Auszüge aus einem Briefwechsel zwischen David Ben-Gurion und Simon Rawidowicz über den Staat Israel, die Diaspora und die Einheit des jüdischen Volkes
Aus dem ersten Brief Ben-Gurions an Rawidowicz, 26. Oktober 1954
[…] Der Name Israel unterscheidet […] zwischen dem souveränen jüdischen Volk in seinem Heimatland, das den Namen Israel trägt, und dem jüdischen Volk in der Welt, in allen Generationen und in allen Ländern, das als das jüdische Volk oder als „Volk Israel“ bezeichnet wird, aber nicht als „Israel“. Der Name „Israel“ […] bezieht sich seit 16:30 Uhr am 14. Mai 1948 ausschließlich auf den jüdischen Staat. […]
Der Erste, der diesen Namen trug, war unser Erzvater Jakob, und ihm wurde laut Bibel dieser Name verliehen: „Denn du hast mit Gott und mit Menschen gerungen und hast gesiegt.“ Der heutige jüdische Staat hat diesen Namen aus demselben Grund angenommen. […]
Wir sind alle Juden; wir sind alle Söhne des jüdischen Volkes. Aber nur die Bürger des jüdischen Staates sind „Israel“.
Mit Hochachtung und Respekt
D. Ben-Gurion
Aus dem ersten Brief Rawidowiczs an Ben-Gurion, 14. November 1954
[…] Der Kern meines Problems mit der Namensfrage besteht darin, dass es unmöglich ist, dass von nun an der Staat den Namen Israel trägt, während gleichzeitig das Volk Israel außerhalb des Staates weiterhin so genannt wird. Wenn „Israel“ der Name des Staates ist, darf er auch nur dem Staat gehören. Um dieses Prinzip zu verdeutlichen, sind zwei Dinge erforderlich:
a. Eine klare und ausdrückliche Erklärung seitens der Regierung des Staates, dass ab 1948 „Israel“ nur der Name des Volkes ist, das im Staat lebt (natürlich einschließlich der Araber und Christen darin), und dass es den Juden außerhalb des Staates nicht erlaubt ist, sich selbst Israel zu nennen – weder kollektiv noch individuell –, und dass die Namen Jisrael, Jisraelim und so weiter, also Israel in allen Sprachen, außerhalb des Staates verschwinden sollen.
b. Die Gemeinden Israels (oder, wie du sagst, die Juden) überall auf der Welt müssen diese Namensrevolution (die zugleich eine Revolution des Herzens, der Seele und der Wirklichkeit ist) anerkennen und sich verpflichten, den Namen Israel aus ihrer Mitte zu entfernen. Ebenso müssen sie anerkennen, dass sie seit 1948 keinen Anteil und kein Erbe an Israel mehr haben, und dass jede Erwähnung Israels in unserer Literatur, in unseren Gebeten usw. – in Hebräisch wie in allen anderen Sprachen – bis 1948 nicht identisch ist mit dem Israel nach 1948. Wenn z. B. Bialik sein Gedicht „Tochter Israels“ schrieb, meinte er nur die Töchter Abrahams, Isaaks und Jakobs. Vielleicht wird eines Tages einer seiner Nachfolger einen Kranz für eine Tochter Israels flechten – und dann wird damit eine jüdische „Israelin“, eine arabische „Israelin“ oder eine christliche „Israelin“ gemeint sein.
Solange diese fundamentale Frage nicht angemessen und vollständig geklärt ist, herrscht schreckliche Verwirrung. Einige Lehrer und Dozenten in den Vereinigten Staaten, denen ich dieses Problem aufgezeigt habe, sagten mir, dass ihre Schüler, wenn sie im Unterricht über Israel sprechen – ob in Bibel, Geschichte, Zionismus oder anderen Fächern –, gar nicht verstehen, worum es geht. Ihre Darstellungen strotzen vor Widersprüchen, Fragen und fragwürdigen Antworten. Sogar der „einfache“ Zionist in Amerika […] akzeptiert zwar den Namen „Israel“ für den Staat, spricht aber im selben Atemzug von den Juden in den USA als dem amerikanischen Israel. Diese sprachliche Verwirrung – die, wie gesagt, auch eine Verwirrung von Herz und Seele ist – ist in vielerlei Hinsicht gefährlich. Es bedarf einer vollständigen und eindeutigen Klärung. […]
Selbst wenn du ebenfalls der Meinung bist, dass es den Juden außerhalb des Staates erlaubt ist, sich als „Volk Israel“, als Kinder Israels zu betrachten, bleibt die Frage bestehen: Wenn „Israel“ das Volk im Staat bezeichnet, dessen Name „Israel“ ist, dann werden das Volk Israel, die Diaspora Israels, die Kinder Israels, die Gemeinde Israels und so weiter zwangsläufig mit dem Staat Israel verbunden sein. […]
Aus Ben-Gurions zweitem Brief an Rawidowicz, 24. November 1954
[…] Wer in der Bibel liest und auf den Namen Israel stößt, wird nicht irrtümlich glauben, dass damit der jüdische Staat gemeint ist, der 1948 gegründet wurde. Und wenn er deinen Artikel liest, wird er wissen, dass du nicht das Königreich Jerobeam ben Nebat meinst, sondern das jüdische Volk.
