Emil Brunner, Die Menschenrechte nach reformierter Lehre (1942): „In der gegenwärtigen Stunde kommt die Bedrohung der menschlichen Bestimmung unzweideutig vom autoritären Kollek­tivismus her, für den es eine unverletzliche, im Gotteswillen begründete Würde der menschlichen Person nicht gibt. Es ist darum kein Zufall, sondern sachliche Notwendigkeit, dass in dieser Stunde die christliche Gemeinde in der ganzen Welt wieder einmal in den akuten status confessionis eingetreten, dass sie als bekennende Kirche aufgerufen ist, und zwar diesmal als Anwalt der gottgeschaffenen Menschenrechte. Sie ist der Welt nicht nur das Evangelium von der rettenden Gnade schuldig — in deren Verkündigung sie ihr eigenes, ihr ewiges Leben hat —, sondern auch die Lehre von den Ordnungen Gottes, in der die Erkenntnis der rechten sozialen und staatlichen Gerechtigkeit und mit ihr sowohl die Erkenntnis der Menschenpflichten als der Menschen­rechte enthalten ist.“

Die Menschenrechte nach reformierter Lehre (1942)

Von Emil Brunner

Über Nacht ist die Idee der Menschenrechte aus einer euro­päischen Selbstverständlichkeit, aus einem Axiom unserer staat­lich-bürgerlichen Existenz zu einem Problem und zu einem er­neuerten Postulat geworden. Das 19. Jahrhundert hatte als Testamentsvollstrecker der französischen Revolution in beinahe allen Ländern des Abendlandes den Verfassungsstaat, sei es die konstitutionelle Monarchie, sei es die demokratische Republik geschaffen. Die Grundlage aber all dieser Verfassungen war die Anerkennung der Verantwortlichkeit der staatlichen Macht­träger gegenüber dem Volk und das heißt, auch wo sich diese Verantwortlichkeit nicht bis zur Doktrin der Volkssouveränität steigert, die Anerkennung ursprünglicher Rechte des Menschen als Menschen, die der Staat nicht schafft, sondern in seiner Ver­fassung und in seinen Gesetzen lediglich zur Geltung bringt, und die er als Voraussetzung seiner eigenen Rechtsmäßigkeit betrach­tet. Der moderne Staat ist, wenn auch nicht ausschliesslich, so doch immer auch als Mittel gedacht, diese ursprünglichen Frei­heitsrechte und mit ihnen die staatsfreie Lebenssphäre des ein­zelnen und der sozialen Gruppen zu schützen. Diese Korrelation von Staat und Menschenrechten war uns zur kaum mehr beachteten Binsenwahrheit geworden.

Da brach aus den Wehen des ersten Weltkrieges, zuerst 1917 in der bolschewistischen Revolution, hernach auch anderwärts, der totale Staat in die liberale europäisch-amerikanische Staat­lichkeit ein und sagte der Idee der Menschenrechte den Krieg an. Wir fragen jetzt nicht: wo und inwieweit gibt es totalen Staat; vielleicht gibt es ihn nur in Approximationen. Aber die Idee des totalen Staates ist mit der Verneinung ursprünglicher Menschen­rechte identisch; denn er ist die Behauptung der totalen Staatsgehörigkeit des Menschen. Der totale Staat nimmt, seiner Idee nach, den Menschen als ganzen und unbedingt für sich in An­spruch und aberkennt ihm, wie auch den sozialen Gruppen, jegliches selbständige Recht und jeden Anspruch auf eine grund­sätzlich staatsfreie, ihnen ursprünglich zugehörige Lebenssphäre. Die Idee des totalen Staates heißt: Der Mensch gehört dem Staat. Die Freiheiten des Menschen bestimmt ganz allein der Staat; darum gibt es keine ursprünglichen Menschenrechte.

Mit elementarer Gewalt überfällt diese neue — vielmehr diese uralte, aber längst überwunden geglaubte — Idee der totalen Staatshörigkeit des Menschen die überraschte Menschheit und fegt, wo sie zur politischen Macht kommt, mit rücksichtsloser Konsequenz alle überlieferten Rechtsanschauungen und Rechte, die das Produkt jahrhundertelanger Kämpfe um die ursprüng­lichen Freiheiten waren, hinweg.

Dadurch ist nun nicht nur politisch, sondern auch geistig eine völlig neue Situation entstanden, die von den meisten noch nicht verstanden wird. Mit der Abschaffung, ja auch schon mit der Infragestellung der Menschenrechte ist zunächst einmal der Rechtspositivismus des letzten Jahrhunderts erschüttert, indem er gleichzeitig im totalen Staat eine letzte paradoxe Erfüllung erfährt. Er hatte sich im Verständnis und in der Gestaltung des Rechtes immer an das historisch Gegebene gehalten und geglaubt aus ihm die Normen schöpfen zu können. Nun muss­te er in den revolutionären Bewegungen der letzten zweieinhalb Jahrzehnte die Entstehung eines neuen positiven, d.h. vom Staate geschaffe­nen und sanktionierten Rechtes erleben, durch das alle bisheri­gen Rechtsanschauungen auf den Kopf gestellt wurden. Das positive Recht stand auf einmal mit dem, was man bisher als gerechtes Recht verstand, in unversöhnlichem Widerspruch. Die Berufung auf die Tradition aber ist unmöglich geworden, da gerade diese Tradition das ist, was die neue Staatsauffassung mit Hass und Verachtung verneint.

Aber auch die Berufung auf die Ethik als für alle Menschen gemeinsame Appellationsinstanz ist unmöglich geworden. Unter Ethik verstand man nämlich immer eine solche, die in der Idee der Person die Menschenrechte begründete, und die darum diese Idee der Person und ihrer unverletzlichen Würde zur Grundlage der Rechts- und Staatslehre machte. Nun stand aber auf einmal im Bereich der totalitären Bewegung eine neue Ethik da, die diesen Grundbegriff der Person nicht anerkannte. Im Gegenteil, die geistigen Führer der neuen Bewegung machten die aus dieser Personethik mit Notwendigkeit sich ergebenden Men­schenrechte als Produkte des liberalistischen Geistes zur bevor­zugten Zielscheibe ihres Spottes. Die Ethik des starken Mannes nahm den Kampf auf gegen die Ethik der Person- und Mensch­heitsidee, der ethische Konsensus existiert nicht mehr. Die Ethik der Menschenrechte ist aus einem Gerichtshof zu einem Angeklagten geworden. Sie beweist nicht mehr, sie ist zu be­weisen. Wer also für die Menschenrechte eintreten will, muss höher greifen; der Angriff des totalen Staates auf die Ethik der Menschenrechte, d. h. der Personwürde, hat den Kampf aus der vorderen Linie der Ethik in die hintere Linie der Weltanschauung und des Glaubens getragen.

Dieses Sachverhaltes sind sich denn auch die Führer der totali­tären Revolution bewusst. Sie treten nicht nur mit einer neuen Ethik, sondern mit einer Weltanschauung auf, aus der die Ver­neinung der Ethik der Person und der Menschenrechte mit Not­wendigkeit folgt. Will der totale Staat sich nicht nur machtmässig durchsetzen, sondern geistig legitimieren, so muss er die Grundlagen erschüttern, auf denen die Menschenrechte stehen. Er muss sie als Produkte einer artfremden Metaphysik oder Religion verächtlich machen, um das Urteil der Unrechtmässig­keit von sich selber fernzuhalten. Darum ist der Kampf gegen die die Menschenrechte tragenden religiösen Traditionen der eigentliche Lebensnerv in der totalitären Revolution. So bestä­tigt die politische Wirklichkeit unsere Behauptung, dass die Frage der Menschenrechte eine Frage der Weltanschauung und des Glaubens sei.

Die Ablehnung der Menschenrechte so gut wie ihre Behaup­tung ist eine Sache der religiösen Überzeugung. Dass es eine Menschenwürde, einen jedem Menschen eigenen, unableitbaren Personwert, dass es darum ungeschriebene, unantastbare Grund­rechte des Menschen gebe, die vom Staat wohl unterdrückt, aber weder geschaffen noch abgeschafft werden können, das ist etwas, was sich nicht beweisen oder widerlegen, sondern nur entweder glauben oder leugnen lässt.

Wer zu seinem Nebenmenschen oder zum Staate sagt: Dies oder das lasse ich mir nicht gefallen, tut etwas anderes als der, der zu ihm sagt: Du hast kein Recht, mir das und das anzutun. Der erste macht bloss einen Anspruch geltend, der ebenso wenig begründet ist als die Macht, die diesen Anspruch verneint. Der zweite aber beruft sich auf ein Recht, das Recht bleibt, auch wenn der Staat es tausendmal zum Unrecht stempelt; er macht etwas geltend, das ihm von rechtswegen gehört, auch im Gegensatz zum geltenden Recht, also etwas, das ihm kraft göttlichen Rechtes zukommt.

Wo immer Menschenrechte verkündet werden, da geschieht es mit religiösem Pathos. Das kann nicht anders sein; denn das ungeschriebene, vom Staate unabhängige und mit dem positiven Rechte des Staates oft genug im Widerspruch stehende Recht hängt entweder in der Luft, oder aber es hängt an einer ewigen, göttlichen Ordnung. Die Menschenrechte leben ganz und gar aus ihrem Glaubensgrund. Entweder sie sind jus divinum, oder aber — ein Phantom.

Wenn der Gedrückte nirgends Recht kann finden,
Wenn unerträglich wird die Last, greift er
Hinauf getrosten Mutes in den Himmel
Und holt herunter seine ew’gen Rechte,
Die droben hangen unveräusserlich.[1]

Dieser Griff in den Himmel, diese Erinnerung an den göttlichen Ursprung, dieser Appell an die Ewigkeit ist die Kraft und der Lebensgrund der Menschenrechte. Wo diese glaubensmässige Begründung erlahmt oder undeutlich wird, da mögen die Menschenrechte noch eine Weile weiterexistieren, solange ein ethischer Konsensus besteht, aber sie haben nicht mehr die Kraft, gegen ihre Negation seitens einer totalitären Macht sich zur Wehr zu setzen. Die Menschenrechte haben genau so viel Kraft als der sie tragende Glaube. Es ist der Gewinn der neuesten politischen Entwicklungen, daß durch sie dieser religiöse Hinter­grund der Menschenrechte wieder deutlich zutage tritt.

Mit dieser Idee eines göttlichen Rechtes ist aber eine geistige Grösse wieder lebendig geworden, die in der abendländischen Geschichte jahrhundertelang eine gewaltige Rolle spielte, aber durch den Rechtspositivismus des letzten Jahrhunderts endgültig begraben schien, das sogenannte Naturrecht und die religiös begründete Rechts- und Staatsidee. Als am 26. August 1789 die französische Konstituante ihre Erklärung der Rechte des Men­schen und Bürgers proklamierte, hatte eine zwei Jahrtausende umfassende Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht. Die fran­zösische déclaration des droits de l’homme ist fast wörtlich den nordamerikanischen Bills of right, namentlich der Virginia Bill entnommen, die ihrerseits, wie Jellineck gezeigt hat, aus frü­heren Erklärungen stammen, die als Bestandteile einer geschrie­benen Verfassung ein völliges Novum in der Geschichte darstellen. Das älteste derartige Dokument, das ausdrücklich ein Menschen­recht verfassungsmässig formuliert, ist die Verfassung von Rhode Island vom Jahre 1636, die vom Begründer dieses Staates, vom independentistischen Calvinisten Roger Williams stammt. Zwei gewaltige Ströme europäischer Tradition sind in diesen Erklä­rungen der Menschenrechte zusammengeflossen, die antik-klas­sische Naturrechtslehre, die ihren Ursprung im platonischen Athen hat, und die christliche Naturrechtslehre der Bibel, die Lehre von den Schöpfungsordnungen Gottes. Beides sind religiöse Anschauungen. Die athenische, von Plato erstmalig bestimmt formulierte Lehre vom Unterschied zwischen dem, was von Natur gerecht sei und dem, was lediglich durch Menschensatzung als gerecht gelte, wurzelt in der gemeingriechischen Anschauung von dem das ganze Weltall durchwaltenden Logos oder Nus, von der Allvernunft, durch die die Welt zu einem Kosmos, zu einem in sich selbst sinnvollen, geordneten Gefüge wird. In dieser Allvernunft, in diesem göttlichen Logos ist auch die ursprüng­liche, die wahrhafte Gerechtigkeit, das φύσει δίκαιον, das von Natur Gerechte, begründet.

