Vorwort zur Neuauflage von Trouble and Promise in the Struggle of the Church in Germany (1938)
Von Karl Barth
Ich bin gebeten worden, dieser weiten Ausgabe meines im März dieses Jahres in Oxford [Lady Margaret Hall, 4. März 1938] und Birmingham gehaltenen Vortrags eine kurze Auseinandersetzung mit den Behauptungen der englischen Gegner der deutschen Bekenntniskirche, insbesondere mit denen des Bischofs von Gloucester [Arthur Headlam, 1862-1947], voranzuschicken.
Wenn ich den Bischof von Gloucester, von dem ich einige Zeitungsartikel gelesen habe, recht verstehe, ist seine Auffassung diese: Es gibt keine ernstlich so zu nennende Unterdrückung und Verfolgung der Kirche in Deutschland. Die Kirche kann dort vielmehr auch heute in aller Ruhe ihr Werk tun, wenn sie sich nur – und dies ist der Fehler der Bekennenden Kirche und insbesondere Martin Niemöllers – keiner politischen Auflehnung schuldig macht und damit allerlei Unannehmlichkeiten seitens des Staates und der Partei mutwillig auf sich zieht. Die britischen Christen, die mit Deutschland im Frieden zu leben wünschen, haben darum keinen Anlass, sich für diese Bekennende Kirche besonders einzusetzen, umso weniger, da die Zahl ihrer Anhänger immer kleiner wird, und umso weniger, da die Lehre der Bekennenden Kirche über Natur und Gnade, Staat und Kirche usw. mit den in Großbritannien üblichen Anschauungen wenig Gemeinsames haben.
Dazu ist Folgendes zu sagen: Es gibt einen großen Teil der deutschen Kirchen, Pfarrer, Gemeinden – und mit Leuten, die diesem großen Teil angehören, scheint der Bischof von Gloucester besonders gut bekannt und befreundet zu sein; von ihnen hat er sich unterrichten lassen! –, die haben zu der nationalsozialistischen Lehre von dem den Leib und die Seele jedes Menschen umfassenden Totalitätsanspruch des Hitlerstaates, zu den hundertfältig eingeführten Einschränkungen der kirchlichen Freiheit (Selbstverwaltung, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, Freiheit der Jugendarbeit und des theologischen Unterrichts usw.) entweder geschwiegen oder aber mehr oder weniger ausgesprochen Ja gesagt. Dass dieser Teil der deutschen Kirche – zu dem bekanntlich auch die methodistischen und baptistischen Freikirchen gehören – sich der Duldung oder sogar des Beifalls der Behörden und der Parteiorgane erfreuen darf und von Verfolgung und dergleichen nichts weiß, das ist allerdings wahr. Und auch das ist wahr, dass die Bekennende Kirche in Deutschland allgemein unter dem Verdacht und unter der offenen Anklage steht, dass sie „politische Auflehnung“ betreibe, und dass dieser Vorwurf insofern berechtigt ist, als im totalitären Staate jede echte Auslegung des ersten Gebotes, jede Geltendmachung der Freiheit und Souveränität des Evangeliums, jede Betätigung eines wirklichen Eigenlebens der Kirche notwendig den Charakter „politischer Auflehnung“ bekommen muss. Das und nur das ist es aber, was der Bekennenden Kirche zum Vorwurf gemacht werden kann. Deswegen und nur deswegen befindet sich Martin Niemöller im Konzentrationslager. Es muss den englischen Christen überlassen bleiben, ihrerseits darüber zu entscheiden, ob diese „politische Auflehnung“ legitim oder illegitim, nötig oder unnötig ist, ob die Bekennende Kirche in Deutschland nach ihrer Meinung zu der nationalsozialistischen Theologie und Kirchenpolitik besser ebenfalls schweigen oder Ja sagen sollte (wie die Neutralen und die Deutschen Christen!) oder ob es nicht auch nach ihrer Meinung recht und geboten ist, hier Nein zu sagen und für dieses Nein zu kämpfen und zu leiden. Ist dies Letztere die Meinung auch der britischen Christen, dann sehe ich nicht ein, wie der Bischof von Gloucester recht haben sollte mit seiner Ansicht, dass die Sache der Bekennenden Kirche in Deutschland sie nichts angehe. Sie werden dann in der Sache dieser Bekennenden Kirche vielmehr ihre eigene Sache erkennen müssen. Und es wird sie dann nicht irre machen, dass es zahlenmäßig in der Tat der sehr viel kleinere Teil der deutschen Kirche ist, der diese gute Sache vertritt, und dass es an Abtrünnigen und Überläufern natürlich nicht gefehlt hat und auch in Zukunft nicht fehlen wird. Es ist nicht so einfach und leichthin, Deutschland zu dieser Sache zu stehen, und es wird immer eine Versuchung sein, sich auf die Seite der stärkeren Bataillone zu schlagen. Aber wann und wo wäre die bessere Sache zugleich die Sache der Mehrheit gewesen? Die britischen Christen werden sicher christlich genug sein, in einer christlichen Angelegenheit nicht die Frage nach irgendwelchen Zahlen, sondern die Frage nach dem Geist, nach der Wahrheit, nach dem Recht zu stellen. Wenn sie das tun, dann werden sie sich aber sicher nicht auf die Seite derer schlagen, die nichts Besseres zu tun wissen, als zu dem Vordringen des neuen Islam zu schweigen oder gar Ja zu sagen.
Darf ich noch ein Wort hinzufügen? Der Kampf und die Not der Bekennenden Kirche in Deutschland kann heute vielen in Großbritannien verständlicher sein als noch am Anfang dieses Jahres, nachdem die Welt durch das deutsche Vorgehen gegen Österreich und gegen die Tschechoslowakei darüber belehrt sein könnte, mit welchen Methoden der Nationalsozialismus sich nach außen und nach innen durchzusetzen und zu behaupten gedenkt. Traut man es dem Urheber des Ultimatums von Godesberg zu, dass er keine lebendige christliche Kirche in seinem Machtbereich auch nur dulden könne? Sollte es nicht Jedermann einsichtig sein, dass die Mentalität, die in München einen so glänzenden Sieg über die gutmütigen Vertreter der europäischen Demokratien davongetragen hat, mit innerster Notwendigkeit eine antichristliche Mentalität sein muss? Ebenso wie in diesem Sommer und Herbst gegen die Tschechoslowakei und doch auch gegen die Westmächte ist der Nationalsozialismus seit 1933 nicht ohne Erfolg, aber zum Glück nicht ganz ohne Widerstand, in Deutschland selbst gegen Christentum und Kirche vorgegangen. Und eben dieser rücksichtslos gewonnenen und gebrauchten Macht haben die dünnen Reihen der Bekennenden Kirche in Deutschland ihr Nein – oder vielmehr das große göttliche Ja des ersten Gebotes – entgegenstellen müssen. Versteht man jetzt vielleicht auch in Großbritannien, dass dieser Kampf aufgenommen werden musste und wie schwer er ist, wie er von Monat zu Monat schwerer wird?
