Verena Pfenninger-Stadler studierte Theologie unter anderem in Marburg bei Rudolf Bultmann und in Münster bei Karl Barth und absolvierte ein Lernvikariat in Zürich. Durch ihre Heirat mit Walter Pfenninger 1930 war ihr eine berufliche Anstellung in der Kirche verwehrt. Bei der ersten Pfarrstelle ihres Mannes in Brig im Oberwallis (1931 bis 1939) konnte sie jedoch Gottesdienste und Unterricht in den verstreuten Dörfern übernehmen.
Meine Arbeit als Theologin unter den Protestanten des Oberwallis
Von Verena [Pfenninger-]Stadler, Pfarrvikarin, Brig.
Die nachfolgenden Zeilen wurden auf Wunsch der Redaktion des Schweizer Frauenblattes geschrieben, die mich gebeten hat, besonders auch darüber zu berichten, wie die Vereinigung von Berufs- und Familienpflichten in meiner Arbeit möglich sei.
Die Protestanten des Oberwallis sind Protestanten der Diaspora, Protestanten, die zerstreut leben inmitten einer katholischen Gegend, zerstreut in unserem Falle von der Quelle der Rhone über eine Bahnstrecke von ungefähr 2 1/2 Stunden bis nach Gampel, an der Mündung der Lonza, wo man die Lötschbergbahn hoch oben die Hänge des Rhonetales verlassen sieht, um endlich die nördliche Richtung nach dem Kanton Bern hin einzuschlagen, von Goppenstein, der letzten Station diesseits des Lötschbergtunnels bis nach Zermatt, dem Ende des Vispertales, und nach Gondo, einem kleinen Grenzdorf 4 Stunden südlich unterhalb der Paßhöhe des Simplons gelegen. Trotzdem spielt in unserer Arbeit die Auseinandersetzung mit dem Katholizismus eine verhältnismäßig geringe Rolle. Am ehesten bekommt sie Bedeutung in der Schule, wo es daraus zu achten gilt, daß die Kinder unserer eigenen Gemeindeglieder nicht katholische Gewohnheiten annehmen, nicht eine katholische Auslegung der Bibel und eine katholische Deutung des menschlichen Verhältnisses zu Gott gleichsam unbewußt einatmen. Im großen ganzen ist unser Verhältnis zur katholischen Bevölkerung ein außerordentlich gutes, dank der Duldsamkeit unserer katholischen Kollegen, einer Duldsamkeit, die einzuhalten wir selbstverständlich auch unsererseits bemüht sind.
Unser eigentlicher Feind ist die kirchliche Gleichgültigkeit innerhalb der eigenen Gemeinde. Die Arbeit des Pfarrers ist heute zum großen Teil wieder Missionsarbeit geworden, Rückgewinnung derer, die sich um die Kirche nicht mehr kümmern. Dabei handelt es sich in den allerwenigsten Fällen um einen Atheismus aus Ueberzeugung, was sich unter anderem darin zeigt, daß man formal Mitglied der Kirchgemeinde geblieben ist. Charakteristisch für den Durchschnittsmenschen der Gegenwart ist vielmehr eine unerhörte Gleichgültigkeit gegenüber letzten Menschheitsfragen, Gegenstück einer teilweise noch erhaltenen, rein äußerlichen Kirchlichkeit der vergangenen Jahrzehnte. „Tue recht und scheue niemand“ ist der oberflächliche Lebensgrundsatz von Hunderten, der oft mit großer Naivität auch dem Pfarrer bei seinem Hausbesuch entgegengehalten wird, als Beweis gleichsam, daß es nicht fehlen könne, auch wenn man kaum je zur Kirche komme. Hier gilt es, den modernen Menschen darauf aufmerksam zu machen, wie wenig er sich über sich selbst und seine Grundsätze klar ist, wie er z. B. nicht sagen kann, was er unter „recht tun“ versteht, wie er zum großen Teil von den Schlagworten seiner Partei lebt, wie er vom Sinn der Kirche nichts verstanden hat usw. Nötig dazu ist ständiges Bereitsein zur Rechenschaft und zum Angriff auch in dem Gespräch von Mund zu Mund, das sich bei Gelegenheit des Hausbesuches abspielt. Nötig ist ferner das ständige Bemühen, die Predigt so spannend und aktuell als möglich zu gestalten, um auch dem modernen, leicht abgelegen Menschen begreiflich zu machen, daß diese Sache ihn angeht. Zu diesem Zwecke haben wir in unserer Gemeinde auch monatliche Gemeindeabende eingerichtet, in denen teils wir selbst, teils auswärtige Referenten über eine Frage der Gegenwart referieren und wo der Gemeinde Gelegenheit zur Diskussion gegeben ist. Themen solcher Gemeindeabende sind: Krieg und Militär, Wirtschaft, Geschlechterfrage, aber auch Biographien großer Menschen wie Käthe Kollwitz, Karen Jeppe, Bodelschwingh, Zwingli usf. Demselben Zwecke dienen auch alle kleineren Veranstaltungen: stets handelt es sich um ein Wachrütteln der Geister, ein Hinleiten der einzelnen Gemeindeglieder auf die letzte Entscheidung: Für oder Wider Christus, um eine Vorarbeit also, deren Gelingen, wie das Gelingen aller pfarramtlichen Arbeit überhaupt, zuletzt nicht mehr vom Pfarrer abhängt.
