Theologie der Haushalterschaft
Von Heinrich-Hermann Ulrich
Als junger Pfarrer nahm ich 1952 an der zweiten Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes in Hannover teil. Was mich auf dieser Tagung besonders beeindruckte und was mir für die künftige Arbeit der Kirche im Nachkriegsdeutschland von besonderer Bedeutung schien, war die Begegnung mit Konzeption und Gedankengut der Haushalterschaftsbewegung, die von den amerikanischen Lutheranern bei diesem großen ökumenischen Treffen in die Überlegungen und Beratungen eingebracht wurden. Was seit den Tagen von Johann Hinrich Wichern als Leitbild einer erneuerten Kirche vor Augen stand und Ziel der von ihm ins Leben gerufenen Inneren Mission war — lebendiges, tätiges, engagiertes Christsein —, hier schien es auf eine kurze und überzeugende Formel gebracht zu sein, und diese hieß: Haushalterschaft.
„Es ist ein Ausdruck der Dynamik des christlichen Glaubens“, so schreibt Helge Brattgård, Bischof der Diözese in der Kirche von Schweden, in seine in grundlegendem Buch über „Die Haushalterschaft“1, „daß jeder Generation und jedem Glied der Kirche Christi die Gnade zuteil werden kann, eine besondere Seite des Reichtums christlichen Lebens zu entdecken und so einen Beitrag zu dem zu leisten, was das christliche Erbe genannt wird.“ Ähnlich ist in den lutherischen Kirchen unserer Zeit ein Begriff immer stärker in den Vordergrund gerückt, der eine interessante Erscheinung modernen kirchlichen Lebens beschreibt, der Begriff „Stewardship“. „Dieses Phänomen hat sich in relativ kurzer Zeit über die ganze lutherische Welt ausgebreitet, sowohl in Europa als auch in den jungen Kirchen Asiens und Afrikas. Wir stehen hier vor einer Tatsache, die allergrößte Bedeutung für das kirchliche Leben in unserer Zeit hat, vor der verpflichtenden Gabe des amerikanischen Protestantismus an seine Schwesterkirchen in der Welt.“
Nicht minder schätzte Bischof D. