch so gewaltig herrschen und regieren. Das war die Sache seines Lebens. Dafür hat er sich eingesetzt. Das war ihm der Gehalt der Botschaft von der Vergebung der Sünden, vom Kreuz und der Auferstehung Jesu Christi. Er gehörte, kirchlich gesprochen, ganz und gar nicht zu den Verdünnern der Bibel, er stand fest auf dem Boden seines Jesus-Christus-Glaubens. Aber er hat freilich auch hier sich nicht so sehr gekümmert um die Auseinandersetzungen innerkirchlicher Art. Er wollte kein Parteimann sein und meinte, es sei möglich, ohne kirchliche Richtungsbindung seinen Weg zu gehen als Einzelner, Freibleibender, ja, Freischärler. Ob ihm dies ganz gelungen ist, gelingen konnte, wäre zu fragen. Aber er hat es jedenfalls versucht. Und damit sind wir an der Frage der Stellung Dieterles zur Kirche überhaupt. Die Sache seines Lebens sei das Reich Gottes gewesen, haben wir gesagt; wir hätten nicht ebenso eindeutig sagen können: die Sache der Kirche. Daß Reich Gottes und Kirche zweierlei sei, das hatte ihm vor allem Ragaz eingeprägt, und das bleibt eine unaufgebbare Einsicht. Aber Dieterle hat doch daran festgehalten, daß man eben auch in der Kirche den Schauplatze sehen darf und sehen muß, auf welchem nach diesem Reiche getrachtet werden soll. Darum hat er zeitlebens an der Kirche festgehalten, hat ihr gedient, hat ihr seine Kraft und Liebe geschenkt. Er hat sie freilich auch eben um deswillen, daß es in der Kirche um Gottes Herrschaft gehen muß und um nichts anderes, kritisiert, sie aufgerufen, ja aufzurütteln getrachtet. Er war das Gegenteil eines Pfaffen und hat alles pfäffische Wesen aus tiefer Seele verabscheut. Es ist ihm oft eng und weh ums Herz geworden, wenn er die Kirche auf allzu ausgelaufenen Wegen fahren sah. Vielleicht hat er sie in einem gewissen Unmut manchmal auch allzusehr nur als Bremse am rollenden Wagen des göttlichen Wirkens und Geschehens empfunden. Vielleicht hat ihm der Gegensatz zwischen Reich Gottes und Kirche oft stärker vor Augen gestanden als deren von Gott selber gesetzter Zusammenhang. Aber das gehört wohl mit zu den Kennzeichen der Generation von Kämpfern, zu denen Samuel Dieterle mit einem Karl von Greyerz, einem Hans Bader und Emanuel Tischhauser zu rechnen ist. Sie haben uns auf alle Fälle mit ihrem ganzen, mannhaften Ergreifen der Botschaft vom Reiche Gottes Wesentliches gegeben. Und es wäre der nun nachrückenden Generation von Pfarrern und Gemeindegliedern wohl zu wünschen, daß ihr etwas von dem lebendigen und brennenden Eifer um das Reich er« halten bliebe, wie er in diesen Männern lebte. Der religiöse Sozialismus, der für sie der Ausdruck ihres Wollens war, sollte nicht totgesagt werden, wenn es auch wahr sein wird, daß wir heute das gleiche, was jene gesehen und gewollt haben, ein wenig anders sehen, sagen und wollen müssen. Die Zeit steht nicht still, aber der Herr ist derselbe, der gestern wie heute und in alle kommenden Jahre hinein in der Zeit wirkt und herrscht, weil er der Herr aller Zeit ist.
Quelle: Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus, Band 44 (1950), Heft 3, S. 117-123.