Nur das göttlich gesetzte Recht ist wahrhaft gerecht, denn es allein ist über allen Wandel der Zeiten und über alle Willkür der Menschen erhaben. Dieses göttliche, ewig-unwandelbare ist das ungeschriebene, das dem Menschen von Natur innewohnende Gesetz, an das man immer dann appelliert, wenn man vom menschlichen, positiven Gesetz her Unrecht erleidet; es ist das Gesetz, das den wahrhaft grossen Gesetzgeber — etwa einen Solon — in seiner Gesetzgebung als Urbild leitet. Es ist der schöpferische Grund und die kritische Norm aller staatlichen, positiven Gesetze. Diese Idee des jus naturale ist von der späteren Stoa weiter ausgebildet, von der Popularphilosophie der römi­schen Klassizität, namentlich von Cicero und Seneca, über­nommen worden und hat von hier aus den Weg in das Corpus juris civilis Justinians gefunden. Als Lehre von der lex naturae und vom jus naturale übt es in der mittelalterlichen und neuzeit­lichen Geistes- und Rechtsgeschichte einen schier unüberseh­baren Einfluss aus. Innerhalb des grossen Themas: Das Fort­wirken der klassischen Antike im modernen Europa kommt der Geschichte der lex naturae und des jus naturale eine bevorzugte Stellung zu.

Der christliche Theologe aber ist genötigt, auf diese Geschichte zu achten, weil sich mit die­sem einen Traditionsstrom schon früh ein zweiter verband, der seinem eigenen Bereich, dem der bibli­schen Lehre entsprang. Die platonisch-aristotelisch-stoische Idee des jus naturale hätte niemals innerhalb der mittelalterlichen und neuern Geschichte diese gewaltige Auswirkung bekommen, die wir kennen, wenn sie nicht eine merkwürdige geistige Ver­wandtschaft gehabt hätte mit einer genuin biblischen Anschau­ung, mit der Lehre von den Schöpfungsordnungen Gottes und der Gottebenbildlichkeit des Menschen, dank deren sie von der patristischen und mittelalterlichen Theologie und der von der Kirche aus entwickelten, kanonistischen Jurisprudenz hätte auf­genommen und weitergebildet werden können. Ernst Troeltsch ist in seinem monumentalen Werk „Die Soziallehren der christ­lichen Kirchen und Gruppen“ diesen Zusammenhängen zum erstenmal genauer nachgegangen, nachdem von selten der Juri­sten Gierke, von der der Philosophen Dilthey energisch auf sie hingewiesen hatten. Er zeigt, wie die christliche Theologie das stoische Naturrecht aufnimmt und einigermassen umbildet, und spricht darum — wie es seit ihm zur Gewohnheit geworden ist — vom stoisch-christlichen Naturrecht. Mit dieser bequemen Binde­strichformel wird aber ein gewaltiger Tatbestand eher zugedeckt als zur Geltung gebracht, nämlich die Tatsache, dass das Christen­tum von Hause aus eine eigene Naturrechtslehre besass, die es der Bibel entnahm, und dass diese christliche zwar mit der klassisch-antiken verwandt, aber durchaus nicht identisch ist, sondern von ihr in wesentlichen Punkten abweicht, ja im schrof­fen Gegensatz steht.

Die Patristik freilich und erst recht die mittelalterliche Scholastik und Kanonistik hat die Verwandtschaft viel stärker empfunden als das Unterscheidende. Sie hat darum die natur­rechtlichen Formeln Ciceros, Senecas und Ulpians unkritisch übernommen und gleichsam als adoptiertes Geistesgut dem kirchlichen Geistesschatz einverleibt. So existiert tatsächlich die Grösse, die Troeltsch das stoisch-christliche Naturrecht nennt, als geschichtliches Faktum. Aber nun geschieht in der Reforma­tionszeit auch auf diesem Gebiet das, was auf allen Gebieten das Grundgesetz jener grössten Geistesrevolution neuerer Zeit ist* Die reformatorische Besinnung auf die ursprüngliche biblische Botschaft löst die mittelalterliche Synthese von Antike und Christentum auf und nötigt zu einer schärferen Auseinander­setzung zwischen den beiden Hauptelementen der abendlän­dischen Tradition. Zum erstenmal bricht sich der echt christliche Staats- und Rechtsgedanke Bahn. Noch werden zwar die alten Begriffe, jus naturale, lex naturae, gebraucht; aber in diesen alten Schläuchen ist ein neuer Wein gefasst. Das ist der Grund, warum auf einmal dieses Naturrecht eine praktisch-politische Wirksamkeit gewinnt, die ihm im vorangegangenen Jahrtausend versagt geblieben war.

Am Beginn der neuzeitlichen Staatsentwicklung, die zum modernen Verfassungsstaat führt, steht jene spezifisch refor­mierte Lehre vom Widerstandsrecht gegen den tyrannischen Monarchen, die schon Zwingli im 42. Artikel seiner Disputations­reden des Jahres 1523 entwickelt hat. „So sy (die weltlichen Gewalten) untrülich und usser der Schnur Christi faren wurdind, mögend sy mit Got entsetzt werden …“ „Wirdt der künig oder herr von gemeiner hand erwelt und thut übel, so thu inn die gemein hand widerumb dennen; … hat inn eine kleine zal der fürsten erwelt, sol man den fürsten anzeigen, das man sin verergerlich leben nit me dulden mög, und heissen abstossen.“

Diese Anschauung, auch von Calvin geteilt, jedoch sehr vor­sichtig formuliert, ist dann von den sogenannten Monarchomachen, den kämpferischen calvinistischen Theologen und Poli­tikern der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts, nament­lich seit der Bartholomäusnacht zur Parole und zum staatspoli­tischen, ja zum staatsrechtlichen Prinzip erhoben worden und bildet, wie Wolzendorf gezeigt hat, recht eigentlich den Ausgangs­punkt der konstitutionellen Entwicklung der Neuzeit. Es ist schon öfters beachtet, aber noch nie erklärt worden, warum die reformierten Lehrer und Führer dieses Widerstandsrecht wohl naturrechtlich begründen, aber seiner Auswirkung nur im engsten Zusammenhang mit dem positiven Staatsrecht Raum gewähren. Schon die zitierte Stelle aus Zwinglis Schlussreden weist deutlich in dieser Rich­tung: Widerstand darf nur geleistet werden, sofern in den vorhandenen staatlichen Institutionen die Grundlagen dafür gegeben sind, sei es in einem Parlament oder in der Institu­tion der Ephoren oder in der Königswahl usw. Wir werden sofort sehen, dass dieser hochbedeutsame und neue Zug, diese Verbin­dung des Naturrechtlichen und Positivrechtlichen im spezifischen Charakter des reformatorischen Naturrechts begründet ist.

Hinter dem Grundsatz des Widerstandsrechtes steckt die Überzeugung von unveräusserlichen subjektiven Rechten des Volkes, der Menschen als Menschen, die durch keine staatliche Rechtsordnung ungültig gemacht werden können, auch wo sie de facto unterdrückt oder ausser Kraft gesetzt werden. In ihm liegt weiterhin die Anschauung, dass der Staat um des Volkes, um der Menschen willen da ist und nicht der Mensch um des ’ Staates willen. Die zunächst so unscheinbare und vom modernen • Staatsrecht aus höchst fragwürdige Lehre vom Widerstands­recht enthält nichts Geringeres als den Keim zum modernen Verfassungsstaat. Jedes staatliche Recht, ja jede staatliche Ordnung muss, um im sittlichen Sinne rechtmässig zu sein, die unveräusserlichen Grundrechte der Menschen anerkennen und zur Geltung bringen.

 Diese grundlegende Idee hat auf zwei genau verfolgbaren ; Bahnen zum modernen Staatsgedanken und seiner praktischen Verwirklichung geführt. Beide gehen von Genf, bzw. von Zürich aus. Die eine, namentlich von Gierke aufgewiesene Entwicklungslinie führt vom calvinischen Genf über die Monarchomachen zu deren bedeutendstem staatsrechtlichen Theoretiker, dem | calvinistischen Juristen Althusius und von ihm aus über Grotius bis zu Rousseau. Die andere, bereits von Ranke angedeutet, aber erst in neuester Zeit in ihren Anfängen genauer erforscht, geht von Genf aus über die Monarchomachen nach England, wo sie i sich in zwei weit auseinander Hegende Richtungen auszweigt. Die eine liegt vor in dem theologisch-staatsrechtlichen System des Halbcalvinisten Hooker, des bedeutendsten Lehrers John Lockes, der ja auch seinerseits der reformierten Theologie viel näher steht als man gewöhnlich weiss. Die andere ist die des puritanischen Independentismus, dem die Begründung der nord­amerikanischen Kolonialstaaten zu verdanken ist, wo wir, wie bereits erwähnt, den Ursprung der Erklärungen der Menschen­rechte zu suchen haben.

Das erste verfassungsmässig-staatsrechtlich fixierte allge­meine Menschenrecht ist das der Religionsfreiheit, das der refor­mierte Theologe und Pfarrer Roger Williams dem von ihm gegründeten Staate Rhode Island in die Verfassungsurkunde legte. So ist die Geschichte des reformierten Glaubens und der reformierten Theologie mit der Geschichte der Menschenrechte und dadurch mit der Geschichte des modernen Verfassungs­prinzips unmittelbar und vielfältig verbunden.

Wohl hat auch das klassische, stoische Naturrecht theoretisch die ungeschriebenen Rechte der Menschen ausgesprochen; aber es hat in eigener Kraft zu keinen direkten praktischen Konse­quenzen in der Gestaltung der Staatsordnung und des Staats­rechts geführt. Es war, auch in seiner mittelalterlichen Gestalt, zu abstrakt und eine zu sehr nur theoretische Grösse, um un­mittelbar in das politische Leben eingreifen zu können. Dazu bedurfte es anderer Kräfte, nämlich der personalen Leidenschaft des christlichen Glaubens und der realistischeren Lehren der Bibel.

Um so zwingender drängt sich darum die Aufgabe auf, die beiden Naturrechtslehren, deren Verwandtschaft und Verschie­denheit uns in ihrem Zusammenspiel und Auseinandergehen im Lauf der Jahrhunderte so rätselhaft entgegentritt, genauer kennen zu lernen. Gemeinsam ist beiden die Überzeugung von einem jus divinum, von einer lex aeterna, von einem über dem Menschenwillen stehenden Gottesgesetz. Gemeinsam ist ihnen ferner die Überzeugung, dass alle Ordnung unter Menschen nur durch Ausrichtung auf die göttliche, ewige Rechtsordnung recht, gerecht, menschenwürdig sein könne. Das ist das beiden An­schauungen gemeinsame religiöse Pathos. In der genaueren Begründung aber gehen die beiden Lehren weit auseinander, und diese Unterschiede sind, wie wir sehen werden, nicht nur von prinzipieller, sondern auch von grosser praktischer Bedeutung.