Die Theologin hat selbstverständlich nichts anderes zu tun, als sachlich und gehorsam sich mit in diese Arbeit hineinzustellen. Die Arbeit eines jeden Verkündigers des Evangeliums ist grundlegend von zwei Faktoren bestimmt, die außerhalb seiner selbst liegen, vom Worte Gottes, wie es uns in der Schrift entgegentritt, einerseits und von dem Gebote Gottes, wie es uns in der Forderung des Nächsten im Alltag begegnet, andererseits. Das bedeutet praktisch: die Predigt und auch die ganze übrige Arbeit des Pfarrers muß einerseits aus dem Geiste der Bibel heraus geschehen und andererseits auf den Menschen, an dem diese Arbeit geschieht, eingehen, ihn in seiner besonderen Lage zu verstehen und auch zu treffen suchen. Vor diesen äußeren Forderungen seiner Arbeit muß die Persönlichkeit des Pfarrers zurücktreten, seine Eigenschaften und Neigungen, aber auch die Tatsache seines Geschlechts. Innerhalb dieses Rah-mens wird sie freilich, wie alles Menschliche, eine gewisse Rolle spielen, wird sie sich fördernd oder hemmend auswirken.
Es ist im gegenwärtigen Augenblick noch keineswegs selbstverständlich, daß eine Kirchgemeinde die innere Freiheit besitzt, eine Theologin, besonders wenn sie verheiratet ist, arbeiten zu lassen. Umso anerkennenswerter ist es, daß unsere beiden Kirchgemeinden Brig und Visp mir von Anfang an eine fast uneingeschränkte Mitarbeit im Gemeindegebiet meines Mannes bewilligt haben. Er ist mir nahegelegt worden, keine Abdankungen zu halten, weil auf dem Friedhof jeweilen auch Katholiken sich einfinden, die man nicht vor den Kopf stoßen wollte; diesem Wunsche habe ich selbstverständlich gerne Folge geleistet. In Brig ist mir die kleine Beschränkung auferlegt, monatlich nur einmal, Festzeiten ausgenommen, zu predigen. Ich habe ferner bisher noch nicht konfirmiert, wohl aber im vergangenen Winter zwei Konfirmandinnen welscher Zunge den Unterricht erteilt. Liese Beschränkungen sind nicht wesentlich, weil sic keine Behinderung der Arbeit überhaupt bedeuten. Wir haben in unserem eigenen Gemeindegebiel 4 regelmäßige Predigtstationen, dazu kommen gelegentliche Vertretungen für die deutschen Gottesdienste in den Kirchgemeinden des Unterwallis, ferner gelegentliche Vorträge und Predigten außerhalb des Kantons. So habe ich beispielsweise in diesem Jahr von Palmsonntag bis Himmelfahrt keinen einzigen freien Sonn- oder Feiertag gehabt. Es kommt ferner hinzu die Werktagsarbeit des Pfarrers, Vorträge, Schulstunden, Mitarbeit in Frauenverein und Blaukreuz, Jungmädchengruppe, Hausbesuche usw.