Du weißt ebenso gut wie ich, dass ein Name verschiedene Bedeutungen haben kann und dass eine Sache mehrere Namen haben kann. Als einige Amerikaner die Stadt, die sie in Nordamerika gründeten, „Zion“ nannten, protestierte niemand, obwohl jeder wusste, dass sich „Zion“ in der Bibel auf das Heilige Land bezieht. […]
Dein Argument bezüglich der arabischen und christlichen Israelis hat meiner bescheidenen Meinung nach nichts mit dem Namen „Israel“ zu tun. Es ist ein jüdischer Staat, und die Anwesenheit von Arabern, Muslimen und Christen im Staat ändert nichts an dieser grundlegenden Tatsache. Israel ist der Name des jüdischen Staates – so hat es das souveräne Volk entschieden. Amerika bezeichnet sich als „westlicher“ Staat […] und die Tatsache, dass es in Amerika chinesische Bürger gibt, mindert nicht die „Westlichkeit“ Amerikas. […]
Als ich deine hebräischen und jiddischen Artikel gegen den Namen des Staates las, fragte ich mich: Warum regt sich ein jüdischer Schriftsteller, Gelehrter und Denker wie du so auf? Und ich antwortete mir selbst: Professor Simon Rawidowicz hat eine besondere Auffassung des Judentums (muss ich, nach deiner Meinung, sagen: des Israelitismus?). Für ihn gibt es keinen Unterschied zwischen einem Juden in der Galut und einem Juden im Land, zwischen den Juden Amerikas und den Juden Israels. Der Name Israel, der dem Staat gegeben wurde, schafft sozusagen eine Spaltung zwischen den Juden des Staates und den Juden der Diaspora. Er beeinträchtigt nach deiner Ansicht die Einheit, Gleichheit, Identität und Ganzheit des jüdischen Volkes (verzeih – des Volkes Israel!) überall auf der Welt. Hier, so scheint mir, liegt der Kern der Auseinandersetzung, und nicht in der technischen Frage des einen oder anderen Namens.
Ich will kurz darlegen – diesmal ohne Belege –, worin ich dir zustimme und worin nicht.
Ich glaube an das gemeinsame Schicksal des jüdischen Volkes. Und wenn ich „jüdisches Volk“ sage (oder „Volk Israel“ – ich schließe diese Bezeichnung nicht aus!), dann schließe ich sowohl den Staat als auch das Weltjudentum ein.
Ich glaube, dass der Staat für das ganze Volk gegründet wurde. Es wird keine Zukunft für das Judentum ohne den Staat geben, und keine Zukunft für den Staat ohne das Judentum. Und der Staat befindet sich noch am Anfang seines Daseins.
Aber ich bestreite die Gleichheit (nicht die Einheit) zwischen den Juden in der Galut und denen im Land. Der Jude in der Galut, selbst ein Jude wie du, der ein vollständig jüdisches Leben führt, kann kein ganzer Jude sein, und keine jüdische Gemeinde in der Galut ist imstande, ein vollständiges jüdisches Leben zu führen. Nur im Staat Israel ist ein volles jüdisches Leben möglich. Nur hier wird eine jüdische Kultur gedeihen, die diesen Namen verdient. […]
Ein ganzer Jude und ein ganzer Mensch, ohne Trennung zwischen Jude und Mensch, zwischen Bürger und Gesellschaft, ist auf fremdem Boden nicht möglich. Der Jude in der Galut ist gespalten, zerrissen und geteilt zwischen zwei widerstreitenden Welten und kann weder ein ganzer Mensch noch ein ganzer Jude sein.
