Karl Barth, Die Menschlichkeit Jesu (1956): „Die Menschlichkeit Jesu ist in ihrer ganzen Überlebensgroße keine gespenstische, sondern echte, wirk­liche Menschlichkeit. Wie könnte er für uns eintreten, wenn es zwischen ihm und uns, uns und ihm nicht bei aller Un­gleichheit auch Gleichheit gäbe, wenn er nicht recht und natürlich unser Bruder wäre? Die Ungleichheit zwischen ihm und uns besteht klar darin, daß wir einander keine Heilande, keine Erretter sein, daß wir nicht füreinander einstehen können. Die Gleichheit zwischen uns und ihm besteht aber eben in der von Gott gut geschaffenen mensch­lichen Natur, die bei uns zwar mannigfach und schwer ver­deckt, bei uns verborgen bei ihm offenbar, die aber in ihm und in uns dieselbe ist.“

Die Menschlichkeit Jesu

Von Karl Barth

Im Neuen Testament kommt an einer Reihe von Stellen ein merkwürdiger Ausdruck vor, in der Lutherbibel übersetzt mit den Worten: »Es jammerte ihn«. Der Ausdruck ist viel stärker, als diese Übersetzung verraten läßt. Er bezeichnet nämlich die einen Menschen in seinem Innersten, im Grund seines Seins, in seinem tiefsten Selbst aufwühlende, erschütternde, beherrschende Bewegung seiner Teilnahme an der bekümmernden Situation, an der Daseinsnot eines anderen. Wobei doch auch das Wort »Teilnahme« oder »Mitleid« noch zu wenig sagt, weil man dabei immer noch an ein bloßes Gefühl denken könnte, während es um eine Bewegung geht, in der sich dieser ganze Mensch befindet, in der er also nicht etwa in irgendwelchen Empfindungen stecken bleiben kann, sondern sofort zu großzügigem und energischem Tun zugunsten jenes anderen schreiten wird. So könnte das Wort »Barmherzigkeit« der Sache am nächsten kommen, wenn man es recht verstehen und also an die Bewegung denken will, in der der barmherzige Samariter im Gleichnis am Dasein des ausgeplündert und verwundet am Straßenrand liegenden Mannes teilgenommen, aber eben sofort sehr hilfreich tätig teilgenommen hat. Solche Barmherzigkeit wird in einem anderen Gleichnis einem König zugeschrieben, der es mit einem hoffnungslos insolventen Schuldner zu tun hat, mit der Folge, daß er ihn freigibt und ihm auch die Schuld erläßt. Wieder solche Barmherzig­keit bewegt auch jenen Vater angesichts des aus dem Elend zu ihm zurückkehrenden verlorenen Sohnes – er fällt ihm um den Hals und küßt ihn, läßt ihn herrlich bekleiden und ihm ein Fest bereiten, das des verdientesten Jubilars würdig gewesen wäre! Immer derselbe Ausdruck wird dann aber vor allem auf Jesus selbst angewendet: Als er den Aus­sätzigen sah und die zwei Blinden in Jericho, den toten Jüngling in Nain und seine Mutter, das hungernde Volk in der Wüste und dann die ihn umdrängenden Massen in Galiläa, von denen es heißt: »Sie waren abgequält und er­schöpft, wie Schafe, die keinen Hirten haben«. Der Ausdruck besagt: Die Not und das Leid, die Verkehrtheit und Rat­losigkeit, die Verlassenheit und Bedrohtheit dieser Menschen, dieses Volkes, gingen ihm, Jesus, nicht nur nahe, nicht nur zu Herzen, sondern in sein Herz, in ihn selbst hinein. Er nahm es ihnen ab und auf sich, ließ es sein eigenes Elend sein, trug und ertrug es an ihrer Stelle. Und eben indem er das tat, wurde und war er ihnen – weit entfernt davon, ihrem Tun und Geschick in bloßer Sympathie zuzusehen, auch mehr als Prediger, Seelsorger, Tröster und Mahner, wurde und war er ihnen Helfer und Erretter: Schöpfer einer neuen Situation, eines neuen Daseins, und das alles, indem er sich ihrer erbarmte, das heißt, sich selbst ihrer an­nahm, sich an ihre Stelle setzte, um an ihrer Stelle ihr Bestes zu tun. »Erbarmen« ist in der Sprache des Neuen Testa­ments das Verhalten, in welchem einer für den anderen, der dessen bedarf, eintritt, für ihn da ist und handelt. Der Sama­riter »tat das Erbarmen« heißt es. Der Jesus, der den neutestamentlichen Schriftstellern das Bild eingeprägt hat, das in ihren Schriften noch heute zu uns redet, war der Mensch, der in diesem Sinn »das Erbarmen tat«. Das ist, in einem Wort gesagt, seine Menschlichkeit.