Diese zugestandene Arbeitsfreiheit bedeutet nicht, daß nicht doch innerhalb der Gemeinde Widerstand gegen die Theologin bestehe. Es gibt Gemeindeglieder, die niemals in einen von einer Frau geleiteten Gottesdienst erscheinen, meistens mehr aus gefühlsmäßigem Widerstand gegen die Arbeit der Frau als aus religiösen Gründen. Nun ist aber gerade diese Art der Begründung für jede bewußte Ueberzeugung überhaupt unbrauchbar. Auch ein Christ muß wissen, warum er Christ ist. So gilt es auch hier, sich zu gelegener Zeit mit dem Widerstand auseinanderzusetzen. Was ursprünglich Anstoß ist, kann zur fruchtbringenden Förderung des geistigen Lebens der Gemeinde werden, dann, wenn der Anstoß zum Nachdenken anregt und dir eigene Entscheidung fördert.
Die Zusammenarbeit von Mann und Frau im selben Beruf, die man vielfach als ideal hinstellen hört und die vom Standpunkt der Gemeinschaft beider Gatten aus gesehen auch wirklich eine schöne Möglichkeit bildet, bedeutet für die selbständige Arbeit der Frau vielfach eine Erschwerung. Mögen Mann und Frau die Arbeit nach so gut unter einander abgegrenzt haben, die Gemeinde ist schwer an diese Abgrenzung zu gewöhnen. Schon das gemeinsame Wohnen ist von da aus gesehen ungünstig. Man geht eben „zum Pfarrer“. Die Ueberwindung dieser Schwierigkeit für die Frau kann wieder nur durch die strenge Unterordnung der eigenen Person unter die Sache geschehen: Es gibt im Dienste Gottes — auch in den protestantischen Gemeinden des Oberwallis — Arbeit genug auch dann noch, wenn man auf einzelne Wünsche und Möglichkeiten verzichten muß. In diesem Zusammenhänge möchte ich auf diejenige Arbeit hinweisen, die mir im besonderen obliegt: die Leitung der geistigen Seite der beiden Frauenvereine, Brig und Visp, von denen der letztere erst seit meinem Hiersein, freilich auf Anregung aus der Gemeinde selbst, gegründet worden ist. Beide Vereine sind, gleich den beiden Gemeinden, ihrem Charakter nach sehr verschieden. In Brig sind es vorzüglich Frauen von Eisenbahnern und kleinen Gewerbetreibenden, in Visp die Frauen der Werkmeister, Chemiker und Ingenieure der großen chemischen Fabrik, der „Lonza“. Auch diese Arbeit ist, mehr noch als die der Gemeindeabende, Vorarbeit, es kann sich um nichts anderes handeln als darum, diesen Hausfrauen zu helfen, ihre Gedanken für eine kurze Stunde von dem engen Kreis ihrer häuslichen Pflichten wegzulenken, ihnen von den Leiden ihrer Brüder und Schwestern rings um sie herum zu erzählen. Ich suche womöglich Geschichten zu wählen, die zu einer nachherigen Aussprache Anlaß bieten, wir haben einen Aufsatz über die Not der Gebirgsbevölkerung in unserem Kanton gelesen, eine Freundin hat von ihrer Arbeit in der deutschen Großstadt erzählt, wir sprachen über Erziehung zum Frieden, oder ich lese eine der Volkserzählungen Tolstois vor. Die Gruppe junger Protestantinnen, eigentlich meine Jungmädchengruppe, zu der ich aber auch die jungen Frauen einlade, ist einer der dankbarsten Teile meiner Arbeit. Nicht der Zahl nach — wir sind oft nur drei — denn es gibt in Brig wenig Arbeitsgelegenheit für Mädchen, so daß die meisten auswärts gehen müssen und weil auch viele von denen, die hier sind, schwer zur Teilnahme zu gewinnen sind, sondern um ihrer inneren Lebendigkeit willen. Um dem Bedürfnis der Jüngeren nach geselliger Fröhlichkeit entgegenzukommen, habe ich Spielabende eingeführt, sonst wird vorgelesen und über irgend ein Thema diskutiert.