Und nun will ich dir sagen, was Israel ist – nicht als Name (der ist nicht entscheidend), sondern als Wesen, das in unserer Generation in seinem Heimatland neu geschaffen wurde und ein jüdischer Staat wurde: Es ist das Volk Israel, eins mit sich selbst, mit seiner Vergangenheit, mit seiner Zukunft, mit seinem Geist, mit seiner Wirtschaft und seiner Kultur – ein Volk, das sein materielles und geistiges, sein politisches und kulturelles Leben selbst gestaltet, nach seinen Bedürfnissen und Wünschen. Das ist es, was Israel von 1948 mit dem Israel der Bibel verbindet – eine Kette ähnlicher geschichtlicher Erfahrungen; der Name spielt dabei keine Rolle.
Es gibt jüdisches Leben in Amerika, Russland, Marokko und anderswo. Es ist ein trauriges, verwundetes, hinkendes und verarmtes Leben. Es soll gestärkt und gefestigt werden. Es soll die hebräische Sprache, die hebräische Bibel, das Beste der hebräischen Literatur, die geistige Verbindung zum Staat lernen – aber ein ganzes, gesundes, schöpferisches, freies Judentum ist nur im jüdischen Staat möglich, wo alles in unserer Hand liegt – vom Land über das Militär bis zur Universität und zum Radio. Judentum besteht nicht nur aus Geist – wie kein Volk auf Erden allein aus Geist besteht.
Dein Wunsch, ein Höchstmaß an Judentum in der Galut zu bewahren, ist ehrenwert, und wenn es dir gelingt, die „Zionisten“ für die jüdische Erziehung ihrer Kinder und der ganzen jungen jüdischen Generation zu gewinnen, wird das zu deinem Verdienst gehören. Aber ein volles und ganzes jüdisches Leben ist nur im Staat der Juden möglich.
Wenn du meine beiden Briefe veröffentlichen willst, hast du meine Erlaubnis. Aber ich wäre glücklicher, wenn ich von dir hörte, dass du keine Notwendigkeit mehr für eine Diskussion über den Namen siehst.
Wenn du aber eine Diskussion über das Wesen des Judentums führen möchtest – gern.
Mit Hochachtung und Respekt
D. Ben-Gurion
Aus Rawidowiczs zweitem Brief an Ben-Gurion, 5. Dezember 1954
[…] Gewiss, der Name „Jude“, „Juden“ usw. war in den letzten zweitausend Jahren weit verbreitet unter dem Volk, aber der Name „Israel“ lebte in diesen zweitausend Jahren und länger stets daneben, während das Volk zum „Fels Israels“ betete, dass er zur „Hilfe Israels“ aufstehe usw. Wenn deiner Meinung nach seit 1948 der Name Israel nur noch für die Bewohner des souveränen Staates gilt (die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs ebenso wie die Kinder Ismaels und Esaus), dann haben die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs außerhalb des Staates kein Recht mehr, sich Israel zu nennen. Es ist mir z. B. verboten, zu sagen, dass ich an der Brandeis-Universität über das „Denken Israels“ doziere, wenn ich mich mit den Lehren von Saadja Gaon, Maimonides und anderen beschäftige. In diesem Fall liegt also tatsächlich eine gewisse Entbehrung für das Volk außerhalb des Staates vor.
Ich lehne es nicht ab, Jude genannt zu werden, aber ich sträube mich sehr dagegen, den Namen Israel aufzugeben, der sich in mein Herz und meine Seele eingeschrieben hat – in geistiger wie in sprachlicher Hinsicht. Der Name Israel lässt sich nicht einfach austauschen. Er gehört zu jenen Dingen, die im Herzen verankert sind.
[…] „Israel“ kann nicht ausschließlich dem Staat vorbehalten sein – es muss entweder vom Staat und außerhalb des Staates gemeinsam getragen werden, oder gar nicht. […] Solange der Staat Israel und die Diasporas Israels diese Frage für sich selbst und für die Welt nicht geklärt haben, wird die Verwirrung von Tag zu Tag größer. Vielleicht liegt hierin die Ursache jenes „Zorns“, den du in meinen Worten zu spüren glaubst. Zwei Dinge stören mich. Erstens: diese große Verwirrung. Ich habe Mühe – oder bin zumindest sehr unsicher –, manche Verwendungen des Begriffs „Israel“, denen ich in der Presse des Staates und in seiner Literatur begegne, richtig zu verstehen. Zweitens: die Schnelligkeit, mit der einige der Besten in unserem Staat Israels Außenstehende aus der Ganzheit Israels ausgeschlossen haben. Israel verschwindet außerhalb des Landes – und niemand sorgt sich darum. […]
In der Bibel lässt sich jede Erwähnung Israels aus dem Kontext verstehen, aber in unserer Literatur nach 1948 ist es völlig unmöglich, die Bedeutung mit der gewünschten Sicherheit zu bestimmen. Und da Israel über etwa zweitausend Jahre, seit dem Abschluss des biblischen Kanons, im Wesentlichen nur eine Bedeutung hatte, nimmt man den Kindern Abrahams außerhalb des Staates mit der Umdeutung ihren Namen, ihr Unterscheidungsmerkmal. Wenn die Sache jedoch geklärt wird und beide Seiten sich auf diese Namensrevolution einigen – gut. Aber solange das nicht geschieht, herrscht unaufhörliche Verwirrung in dieser Frage. […]
Auch du, wie du selbst sagst, benutzt gelegentlich den Ausdruck „Volk Israel“. Doch frage ich mich dann: Was meinst du damit (siehe den Anhang zu meinem Artikel), wenn du vom Volk Israel sprichst? Meinst du das jüdische Volk bis 1948 – also das Volk in aller Welt? Oder meinst du das Volk, das im Staat mit dem Namen Israel lebt (die Nachkommen von Abraham, Isaak, Jakob, Ismael und Esau)?
Zwar werden viele Namen mit unterschiedlichen Bedeutungen verwendet; ich habe diese Woche im Zuge dieser Diskussion noch einmal den Abschnitt über Homonyme am Anfang von Maimonides’ „Führer der Unschlüssigen“ gelesen. […] Doch selbst jemand Schärferes als er würde sich heute schwertun, unsere Verwirrung über den Gebrauch des Namens „Israel“ seit 1948 zu klären – sofern sie nicht ausdrücklich aufgeklärt wird.
Seit 1948 wird der Name Israel nicht nur in unterschiedlichen, sondern in widersprüchlichen Bedeutungen verwendet – für zwei Gegensätze: für einen souveränen Staat (in dem die Nachkommen von Abraham, Isaak und Jakob ebenso wie von Ismael und Esau leben) und für die Diaspora, die überall in der Welt verstreut ist. Kann dieser Zustand von Dauer sein? […]
Wenn der Araber und der Christ, die im Staat leben, Israelis sind – was bedeutet dann z. B. „das Volk Israel in Amerika“? Handelt es sich dabei um Staatsbürger Israels, die nun in Amerika leben – und wenn ja, sind sie Juden, Araber oder Christen? Oder handelt es sich um die Söhne Abrahams, Isaaks und Jakobs, entsprechend dem Gebrauch des Wortes „Israel“ vor 1948? […]
Solange die Exilanten nicht heimgekehrt sind, brauchen sie – zu ihrem eigenen Wohl und auch zum Wohl des Staates – eine Lebenslehre, […] eine Lehre des Willens und des Glaubens an das Volk, wo auch immer es sei. Der Name Israel war – und ist es noch – eine Bezeichnung, die Individuum mit Individuum, Gemeinde mit Gemeinde verbindet. Deshalb bin ich besorgt und bedauere, dass die Aneignung des Namens Israel durch den Staat das Eins-sein zerreißt. Und dies brachte mich dazu, mich mit der Sache zu befassen. […]
Aus Rawidowiczs drittem Brief an Ben-Gurion, 16. Februar 1955
[…] Leider muss ich deine Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenken, dass es Juden gibt, die – selbst wenn sie nicht gefragt werden – sagen, sie seien Israelis, und ausdrücklich hinzufügen: „Wir sind keine Juden.“ Der Name „Israel“ befreit sie davon, sich mit den Juden oder mit dem Volk Israel in der Diaspora zu identifizieren; Israel dient ihnen als Zeichen ihrer Andersartigkeit und zeigt ihrer Meinung nach allen, dass sie sich von den Juden außerhalb des Staates unterscheiden. Vor einiger Zeit berichteten einige Zeitungen über die Geschichte zweier Mädchen (Studentinnen oder Gesandte) aus dem Staat Israel, die in London ein Zimmer mieten wollten – im Haus einer erklärten Israel-Hasserin, einer Hasserin von ganz Israel natürlich. Ihr scharfes Auge – oder ihr Geruchssinn – sagte ihr, dass sie vor Töchtern Abrahams, Isaaks und Jakobs stand. Als sie die beiden mit ihrer üblichen Bemerkung begrüßte, dass sie keine Zimmer an Juden vermiete, fühlten sich die Mädchen in keiner Weise beleidigt und antworteten unschuldig und naiv: „Aber wir sind Israelis, keine Juden.“
Dieser Vorfall ist nicht einzigartig. Solche Vorfälle und Reaktionen haben sich in den letzten Jahren in vielerlei Gestalt wiederholt. In den jüdischen Gemeinden der Vereinigten Staaten – New York, Chicago, Boston und anderswo – leben Hunderte (einige schätzen Tausende) Männer und Frauen aus dem Staat Israel. Die meisten von ihnen halten sich von den Juden dieser Gemeinden fern. Viele sagen ausdrücklich: Wir haben mit diesen Juden nichts gemeinsam; wir sind Israelis, und wir bevorzugen die Gesellschaft nichtjüdischer Amerikaner gegenüber der amerikanischer Juden. Ich selbst habe das gehört. […] Wenn die Einwohner des Staates sich nicht als Israelis sähen, die keine Juden sind (in meiner Formulierung: Israelis, die nicht aus Israel stammen), würden sie sich den amerikanischen Juden sicherlich lieb machen und sie auch dem Staat Israel, der hebräischen Kultur usw. näherbringen.
In den 1920er- und 1930er-Jahren hörte ich häufig von Bewohnern des Jischuws und von Mitgliedern der zionistischen Bewegung, wie sie zwischen Juden und Hebräern unterschieden: Juden seien die Galut-Juden, Hebräer die Menschen im Land – und die Hebräer hätten mit den Juden nichts zu tun. Diese Unterscheidung bereitete den Boden für die jungen Hebräer und die Kanaaniter. Ob es ihrer wenige oder viele sind, spielt keine Rolle – sie existieren, und ich weiß, dass du mit ihnen nicht im Geringsten einverstanden bist. Nun aber tritt der Begriff „Israel“ an die Stelle dieser Hebräer; die Israelis gehen hinaus in die Welt und verkünden: „Wir sind Israelis und keine Juden.“
Ähnlich wie jene Hebräer von gestern und die jungen Israelis von heute begegnen wir in der Diaspora assimilatorischen Kreisen, die den Namen „Israel“ mit „Freude“ und Begeisterung annehmen. Sie behaupten, Israel sei dort, wir seien nicht Israel, und wir hätten nichts mit Israel oder den Israelis zu tun – auch wenn wir „Israel“ aus philanthropischen Gründen unterstützen und weil „Israel“ eine demokratische Nation ist, die der Außenpolitik des Westens und Amerikas dient. Aber wir sind Amerikaner, Engländer usw. mosaischen Glaubens. Natürlich hat das Jahr 1948 diese rebellischen Kinder nicht erschaffen – unsere inneren Feinde, die uns an Seele und Geist zerstören wollen –, aber der Name „Israel“ gibt ihnen eine zusätzliche Grundlage, um die Kluft zwischen ihnen und dem Land Israel und auch zwischen ihnen und anderen Juden zu vergrößern. Warum sollten jene jungen „Israelis“ sagen, sie seien keine Juden, und diese Sanballats in der Diaspora behaupten, sie hätten keinen Anteil an Israel? Beides erfüllt uns mit großer Trauer.
Die Vorstellung erschreckt mich, dass ich oder andere Juden in der Diaspora – sie selbst und ihre Kinder – einem Christen oder Moslem aus dem Staat Israel begegnen, der sagt: „Ich bin Israeli, wir sind Israelis, ihr seid keine Israelis.“ Und tatsächlich – sie sind Israelis. „Israel“ ist tatsächlich nicht unsere Bezeichnung – auch nach deiner Auffassung. Wie sollen wir, die Kinder Abrahams, Isaaks und Jakobs außerhalb des Staates, mit einer solchen Aussage zurechtkommen? […]
In allen Sprachen ist es vielleicht möglich, Israel als Namen des Volkes und seiner Angehörigen abzulegen – aber aus dem Hebräischen, gerade aus dem Hebräischen, lässt sich „Israel“ nicht herausreißen. Israel ist mit der Sprache so verbunden wie die Flamme mit dem Docht, wie die Seele mit dem Körper. Wenn man „Israel“ in seiner über Generationen gewachsenen Bedeutung aus der hebräischen Sprache entfernt, nimmt man ihr die Seele. […]
Was mich zutiefst beunruhigt und unaufhörlich traurig macht, ist die Vorstellung, dass ein Jude aus dem Staat Israel – ob jung oder alt – in eine Diaspora der Diasporas Israels als Fremder kommt, als stolzer Israeli oder mit dem Bewusstsein, ein „Israeli“ zu sein, ohne Anteil an dem Israel der Diaspora. Solange es keine wirkliche, vollständige Heimkehr der Exilanten gibt – nur diese ist des Namens würdig – und solange es jüdische Diasporas auf der Welt gibt, darf man nicht zwischen Hebräer und Jude, Israeli und Jude trennen. Die Jugend im Staat Israel muss im Geist eines Israelismus erzogen werden, der sie darauf vorbereitet, sich als jüdisch zu empfinden – und wenn sie dann hinabsteigt nach Babylonien, soll sie sich als Brüder jener in Babylonien verstehen, Juden unter Juden. Alle sollen sagen: „Ich suche meine Brüder.“ Sie werden sie suchen – und sie werden sie finden.
Was unsere Diskussion betrifft, wissen wir beide sehr genau, dass wir es nicht mit einer technischen, äußeren Frage wie der nach einem Namen zu tun haben, sondern mit einem Grundprinzip im Leben des Volkes: mit unserer Auffassung vom Wesen Israels in der Welt und seiner Zukunft – der Zukunft der Diasporas Israels ebenso wie dem Wesen jener Partnerschaft zwischen Israel und Israel. Für mich bedeutet diese Partnerschaft Gleichwertigkeit, Gleichheit an Rechten und Pflichten von Israel im Staat und Israel in der Diaspora. […] Diese Gleichheit bedeutet nicht die Gleichsetzung von Ländern oder Orten, sondern von Juden und jüdischen Gemeinden. Ich weiß, dass du meine Auffassungen vollständig ablehnst, obwohl es Zeiten gab – besonders nach 1948 –, in denen ich sah, dass du von Partnerschaft sprachst, und ich begann zu ahnen, dass du dich vielleicht ein wenig der Idee eines einheitlichen Israels in meinem Sinne näherst. Und trotz deiner Ablehnung muss ich hinzufügen: Wir beide wünschen das Gleiche – das Fortbestehen des Volkes Israel. Wir haben unterschiedliche Auffassungen über das Wesen Israels in der Diaspora und über seine Zukunft, aber wir beide wünschen gewiss von ganzem Herzen, dass solange die Diasporas Israels existieren, sie dies auch weiterhin als Diasporas Israels tun – im Geist, in der Sprache und in allen anderen Dingen, soweit es realistisch möglich ist.
Und doch – in dieser Frage sind wir nicht einer Meinung. Du vertrittst die Auffassung, dass der Name des Staates „Israel“ lauten muss. Ich aber sehe in diesem Namen ein entscheidendes Hindernis für die Einheit Israels (nicht nur für seine Gleichförmigkeit) und für die Schicksalsgemeinschaft – beides Dinge, an die auch du glaubst. Wenn auch du an ein einziges Israel glaubst, musst du zwangsläufig anerkennen, dass auch nach 1948 „Israel“ der Name des gesamten Volkes Israel sein sollte – überall, wo es sich befindet. […]
Wir müssen uns sehr ernsthaft mit den Wegen befassen, wie das eine Israel für uns und für die Generationen nach uns – oder zumindest für die nächste Generation – bewahrt werden kann. Noch lebt in den Diasporas eine scheidende Generation und eine gegenwärtige Generation, die mit Geist und Hand an der Errichtung des Jischuws und des Staates Israel beteiligt war – und der Staat Israel ist ihnen sehr teuer und nah. Und auch im Staat Israel kennt die gegenwärtige und scheidende Generation noch „Joseph in Ägypten“. Aber die künftige Generation in den Diasporas wird nicht wissen, was ihre Väter über das Land Israel wussten, und die künftige Generation im Staat Israel wird die Diasporas Israels nicht kennen. Werden sie im Herzen wissen, was das eine Israel ist? Besonders die jetzige und die zukünftige Generation der nach 1948 Eingewanderten, die keinen Anteil an der ideologischen Tradition Israels von der Haskala bis 1948 haben, noch am Leben der Juden in Europa und Amerika? Fern sei es von mir, zwischen Israel und Israel zu unterscheiden. Ich bin vielmehr bitter über jene, die aus dem Staat Israel hierherkommen und rufen: „Gebt uns westliche Einwanderung, um den Staat Israel vor dem Osten zu retten.“ Aber unter dem Gesichtspunkt der Einheit Israels kann man nicht ignorieren, dass Hunderttausende von Einwanderern aus den östlichen Ländern jenes Gefühl eines einheitlichen Israels mit den aschkenasischen Juden Europas und Amerikas nicht in ihren Herzen tragen – jenes Gefühl, das für Millionen unserer Brüder und Schwestern in Europa und Amerika, fast alle aschkenasische Juden, ganz natürlich war. Diese künftige Generation, hier wie dort, muss in der Quelle des einen Israel gebadet werden – aber wie badet man? Im Staat Israel besteht das Problem der Integration der Einwanderer. Aus Sicht des einen Israel aber lautet die Frage: Womit integriert man? Wie integriert man Israel und „Israel“? […]
Aus Ben-Gurions viertem Brief an Rawidowicz, 14. Mai 1955
[…] Es ist möglich, dass einige Jugendliche aus Israel, wenn sie in die Golah (Diaspora) kommen, sich von ihren Brüdern entfremden. Diese Jugendlichen spiegeln jedoch nicht die israelische Jugend wider und repräsentieren sie auch nicht. Aber es ist eine bittere Tatsache, dass Tausende, Zehntausende, vielleicht Hunderttausende jüdischer Jugendlicher in Amerika nichts über ihr Volk, ihre Kultur und ihre Vergangenheit wissen – und nichts wissen wollen. Und es ist nicht der Name „Israel“ des jüdischen Staates, der sie entfremdet. […]
Zwischen uns besteht kein Meinungsunterschied bezüglich der Auffassung über das Wesen des jüdischen Volkes (in deiner Sprache: „Israel“) in der Welt und seiner Zukunft. Ohne eine Partnerschaft zwischen den Diasporas und Israel (oder in deiner Sprache: dem Staat) sind beide in Gefahr. […]
Wie du sehe ich die Notwendigkeit von Einheit, und ein Jude ist an jedem Ort Jude. Wenn ich könnte, würde ich alle Juden in Israel versammeln. Das liegt jedoch nicht in der Macht des Menschen. Deshalb sehe ich – wie du – die Notwendigkeit, jene innere Verbundenheit zu finden, die unser Volk als Einheit bewahrt. […]
Ich kann nur eine geistige und kulturelle Grundlage für die Verbindung zwischen der Diaspora und Israel finden (zusätzlich zur wirksamsten und greifbarsten Verbindung – der Verbindung der Alijah ins Land Israel).
Aus Rawidowiczs Nachwort in Bavel vi-Yerushalayim, 1957
[…] Was eine „Verbindung“ betrifft – gibt es ein besser geeignetes und fähigeres Mittel, eine Verbindung zwischen Gruppen eines zerstreuten Volkes, zwischen einem Staat und einer Diaspora, aufrechtzuerhalten, als einen gemeinsamen Namen? Wenn es keinen gemeinsamen Namen für ganz Israel gäbe, müsste man einen erfinden, als Symbol für die Ganzheit und Einheit des Volkes. Und jetzt, da ein solcher Name seit Generationen in unseren Herzen und in unserer Literatur, im Bewusstsein aller Völker und Sprachen verankert ist – warum sollen wir ihn aus unserem Herzen, unserer Sprache und den Sprachen aller Völker der Welt herausreißen?
Wie kann jemand, der sich um diese „Verbindung“ sorgt, nach 1948 versuchen, sie zu stärken, indem er die Kette „Israel“, die verbindet und vereint, durchtrennt, und sagt: „Wir sind Israel, und ihr seid Juden“?
Gerade dieser grundlegende Unterschied zwischen dem Israel im Staat und dem Israel in der Diaspora, wie Ben-Gurion sagt, hervorgebracht durch die Realität – und dessen Stärke und Schärfe sich mit den Generationen noch weiter zuspitzen werden –, verpflichtet uns, allen „natürlichen“ Trennungsneigungen entgegenzuwirken und jede Saat von Partnerschaft und Einheit zu pflegen. […]
[…] Dürfen die Erzieher des Staates Israel ignorieren, dass die Jugend des Staates den Namen „Israel“ als Grundlage dafür verwendet zu erklären, dass sie keine Juden seien? Diejenigen, die sich von ihren Brüdern in der Diaspora entfremden – das heißt, ihre Bruderschaft leugnen – sind nicht nur „einige Jugendliche“ oder ein paar „Extremisten“. Die meisten Mitglieder der jüngeren Generation im Land Israel sehen sich als Israelis, nicht als Juden. Die Benennung des Staates als „Israel“ trägt entscheidend dazu bei, vor dem „Juden“ zu fliehen. Nicht nur „Kanaanäer“ und „junge Hebräer“, sondern auch andere Gruppen im Staat Israel – selbst sozialistisch-zionistische Schriftsteller aus Ben-Gurions eigenem Lager – akzeptieren als grundlegendes Axiom den Unterschied zwischen „Jude“ und „Israeli“ und verleihen ihm Bedeutung, wenn sie diese „Andersheit“ des „Israelis“ im Gegensatz zum „Juden“ betonen. […]
Was die „Verbindung der Einwanderung“ betrifft – ich betrachte Einwanderung nicht als Verbindung, sondern als Entwurzelung, die eine „Verbindung“ beendet, anstatt sie zu stärken oder zu erhalten. Wie Ben-Gurion stimme auch ich keiner Zionismusform zu, die die Einwanderung ablehnt. Aber Einwanderung schafft im Kern keine Verbindungen oder Brücken – sie zerstört sie. Wenn der Staat Israel weiterhin Einwanderung aus den Diasporas fordert, um damit eine „Verbindung“ zu begründen, dann werden die Zionisten dort viele andere Verbindungen bieten – Ersatzverbindungen, alle Verbindungen der Welt (Kredite, Investitionen, geistige Einwanderung usw.) – nur nicht die ersehnte „Verbindung“ der Einwanderung. Der Staat darf – und ist verpflichtet – Einwanderung nur aus einem Grund fordern: zur eigenen Stärkung, zur Umsetzung der Vision der Sammlung der Exilierten. […]
Ben-Gurion schließt seinen ersten Brief mit den Worten: „Wir sind alle Juden; wir sind alle Söhne des jüdischen Volkes. Aber nur die Bürger des jüdischen Staates sind ‚Israel‘.“ Ich akzeptiere diese Festlegung nicht – sie schließt die zehn Millionen Seelen in der Diaspora (und mich selbst) von der Gesamtheit Israels aus. Ich war mein ganzes Leben lang ein Mann Israels, und ich werde es auch nach 1948 bleiben. Ich kann diese Namensentscheidung nicht hinnehmen, die suggeriert, dass ein Schriftsteller unseres Volkes, der in New York lebt, und ein Gelehrter, der sich in London, Johannesburg oder anderswo mit der Tora beschäftigt, kein Schriftsteller Israels oder Gelehrter Israels ist; dass die „Kreativität Israels“, die „Dichtung Israels“, das „Denken Israels“ sich nur auf das beziehen, was im Staat Israel geschaffen wird; dass die „Tora Israels“, die „Kultur Israels“ nicht uns gehören, nicht für uns sind, die wir in Babylon wohnen. Als wären die zehn Millionen Mitglieder unseres Volkes in der Diaspora außerhalb Israels, während Hunderttausende Nachkommen Ismaels und Esaus im Staat Israel Israel seien… […]
Es geht nicht um eine Namensfrage, sondern um die Frage Israels: Gibt es Israel auch außerhalb des Staates, der 1948 im Land Israel gegründet wurde – oder nicht?
Wenn es Diasporas Israels gibt, ein Haus Israels in der Diaspora, ist es dann möglich, dass diese Diasporas ihren Namen aufgeben, jüdische Diasporas sind, aber nicht Israel – dass das Haus Israel nur das Haus der Juden sei? […]
Ben-Gurion erwähnte (in seinem ersten Brief) den biblischen Grund für die Umbenennung von Jakob in Israel: „Denn du hast gestritten…“ Und er fügte hinzu, dass der jüdische Staat in unseren Tagen denselben Namen aus demselben Grund gewählt habe. Wir beglückwünschen den Staat Israel zu seiner Fähigkeit, sich gegen seine Feinde durchzusetzen. Aber ist nicht aus eben diesem Grund auch das gesamte Volk Israel – das seit über 2.500 Jahren zerstreut ist und sich in fast jeder Generation gegen seine Verfolger behauptet hat – würdig, den Namen „Israel“ zu tragen, den es seit über dreitausend Jahren trägt?
[…] Vorerst obliegt es uns, das gemeinsame Herz und die gemeinsame Sprache Babylons und Jerusalems zu bewahren. Die Frage Babylons ist auch die Frage Jerusalems. Jerusalem darf sich nicht als jenseits aller Fragen verstehen. […]
Der Verfasser von Babylon und Jerusalem ruft Babylon zu: „Wach auf, erhebe dich, bewahre dein Kleid der Herrlichkeit: Israel.“ Und zu Jerusalem sagt er: „Du sollst Babylon nicht aus der Gesamtheit Israels entfernen.“
Israel ist Jerusalem und Babylon. Möge der Name des Volkes von Babylon sein wie der Name des Volkes von Jerusalem: Israel.
Die vollständige hebräische Korrespondenz, mit einem Nachwort von Rawidowicz, wurde in Simon Rawidowicz, Bavel vi-Yerushalayim (London und Waltham, Mass., 1957) auf den Seiten 872–909 veröffentlicht.
Vgl. ELI KAVON, Simon Rawidowicz vs. Ben-Gurion on the question of ‘Israel’.