Sie ist also darin Menschlichkeit, daß dieser Mensch sich selbst und zwar sich selbst ganz und gar für die anderen Menschen einsetzt und hergibt, seine Lebenstat ganz im Blick auf sie, an ihrer Stelle und zu ihren Gunsten tut. Sie ist Humanität in der hohen Freiheit dieser Zuwendung, die­ser Schenkung, dieses totalen Dienstes. Das allzu tugendhaft schmeckende und überdies allzu negative Wort »Selbstlosig­keit« wäre hier unangebracht: Gerade in der Verrichtung dieses totalen Dienstes ist Jesus durchaus er selbst. Er ist aber nicht anders er selbst als so: in der Tat eines Erbarmens. Er sieht des Menschen Würde und Recht und Heil, er sieht den Menschen selbst bedroht und zwar tödlich bedroht. Er kann, darf und will sich damit nicht abfinden. Er kennt aber auch, und das aus nächster Nähe, den Preis, der für des Menschen Bewahrung, seine Errettung, zu bezahlen ist. Und er hält mit der Bezahlung dieses Preises nicht zurück. Er selbst ist der Preis. Er selbst darf, muß, will für den Menschen einstehen. Und eben das tut er. Jesus ist der Mensch, der für die Menschen nicht nur dies und das denkt, sagt und tut, der vielmehr für sie da ist, der sich für sie einsetzt, sich für sie hingibt, an ihre Stelle tritt, ganz und gar an die Stelle der tödlich bedrohten Menschen, um ihnen eben dort, wo sie sind, Beistand zu sein. Das ist seine Humanität. Sie ist die überlebensgroße Humanität des Heilands, das heißt des Stellvertreters, Hauptes und Erretters aller Menschen. So hat sich sein Bild nicht allen, aber vielen von denen, die mit ihm lebten, die ihn hörten, die ihn handeln und zuletzt leiden und sterben sahen, eingeprägt. Als dieser Mensch: der Mensch des totalen Dienstes, ist er uns im Neuen Testament vor Augen gestellt.

Es gehört also zu seiner Menschlichkeit, daß in ihrem Spiegel alle Menschen als solche sichtbar werden, die seines totalen Dienstes, die dessen bedürftig sind, daß zu ihrer Errettung ein Anderer, dieser Andre, für sie eintritt. Als insolvente Schuldner, als verlorene Söhne und Töchter stehen sie ihm gegenüber und so als unter die Räuber Gefallene, als Aussätzige und Blinde, ja schon Gestorbene, als hungerndes Volk in der Wüste, als eine einzige Masse von abgequälten und erschöpften Schafen, die keinen Hirten haben. Alle Menschen? Auch Plato? Auch Goethe? Auch die großen und kleinen Heiligen, Denker, Wohltäter und Führer der Christenheit? Wenn es mit der Menschlichkeit Jesu seine Richtigkeit hat: ja, alle Menschen. Ist es nicht ein denkwürdiger Zufall, der eben kein Zufall ist, daß die letzten Noten, die Mozart, schon als Sterbender, in letzter Anstrengung gesetzt hat, auf die Worte aus dem Dies irae gingen: iudicandus homo reus, – »der Mensch, der als Angeklagter seinem Gericht entgegengeht?« Man bedenke: jenseits von Figaro, Don Juan und Zauberflöte – iudicandus homo reus! Mag man darüber hinweggehen, sich dagegen auflehnen oder sich darin durchschaut und verstanden fühlen – dies ist der Mensch, wie er im Spiegel der Menschlichkeit Jesu sichtbar wird. Denn darin bestand seine Menschlichkeit, daß er an die Stelle dieses Menschen trat, sein großes Elend und seine noch größere Bedrohtheit seine eigene sein ließ, seinem unentrinnbaren Gericht sich selber unterzog und damit diesen Menschen der tödlichen Gefährdung, in der er stand und steht, ein für allemal entrissen hat. Ist nun in und mit Jesu Menschlichkeit etwas über uns selbst gesagt, dann – ob wir es vernehmen oder nicht – zunächst eben dies, daß es mit unserem Dasein so bestellt ist.