Und nun möchte ich gleich noch etwas fragen dürfen. Der Jubel in London über die in München zustande gekommene Erhaltung des Weltfriedens soll sehr groß gewesen sein. So war es auch in Basel und Zürich, so war es wohl in der ganzen Welt. Was zur Erklärung und Entschuldigung dieses Jubels gesagt werden kann, ist so selbstverständlich, dass ich es nicht zu wiederholen brauche. Und was unter politischen Gesichtspunkten dagegen zu erinnern ist, ist von den Herren Duff-Cooper, Eden, Major Attlee und Winston Churchill im britischen Parlament sachkundig und scharf gesagt worden. Ich möchte mir aber die Frage erlauben: Ob es den Herren Chamberlain und Runciman, die diesen Frieden gemacht, und ob es den Unzähligen – auch den unzähligen Christen – dort und überall, die ihn bejubelt haben, klar ist, dass mit diesem Frieden von München und insbesondere mit der ihm folgenden deutsch-englischen Freundschaftserklärung nicht nur ein Schlag gegen die Tschechoslowakei und gegen den Völkerbund, nicht nur ein Schlag gegen die Sache der Demokratie, des Rechts, der Freiheit und der Ordnung, sondern vor allem auch ein Schlag gegen die in Deutschland mühsam um ihre Existenz ringende Christenheit und Kirche geführt worden ist: weil der außenpolitische Triumph, den man Adolf Hitler auf dem Wege von Berchtesgaden über Godesberg nach München so leicht gemacht hat, notwendig dazu dienen wird, ihm die Hände nach innen, und das bedeutet nicht zuletzt auch: gegen die Kirche (auch gegen die Juden, gegen alle Reste eines europäischen Deutschland!) nun erst recht frei zu machen? Ist der deutsche Kirchenkampf für das britische Volk, für die britische Regierung, für die britischen Kirchen so sehr eine „innere Angelegenheit“ Deutschlands, dass es Großbritannien nichts ausmacht, nicht nur vor dem Regime, das mit so viel anderer Lüge und Brutalität auch diesen Kampf auf dem Gewissen hat, den Rückzug anzutreten, sondern ihm nun auch noch Freundschaft anzubieten und diese Freundschaft als den ersten Schritt einer neuen und besseren Ordnung der europäischen Dinge zu proklamieren? Ist es allzu dilettantisch geredet, wenn ich frage: War es denn ganz ausgeschlossen, dass Neville Chamberlain in diesen letzten Wochen vielleicht einen Augenblick auch an den gegen jedes Recht – oder vielmehr: allein mit dem Recht des antichristlichen Totalstaates – gefangengehaltenen Martin Niemöller gedacht haben könnte? Eine andere Frage aber darf ich als Theologe bestimmt stellen: War es denn auch für den Erzbischof von Canterbury selbstverständlich, diese Politik der Vergesslichkeit – der Vergesslichkeit nicht nur gegenüber den humanen Idealen, sondern auch gegenüber der einen allgemeinen heiligen Kirche – im Oberhaus gutzuheißen und zu unterstützen? Was heißt „Freundschaft“ mit dem Deutschland Adolf Hitlers? Soll es auch das heißen, dass in Zukunft ganz Großbritannien sich hinsichtlich des deutschen Kirchenkampfes auf den Standpunkt des Bischofs von Gloucester und seiner deutschen Gewährsmänner und Freunde stellen und also schweigen und zustimmen wird, wenn die Unterdrückung des Wortes Gottes in Deutschland in immer raffinierteren Formen weiter und weiter geht? Man sollte sich nicht täuschen: Freundschaft mit dem Deutschland Adolf Hitlers würde wohl notwendig auch das heißen müssen! Was soll es dann aber bedeuten, wenn auch der Erzbischof von Canterbury für eine Politik eintritt, die in dieser Freundschaft gipfelt?
Meine britischen Leser mögen es mir verzeihen, dass ich als Ausländer solche Fragen zu stellen wage. Sie kommen, wie meine Freunde wissen, aus einer tiefen Bewunderung gegenüber ihrem Land und Volk, gegenüber seiner Tradition und Geschichte, aus einer tiefen Zuversicht zu seinen providentiellen Möglichkeiten, aus einer aufrichtig gehegten Erwartung und Hoffnung, die ich auf das britische Volk, seine Regierung und seine Kirchen setze. Ich rechne es mir zur Ehre an, Doktor von drei britischen Universitäten zu sein, und denke mit Freude daran, wie sehr ich mich jedes Mal, wenn ich dorthin kam, zuhause gefühlt habe. Aber bin ich schon britischer Doktor, dann muss ich dort auch etwas sagen dürfen, und ich möchte diesmal – und dies soll das Ende dieses Vorworts sein – dies sagen: Es ist höchste Zeit, zu erwachen, sich die Augen zu reiben und aus den Träumen, die Einige oder Viele dort zu träumen scheinen, in die Wirklichkeit zurückzukehren. Hannibal ante portas!
Basel, den 10. Oktober 1938.