Der erste, der grundlegende Unterschied zwischen den beiden Naturrechtslehren, ist der zwischen dem pantheistischen Kosmosbegriff, aus dem die klassische, und dem biblischen Schöpfungs­gedanken, aus dem die christliche Lehre entspringt. Der stoische Begriff der lex naturae schillert zwischen Naturgegebenheit und Norm; das der lex naturae Entsprechende kann sowohl ein Instinkthaftes als ein Sittliches sein. Im christlichen Gedanken­zusammenhang aber wird aus dem Naturrecht die Schöpfungs­ordnung des persönlichen Gottes, der Wille dessen, der der unbe­dingte Herr der Welt ist. Wohl ist auch nach christlicher An­schauung das Gesetz des Schöpfergottes den Menschen ins Herz geschrieben und gehört darum das Wissen um das Gottesgesetz zum Wesen, zur Natur des Menschen, so dass keiner, der Men­schenantlitz trägt, ganz ohne dieses Wissen ist. Aus diesem Grunde haben auch die christlichen Lehrer, selbst die Reforma­toren, den Begriff Naturrecht sich zu eigen machen können. Aber dieses Gesetz bleibt, als das Gesetz des Schöpfers, dem menschlichen Ich als der Anruf des göttlichen Du gegenüber. Es gibt hier keine Möglichkeit der Verwechslung zwischen der gesetzgebenden und der normierten Instanz, zwischen dem Gotteswillen, der fordert und dem Menschengeist, der die For­derung vernimmt. Es ist wohl die Vernunft, vermöge deren der Mensch um diese Forderung weiss; aber damit wird die Vernunft, die das Gesetz empfängt, nicht zur Vernunft, die das Gesetz gibt. Darum ist auch das Pathos der christlichen Naturrechtslehre ein ganz anderes als das der antiken. Es geht hier nicht in erster Linie um die Wür­de des Menschen, sondern um die Autorität und Ehre Gottes. Nicht die Freiheit des Menschen ist das erste, sondern die Verantwortlichkeit. Dem entsprechend stehen auch nicht die Rechte des Menschen im Vordergrund, sondern das Recht Gottes an den Menschen, die Normen der objektiven Gerechtigkeit. In die objektive, vom Schöpfer gesetzte Gerech­tigkeitsordnung sind auch die Rechte — wie man heute sagt: die subjektiven Rechte — des Menschen eingebettet, als ein Element dieser Ordnung, aber nicht als ihr tragender Grund. Das jus divinum ist darum nicht primär Garant der Freiheit, Quelle jener unveräusserlichen Menschenrechte des einzelnen, sondern Grundlage der gesamten Sozialordnung, innerhalb deren auch die Freiheitsrechte des einzelnen ihren genau umschriebenen Platz haben.

Damit haben wir schon den zweiten, ebenso wichtigen Unterschied berührt. Die klassische Naturrechtslehre ist, namentlich in ihrer für die Folgezeit massgebenden stoischen Gestalt, im wesentlichen individualistisch und egalitär. Dem stoischen Den­ker ist das Wichtigste, dass er, der denkende, vernünftige Mensch an der göttlichen Weltvernunft Anteil hat. Dieser dem Menschen als Menschen eigene Adel göttlicher Geistesverwandtschaft ist sein Stolz, und dieser Stolz ist sein Lebensgefühl. Seine Vernunft ist ein Funke aus dem göttlichen Urfeuer, sein Wesen ist gött­licher Abkunft, deus in corpore humano hospitans, und diese göttliche Ratio ist am Menschsein das Wesentliche. Darum sind, auf das Wesentliche gesehen, alle Menschen gleich. Es ist eine Vernunft, sagt Mark Aurel, die unter alle vernünftige Wesen verteilt ist. Durch sie sind die Menschen gleich — das Ungleiche ist unwesentlich —, und durch dieses gleiche Wesen sind die Menschen von einander unabhängig. Jeder hat ja das Wesentliche in sich selbst, er bedarf darum des anderen Menschen nicht. „In deinem Innern ist die Quelle des Guten, und zwar eine stets aufsprudelnde, wenn du nur immer gräbst.“ So ist der einzelne Mensch auf sich selbst, sein eigenes Innere gewiesen, er ist autark, ein in sich selbst geschlossenes, sich selbst genügendes Ganzes.

Ganz anders die christliche Lehre. Freilich kennt auch sie den Gedanken der wesenhaften Gleichheit aller Menschen. Adam ist der Mensch schlechthin, jeder Mensch ist Adam oder Adamskind. Als dieser ist der Mensch — jeder Mensch — ge­schaffen nach dem Bilde Gottes und hat darin seine unvergleich­liche und unzerstörbare Würde und Bestimmung. Jeder Mensch ist Träger dieses Gottesbildes, auch wo es durch eigene Schuld verdeckt oder verstört ist. Diese ursprüngliche und für alle gleiche Bestimmung ist zugleich der Grund der Verantwortlich­keit der Menschen untereinander und der Unverletzlichkeit der menschlichen Person. Aus uralter Zeit stammt die alttestamentliche Rechtsanschauung: „Wer Menschenblut vergiesst, des Blut soll auch vergossen werden, denn zu seinem Bilde hat Gott den Menschen gemacht.“ Nicht nur die Tötung, sondern auch die Verunehrung des Menschen wird ausdrücklich mit der Berufung auf die Gottesebenbildlichkeit jedes Menschen verboten. Jeder Mensch, welcher Rasse, welchen Geschlechts, welcher sozialen Klasse, welcher Religion auch immer, hat Teil an dieser ursprüng­lichen, gleichen Schöpfungsbestimmung. In dieser Gotteseben­bildlichkeit sind denn auch jene Grundrechte des Menschen ver­wurzelt, die allem staatlichen Recht gegenüber primär sind, das Recht auf Freiheit, das Recht auf Eigentum, das Recht auf seines Namens Ehre.

Diese biblische Lehre von der imago dei ist zweifellos der Punkt nächster Nähe bei der klassischen Naturrechtsanschau­ung. Und doch ist sie von ihr durch einen Abgrund getrennt, durch denselben Abgrund, der die pantheistische Kosmos-Logos-Lehre vom Schöpfungsgedanken der Bibel trennt. Der Mensch ist auch als Träger der imago dei Geschöpf, Kreatur. Die gött­liche Bestimmung ist Geschenk, das Gottesbild ist Leihgabe, der Mensch bleibt auf das Empfangen angewiesen. Diese Kreatürlichkeit aber kommt nun vor allem darin zum Vorschein, dass die Menschen von Gott nicht nur gleich, sondern auch ungleich geschaffen sind. Als Mann und Weib schuf er sie, beide zu seinem Bilde, aber in dieser bedeutungsvollen Verschiedenheit des Geschlechts, der individuellen Artung überhaupt. Mit der Idee der gleichen Würde und Bestimmung ist also die der unglei­chen Artung und Funktion verbunden. Die Tragweite dieses Unterschiedes wird sofort klar, wenn wir seine Beziehung zum Problem der Gemeinschaft beachten.

Alle Menschen sind nach biblischer Lehre zum Bilde Gottes geschaffen, alle haben dieselbe ursprüngliche Bestimmung. Diese Bestimmung aber ist: die Gemeinschaft mit Gott und den Men­schen. Aus Liebe, in Liebe hat Gott den Menschen erschaffen, mit der Bestimmung, teilzuhaben an dieser seiner schenkenden Liebe. Das ist der eigentliche Gehalt der Imagolehre, dass die Menschen ihrem Schöpfer die Liebe, in der er sie ruft, ant­wortend zurückgeben. In der Liebe soll der Mensch gottähnlich werden. Die höchste Bestimmung des Menschen ist nicht, ein Vernunftwesen, ein denkender und ein im Denken sich selbst genügender, sondern ein liebender zu sein. Das Sein-in-Gemein­schaft, das in Liebe Verbundensein, ist der Sinn der mensch­lichen Existenz. Darum ist im Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe die ganze Bestimmung des Menschen, das ganze Gesetz ausgesagt.

Gerade darum aber, weil Gott den Menschen als Person-in- Gemeinschaft, nicht als autarkes Individuum will, hat er die einzelnen Menschen verschieden geschaffen. Nur wo Verschieden­heit ist, wird Gemeinschaft möglich, denn nur da ist Austausch, Ergänzung und gegenseitige Abhängigkeit möglich. Der Stoiker bedarf des anderen nicht, weil er ja selbst alles Wesentliche in sich hat. Der Mensch der Schöpfung aber bedarf des anderen, weil er nur durch den anderen seine Bestimmung erfüllen kann. Der Mann wird nur durch das Weib im vollen Sinne Mann und das Weib nur durch den Mann Weib. Die Verschiedenheit der Artung und Funktion ist die Voraussetzung konkreter Gemein­schaft, weil sie die Voraussetzung der Ergänzungsfähigkeit und Ergänzungsbedürftigkeit ist. Das Prinzip der Ungleichheit ist also im biblischen Schöpfungsgedanken ebenso wichtig wie das Prinzip der Gleichheit. Die Gleichheit der Personwürde und -Bestimmung ist verbunden mit der Ungleichheit der Artung und Funktion.

Darum ist in der christlichen Naturrechtslehre — im Unter­schied zur klassisch-rationalen — nicht der Individualismus, sondern die Idee der korporativen Gemeinschaft angelegt. Es ist, wie wir namentlich durch die hervorragenden Werke von Bohatec erfahren haben, besonders Calvin gewesen, der auf Grund der paulinischen Lehre vom Corpus Christi die Körper­schaftsidee zur soziologischen Grundlage genommen und aus­gebaut hat. Der einzelne ist vom Schöpfer von vornherein als Glied der Gemeinschaft gedacht und dazu bestimmt, an seinem Platz, entsprechend seiner besonderen Artung und Begabung, dem Ganzen zu dienen und darin seine Bestimmung, die die Liebe, also der Dienst an den anderen ist, zu erfüllen. Während das, was man gewöhnlich als Naturrechtslehre kennt, durch seinen Individualismus den schärfsten Gegensatz zu allem korpo­rativen und föderalistischen Denken bildet, ist in der christlichen Naturrechtslehre beides, die Gleichheit der Personwürde jedes einzelnen und die auf Ungleichheit beruhende korporative Zu­sammengehörigkeit mit einander verbunden. Das christliche Naturrecht ist darum von jenem Individualismus, der die Ge­meinschaften vom Individuum aus konstruiert, der Ehe und Staat als blosse Vertragsgebilde ansieht, ebenso weit entfernt wie vom totalitären Kollektivismus, der die Würde und Bestim­mung des einzelnen im Kollektivgebilde aufgehen lässt und keinen selbständigen Personwert anerkennt. Im christlichen Schöpfungsgedanken ist beides gleich tief verankert: die unver­letzliche Würde und Selbständigkeit der Person, die in Gottes Ruf begründet ist, und die ursprüngliche, nicht erst durch Ver­trag als Notprodukt entstehende Gemeinschaftlichkeit der Exi­stenz als konkrete Auswirkung der Bestimmung zur Liebe.

Zu diesen zwei bisher betrachteten Unterschieden zwischen der klassisch-antiken und der christlichen Naturrechtslehre kommt nun aber ein dritter von nicht geringerer Wirkungskraft hinzu. Was der Rechtspositivismus der historischen Schule dem rationalen Naturrecht mit gutem Grunde vorwirft, das ist sein ungeschichtlich-abstrakter Doktrinarismus. Den historisch ge­wordenen Rechten stellt es ein System abstrakter Rechtsnormen gegenüber, die in dieser zeitlosen Abstraktheit unfähig sind fruchtbar in die Rechts- und Staatsgestaltung einzugreifen. Die christliche Naturrechtslehre aber hat ein Element in sich auf­genommen, das diese zeitlose, ungeschichtliche, wirklichkeits­fremde Abstraktheit von vornherein ausschliesst, nämlich die Unterscheidung zwischen den göttlichen Ordnungen des Ur­sprungs und den göttlichen Ordnungen, die einer sündig ver­wirrten und verderbten Menschheit gelten.

Schlechterdings grundlegend für alles christliche Denken ist der Begriff der Sünde, d. h. die Kennzeichnung der menschlichen Wirklichkeit als einer aus der ursprünglichen Schöpfungsordnung herausgefallenen, einer Unordnung oder gestörten Ordnung. Der Mensch, der durch seine Freiheit von seiner göttlichen Bestim­mung abgewichen, der sich in seiner eigenen Entscheidung zur göttlichen Schöpfungsnorm in Widerspruch gesetzt hat, bedarf einer besonderen Art von Ordnungen, durch die die Auswirkungen des rebellischen Eigenwillens einigermassen in Schranken gehalten werden. Er hat Ordnungen und Institutionen nötig, durch die der Egoismus und die Willkür der einzelnen unter das Gesetz der Verantwortlichkeit und des Gemeinwohls gebeugt wird. Solcher Art ist vor allem die Ordnung des Staates. Der Staat ist nach christlicher Lehre nicht, wie nach dem rationalen Natur­recht, eine Einrichtung, durch die vor allem die Rechte und die Freiheiten des einzelnen geschützt werden, sondern eine Ord­nungsmacht, durch die wenigstens ein gewisses Mass äusserer Gerechtigkeit und sozialer Harmonie hergestellt wird. Die objek­tive Gerechtigkeit, nicht die subjektiven Rechte stehen bei dieser Betrachtung im Vordergrund; innerhalb dieser objektiven Gerech­tigkeitsordnung haben die subjektiven Menschenrechte ihren unverrückbaren Platz und ihre sittliche Bedeutung.

Wäre der Mensch das, was er nach dem Willen des Schöpfers sein sollte, wäre er der, der Gott über alles und den Nächsten wie sich selbst liebt, so bedürfte es keines zwingenden Rechtes und keiner staatlichen Autorität und Macht. Das Attribut des Schwertes als Zeichen staatlicher Hoheit weist eindeutig auf die Realität des Bösen, des gemeinschaftswidrigen und verant­wortungslosen Eigenwillens hin, dem es seine sittliche Notwen­digkeit verdankt, nach dem Wort: Folgst du nicht willig, so brauch ich Gewalt. Um des Bösen willen allein muss der Zwang des Staates sein, zum Schutz des schöpfungsmässigen Lebens­sinnes. Darin erkennt der Apostel Paulus, auf dessen Ausfüh­rungen im 13. Kapitel des Römerbriefes alle christlichen Staats­lehrer sich stützen, den göttlichen Grund dieser an sich so wenig göttlich aussehenden Institution. Die staatliche Macht, die um des Rechtes willen das Schwert führt, ist in einer sündig geworde­nen Menschheit die notwendige Voraussetzung menschlich-gemeinschaftlicher Existenz. Je klarer und tiefer dieser negative Faktor der menschlichen Wirklichkeit, das Böse, gesehen, je realistischer er bei der Würdigung der menschlichen Situation in Anschlag gebracht wird, desto kräftiger wird auch die sittliche Notwendigkeit einer dem Bösen wirksam widerstehenden Ord­nungsmacht hervorgehoben.

Damit aber hat die Grösse ,,Schöpfungsordnung“ sozusagen einen negativen Koeffizienten bekommen, in dem das Negativum des Bösen im Gegenbild erscheint. Die Schöpfungsordnungen Gottes sind dadurch auf die nicht mehr schöpfungsmässige, auf die sündige Wirklichkeit bezogen. Das weisse Licht des Schöpfungsgesetzes erreicht uns jetzt nur noch in der viel­farbigen Brechung durch das Prisma der sündigen Menschenwirklichkeit und ist damit ein geschichtlich Mannigfaltiges und Variables geworden. Wir stossen hier auf das Faktum, das Ernst Troeltsch im Begriff des relativen Naturrechtes zu fassen suchte. Während er aber glaubte, auch damit eine Idee der klassisch-antiken Naturrechtslehre gekennzeichnet zu haben, stellen wir fest, dass nicht der stoische Monismus, sondern der christliche Dualismus von Schöpfung und Sünde der Ursprung dieser hochbedeutsamen Grösse ist. Sie ist, mathematisch ausgedrückt, kovariant mit dem Gewicht, das dem Bösen, der Sünde als Widerspruch zum Ursprung, zur Schöpfungsordnung gegeben wird. Sie ist darum nicht in der klassischen, sondern in der christlichen Gedankenwelt beheimatet, mag auch die Antike in ihrer Lehre vom goldenen Zeitalter dazu eine entfernte Parallele gehabt haben. Und wiederum: es ist nicht so sehr die mittel­alterliche als die reformatorische Theologie, die, entsprechend ihrer sonstigen Einschätzung des Bösen, diesen Gesichtspunkt in den Vordergrund rückte. Während im Mittelalter das posi­tive Recht und das jus naturale unvermittelt nebeneinander stehen, sehen die Reformatoren die Bedeutung des Naturrechts vor allem da, wo es ihnen im positiven Recht, als dessen Gerech­tigkeitsgehalt entgegentritt.

Das wird nun vor allem deutlich in jener bereits erwähnten Lehre, die einerseits für die Geschichte der Menschenrechte, anderseits für die Entwicklung des modernen, konstitutionellen Staates so ausserordentlich wichtig wurde, in der Lehre vom Widerstandsrecht. Es ergibt sich aus dem bisher Gesagten, dass den Reformatoren nicht die subjektiven Rechte des einzelnen, sondern die objektive Gerechtigkeit des Staates und der Rechts­institutionen das erste Anliegen war. Darum haben sie, im Gegensatz zur mittelalterlich-kurialen Tendenz, den göttlichen Ursprung des Staates kräftig und eindeutig hervorgehoben. Er ist die von Gott eingesetzte Ordnungsmacht und das Instrument, durch das der Schöpfer auch in einer sündig verworrenen Welt seinem Schöpferwillen praktische Geltung verschafft. Darum ist ihnen allen nicht, wie späterhin einem John Locke, die Be­grenzung der staatlichen Macht und Autorität das Wichtigste, sondern deren Kraft und Geltung. Niemals wäre es ihnen ein­gefallen, das sittliche Recht des Staates aus den Freiheitsrechten des einzelnen durch eine Theorie vom Gesellschaftsvertrag abzu­leiten, so nahe ihnen auch die Idee des Herrschaftsvertrags als Ausdruck der sittlichen Verantwortung des Staates lag. Der Staat ist nicht nur um der Freiheit der einzelnen willen da, sondern um der objektiven Gerechtigkeit, und darum ebenso um der Gemeinschaft als um des einzelnen willen. Um seine Ordnungs­funktion auszuüben, bedarf er darum wirklicher, wirksamer Macht, die nicht durch Geltendmachung von Freiheitsrechten allzu sehr beschränkt werden darf. Der Staat ist, auch wenn er Republik und Demokratie ist, von Gottes Gnaden, nicht von Volkes Gnaden. Gott, nicht das Volk ist der Souverän, auch in einer Landsgemeindedemokratie, und darum ist die Regierung letztlich nicht dem Volk, sondern Gott verantwortlich. Aber zu dieser Verantwortlichkeit gehört nun allerdings auch die An­erkennung und Wahrung der gottgegebenen Freiheitsrechte der einzelnen und der sozialen Gruppen, über die der Staat sich niemals hinwegsetzen darf. Diese Menschenrechte sind ursprünglich; auch sie sind von Gottes Gnaden, nicht von Staates Gnaden. Wo der Staat sie antastet oder gar ausser Kraft setzt, da wird er selbst aus einer Macht der Ordnung zu einer rebellischen Tyrannei die zur Ordnung zu rufen und wenn nötig zu zwingen ist.

Die Lehre vom Widerstandsrecht ist dem Mittelalter nicht fremd, im Gegenteil: hier wird der Satz aufgestellt, dass der Monarch, der das jus divinum verletze, seinen Rechtstitel ver­liere, dass man ihm nicht zu gehorchen habe. Aber in dieser Abstraktheit war die Lehre vom Widerstandsrecht viel zu anarchiegefährlich, als dass sie sich hätte praktisch auswirken können. Hier wird das unvermittelte Nebeneinander von Natur­recht und positivem Recht als Unmöglichkeit praktischer Zu­sammenarbeit sichtbar. Es fehlt jener biblisch-geschichtliche Realismus, den erst die Reformation mit ihrem Geltendmachen des relativen Naturrechtes, d. h. vermöge der Ineinanderschau von Naturrecht und positivem Recht gewann. Die Reformatoren kennen darum kein Widerstandsrecht des einzelnen, abgesehen vom passiven Widerstand in Glaubensfragen, sondern nur den Widerstand durch, verfassungsmässige Instanzen, der irgendwie schon im positiven Staatsrecht als Möglichkeit angelegt ist. Gerade durch diese strenge Begrenzung des Widerstandsrechtes wurde die reformatorische Lehre zum Ausgangspunkt für die Entwicklung des Verfassungsstaates. Die Reformatoren alle sind nicht Revolutionäre, sondern auch im Staate Reformatoren, weil sie an die Stelle des abstrakt doktrinären Naturrechts der antiken Tradition die christliche Naturrechtslehre setzten, die von jener sich durch ihren Gemeinschaftsgedanken und durch ihren ge­schichtlichen Realismus unterschied. Die Reformatoren kennen das Naturrecht nicht als zeitloses, abstraktes System, sondern nur als kritisches und regulatives Prinzip der positiven Rechts­ordnung.

Es ist das Geheimnis der christlichen Schöpfungslehre, dass in ihr die Würde der Person und die Ursprünglichkeit der Ge­meinschaft, die Freiheit des Einzelnen und die Autorität der Ordnungsmächte und Institutionen, die Rechte des Einzelnen gegenüber dem Staat und die Rechte des Staates gegenüber dem Einzelnen gleichermassen begründet sind. Darum kann es auf christlichen Boden, d. h. überall da, wo christlicher Glaube in einem Staat oder Volk lebendig ist, weder einen radikalen Indi­vidualismus geben, der zur anarchischen Auflösung der Gemein­schaftsordnungen führt, noch einen radikalen Kollektivismus, der die Selbständigkeit der Person in den Ansprüchen eines totalen Staates untergehen lässt. Wer im Sinne der Bibel an die göttliche Menschenschöpfung glaubt, kann weder in der indivi­duellen Freiheit noch in irgend einer Kollektivgrösse die mensch­liche Bestimmung erfüllt sehen. Umgekehrt muss sich darum der christliche Glaube immer als das notwendige Korrektiv jeder, sei es individualistisch-anarchisch oder kollektivistisch-autoritär, entarteten Gesellschaftsordnung erweisen.

In der gegenwärtigen Stunde kommt die Bedrohung der menschlichen Bestimmung unzweideutig vom autoritären Kollek­tivismus her, für den es eine unverletzliche, im Gotteswillen begründete Würde der menschlichen Person nicht gibt. Es ist darum kein Zufall, sondern sachliche Notwendigkeit, dass in dieser Stunde die christliche Gemeinde in der ganzen Welt wieder einmal in den akuten status confessionis eingetreten, dass sie als bekennende Kirche aufgerufen ist, und zwar diesmal als Anwalt der gottgeschaffenen Menschenrechte. Sie ist der Welt nicht nur das Evangelium von der rettenden Gnade schuldig — in deren Verkündigung sie ihr eigenes, ihr ewiges Leben hat —, sondern auch die Lehre von den Ordnungen Gottes, in der die Erkenntnis der rechten sozialen und staatlichen Gerechtigkeit und mit ihr sowohl die Erkenntnis der Menschenpflichten als der Menschen­rechte enthalten ist. In der Ausformung dieser christlichen Soziallehre wird die christliche, wird namentlich auch die refor­mierte Theologie immer wieder die Erfahrung von der Not­wendigkeit der Zusammenarbeit zwischen weltlicher Wissen­schaft und biblischer Glaubenserkenntnis machen, von der das Vorhandensein einer theologischen Fakultät im grossen Bau der universitas scientiarum ein nicht immer verstandenes, aber sachlich bedeutsames Zeugnis ablegt.

Festrede des Rektors Prof. Dr. Emil Brunner gehalten an der 109. Stiftungsfeier der Universität Zürich am 29. April 1942.

Quelle: Universität Zürich, Jahresbericht 1941/42, Zürich 1942, S. 3-23.


[1] [Friedrich Schiller, Wilhelm Tell, 2. Aufzug, 2. Szene – Rede des Werner Stauffacher in der Rütliszene.]

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