Dies – aber nun doch nur zunächst, nur in allerdings un­vermeidlichem Rückblick auf das, was der Mensch ohne den Menschen Jesus wäre und ist — gerade dies! Denn nun wird ja jener insolvente Schuldner freigegeben, seiner ganzen Schuld entlastet. Nun wird ja dem verlorenen Sohn jenes erstaunliche Fest bereitet. Nun verbindet, verpflegt und versorgt ja der barmherzige Samariter den unter die Räuber Gefallenen. Nun wird ja der Aussätzige rein, der Jüngling von Nain auferweckt. Nun werden ja die Blinden sehend, die Hungernden in der Wüste gespeist. Nun haben ja jene verlorenen Massen ihren Hirten schon gefunden. Nun ist der Mensch Jesus offenbar nicht umsonst an die Stelle aller anderen Menschen getreten, um an ihrer Stelle der eine große Mann der Schmerzen zu sein. Nun hat er eben als solcher in seiner Person für sie alle ein neues, ein von der alten Überheblichkeit, Faulheit und Lüge und für einen echten Gehorsam freies und in seiner ganzen vergänglichen und vergehenden Gestalt schon siegreiches, schon heiles, ein mitten in der Zeit schon ewiges Leben angefangen. Man verstehe wohl: nicht sich selbst zugute und zu Ehren, und also nicht als ein den anderen vorgehaltenes hohes Ideal und Gesetz, sondern gerade das im Sinn jener freien Zuwendung und Schenkung. Es geht in der Menschlichkeit Jesu um den in Vertretung aller anderen Menschen, um den wirklich für sie und mit ihnen gemachten und so wirklich um ihren eigenen neuen Anfang, wirklich um die Auf­richtung ihrer Würde und ihres Rechtes, um die Beschaf­fung ihres Heils, und so ist das, was in und mit der Mensch­lichkeit Jesu gesagt ist, wirklich gute Botschaft, die der iudicandus homo reus in allen seinen Elendsgestalten freudig und dankbar hören und annehmen darf. Denn nicht nur als der dem Gericht Entgegengehende, sondern auch als der frei­gesprochen aus dem Gericht Hervorgehende darf und soll er im Spiegel der Menschlichkeit Jesu sich selbst wieder erkennen.

Und nun taucht – immer in demselben Spiegel – hinter dem Bild des dem Gericht entgegengehenden und hinter dem des freigesprochenen Menschen (und mit beiden nicht zu verwechseln) noch ein Drittes auf, das ich schlicht das Bild des von Gott gut geschaffenen Menschen als solchen nennen möchte. Die Menschlichkeit Jesu ist in ihrer ganzen Überlebensgroße keine gespenstische, sondern echte, wirk­liche Menschlichkeit. Wie könnte er für uns eintreten, wenn es zwischen ihm und uns, uns und ihm nicht bei aller Un­gleichheit auch Gleichheit gäbe, wenn er nicht recht und natürlich unser Bruder wäre? Die Ungleichheit zwischen ihm und uns besteht klar darin, daß wir einander keine Heilande, keine Erretter sein, daß wir nicht füreinander einstehen können. Die Gleichheit zwischen uns und ihm besteht aber eben in der von Gott gut geschaffenen mensch­lichen Natur, die bei uns zwar mannigfach und schwer ver­deckt, bei uns verborgen bei ihm offenbar, die aber in ihm und in uns dieselbe ist. Und das ist die merkwürdige Be­stimmung unserer menschlichen Natur, die uns in diesem unserem Bruder erkennbar wird: daß wir Menschen unter allen Umständen zusammen, zueinander gehören. Verleugnen können wir das wohl, aber auswischen können wir das nicht, daß Menschlichkeit Mitmenschlichkeit ist, daß wir in dem Maß Menschen sind, als wir es miteinander sind: nicht ein jeder für sich also, nicht in Neutralität dem anderen gegenüber, nicht ohne, geschweige denn gegen ihn, sondern Ich vom Du her und Ich zum Du hin. Das ist nicht die ganze, das ist aber eine wichtige und unveränderliche Bestimmung dessen, was den Menschen zum Menschen macht. In ihr ist der Mensch Jesus uns, sind wir ihm gleich. Im Rahmen dieser Gleichheit ist er uns dann auch ungleich: indem er nicht nur mit uns, sondern für uns ist. Aber immer­hin: er ist auch mit uns; er ist ja, eben indem er für uns ist, in höchster, in intensivster Weise mit uns. Es ist in seiner Humanität auch das eingeschlossen und vorausgesetzt, und es ist in ihr als dem Spiegel der unsrigen auch dieses Natür­lich-Menschliche sichtbar. Was uns seine Menschlichkeit zu sagen hat, ist auch schlicht, aber unüberhörbar die Erinne­rung an dieses Merkmal unserer Geschöpflichkeit, an das ursprüngliche Zusammensein von Mensch und Mensch, das dem entspricht, daß der Mensch ebenso ursprünglich mit Gott zusammen ist. Frohe Botschaft ist das noch nicht, wohl aber ein in und mit der frohen Botschaft zur Kenntnis zu nehmender Bescheid über uns selbst: unzweideutig und ernstlich bestimmt freilich nur im Zusammenhang mit ihr zur Kenntnis zu nehmen. Oder wo wäre das sonst klar und selbstverständlich, daß Menschlichkeit als solche Mitmensch­lichkeit oder eben Unmenschlichkeit ist? In der Menschlich­keit Jesu, in der es um sehr viel mehr als um Mitmensch­lichkeit geht, fällt auch in dieser zentralen Frage nach dem Wesen des Menschen als solchem die Entscheidung – und so, daß jede Diskussion ausgeschlossen ist.