Die Vereinigung von Beruf und Familienpflichten für die Frau ist ein grundsätzliches Problem nur so lange, als die Vorstellung besteht, es sei der Beruf sowohl wie die Familie als ein bestimmtes Werk aufzufassen, abgeschlossen, vollkommen, gleich dem Bilde, welches ein Künstler auf die Leinwand wirft. Diese Vorstellung aber ist für den Christen sowieso unvollziehbar, denn er weiß, daß es dem Menschen nicht gegeben ist, in dieser Welt irgend etwas zur Vollendung zu bringen. Auch der Pfarrer, der ganz seinem Berufe leben will, wird je und je den Konflikt der Pflichten erleben, er sollte an einem Nachmittag eine Abdankung oder Trauung halten und doch zugleich einem säumigen Schüler nachgehen, am nächsten dringende Krankenbesuche machen und doch zugleich die Predigt vorbereiten. Auch die Frau, die Hausfrau ist, kennt den Konflikt, zwischen pünktlicher Fertigstellung des Essens zur Zeit der Rückkehr des Mannes, zwischen Putzete und Flickete einerseits und der Notwendigkeit, sich mit den Kindern abzugeben, auf ihre seelischen und körperlichen Bedürfnisse einzugehen, sie anzuhören, an die frische Luft zu bringen, schlafen zu legen andererseits. Sie kennt den Konflikt der menschlichen Pflichten, den ihre Aufgabe als Gattin und ihre Mutterschaft mit sich bringt, und manche Frau hat schon fälschlicherweise das eine um des andern willen geopfert. Die Lösung aber liegt nicht in einem solchen falschen Opfer, auch nicht darin, daß die Frau sich in Betrieb und Hetze stürzt, um zahlenmäßig möglichst viel zu leisten und dabei — das wird die sichere Folge sein — ihre Gesundheit zu ruinieren, so daß sie ihre Arbeit vorzeitig abbrechen muß. Es kommt vielmehr darauf an, daß alle Arbeit von einem inneren Zentrum aus geschieht. Dieses Zentrum ist für den Christen das Gebot Gottes. Gott befiehlt uns, den Nächsten zu lieben. Der Nächste aber ist für mich je nach den Umständen das Kind, das der Mutter bedarf, das kranke oder sterbende Gemeindeglied, an dessen Bett ich zu Gebet und Trost gerufen bin, die Gemeinde, die die Verkündigung des Wortes braucht, der Gatte, die Haushälterin, die Schüler usf. Das ganze Leben des Christen besteht darin, von Fall zu Fall zu erkennen, in welchen der vielen Anforderungen des Tages, die an ihn herantreten, Gottes Stimme ihn zum Dienst ruft und daraufhin im Glauben diesen Dienst zu wagen. Der Christ wird freilich dabei erkennen müssen, daß er nie alles tun kann, und warten lernen, bis Gott andere Menschen zum selben Dienste ruft.
Praktisch ist freilich noch hinzuzufügen, daß das Pfarramt wohl wie kein zweiter Beruf, wie vielleicht nicht einmal der Haushalt, infolge seiner großen Freiheit in der Zeiteinteilung es ermöglicht, mannigfaltige Aufgaben und Pflichten miteinander zu verbinden. Ein großer Teil der Werktagsarbeit des Pfarrers fällt auf den Abend, wo die Kinder zu Bett gebracht sind. Auch kann er sich Wohl einmal einen Tag etwas mehr freie Zeit machen, um an einem anderen umso intensiver in seinem Berufe tätig zu sein. Da meine Arbeit unbezahlt ist — unsere Gemeinden vermöchten die Last einer doppelten Besoldung gar nicht zu tragen —, kann ich umsomehr von dieser Freiheit Gebrauch machen.
Für den Christen gibt es keine allgemeinen Theorien über sein Tun, also auch keine allgemeine Theorie darüber, ob eine verheiratete Frau imstande ist, beides, Beruf und Ehe, zu vereinen. Es gibt immer nur den Gehorsam gegen Gott in jedem Augenblick der Gegenwart. Kein Mensch kann ihm abnehmen, darüber zu entscheiden, was Gott gerade von ihm fordert. So kann ich zum Schluß weder alle andern Frauen auffordern, dasselbe zu tun, wie ich, noch auch solchen, die es tun wollen, davon abraten, um der großen Last der Arbeit willen, die sie sich damit aufladen. Ich kann nur bezeugen, daß ich mich in beides, in meinen Beruf sowohl wie in meine Ehe, gewiesen sah, und daß mir darum nichts anderes übrig blieb, als im Glauben diesen Weg zu gehen. Ich kann nur bezeugen, daß ich auch heute noch meine, diesen Weg im Glauben weitergehen zu müssen.
Quelle: Schweizer Frauenblatt. Organ für Fraueninteressen und Frauenkultur, Jahrgang 15, Nr. 22, 2. Juni und Nr. 23, 9. Juni 1933 (unpaginiert).