Ein Wort noch zu der Ungleichheit zwischen der Mensch­lichkeit Jesu und der unsrigen. Jesus ist darum der Mensch für alle anderen Menschen, darum der Heiland, weil er der Mensch für Gott ist. Denn eben Gott gehorsam sein ist in seiner Menschlichkeit unauflöslich, weil ursprünglich damit verbunden ist: für die Menschen sein. Er vollstreckt damit den Willen Gottes, daß er für die Menschen ist, für sie stiebt, um für sie zu leben. Es ist also, was in seiner Menschlichkeit Ereignis wird, nicht die edle, aber zufällige und vielleicht auch willkürliche Art und Haltung eines besonderen mensch­lichen Individuums, sondern nicht mehr und nicht weniger als die Menschlichkeit Gottes selber. Ich erinnere an die große Stelle in der Mitte des nicänischen Glaubensbekenntnisses: qui propter nos homines et propter nostram salutem de- scendit de coelo – »der um unserer, der Menschen, und um unseres Heils willen vom Himmel herabgestiegen ist«. Dies ist der Mensch Jesus. Von da, von seiner Göttlichkeit her die Art und der Inhalt seiner Menschlichkeit. Er ist darum für uns Menschen, weil Gott selbst für uns ist. Und Gott selbst ist für uns, indem der Mensch Jesus für uns ist. »Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab.« Als ein »selbstloser« Gott? Nein, das Wort paßt auch hier nicht. Gott ist für den Menschen, in dem er gerade darin aufs höchste er selbst, der eine wahre, lebendige Gott ist! Weil Gott in dem Menschen Jesus gegenwärtig und am Werk ist, darum muß, darum darf, darum kann dieser, was wir untereinander nicht können: mit seinem Tod und mit seinem Leben für uns alle eintreten, und zwar wirksam, so eintreten, daß uns geholfen ist, daß unser Leben durch sei­nen Tod gerettet und in und mit seinem Leben erhoben ist ins ewige Leben.

Und nun mag von da aus noch ein letzter Schritt gewagt werden, weil er auch im Neuen Testament gewagt ist: die Feststellung, daß wir es in der Menschlichkeit Jesu mit dem sichtbaren Bild des ewigen, des unsichtbaren Gottes zu tun haben. In ihr spiegelt, bestätigt, bezeugt sich — und das ist das Tiefste und Höchste, was von ihr zu sagen ist – das Sein und Wesen Gottes selber. In Gottes Wollen ist keine Willkür und in seinem Tun kein Zufall. Er wird, indem er in dem Menschen Jesus selber als des Menschen Vater, Freund und Bundesgenosse gegenwärtig und am Werk ist, sich selber nicht untreu. Im Gegenteil: Zusammensein, Mitein­andersein und mächtiges Füreinandersein sind zuerst und ursprünglich in ihm, dem dreieinigen Gott selber. Er, Gott, liebt nicht nur, sondern ist die Liebe. Und eben sich selbst als die ewige Liebe betätigt und verkündigt er in der Welt in der Menschlichkeit Jesu: darin, daß Dieser, in welchem er selber Mensch wurde wie wir, der Mensch mit uns und der mächtige Mensch für uns ist. So daß alles Lob der Humanität Jesu zuletzt nur einstimmen kann in das Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto sicut erat in principio et nunc et semper et in saecula saeculorum. Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem Heiligen Geiste, wie er war im An­fang und jetzt und immer und von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Rundfunkvortrag für die Sendereihe Mensch und Menschlichkeit des Süddeutschen Rundfunks 1956.

Quelle: Mensch und Menschlichkeit. Eine Vortragsreihe, Das Heidelberger Studio. Eine Sendereihe des Süddeutschen Rundfunks, Stuttgart: Kröner, 1956, S. 115-121.

Hier der Text als pdf.

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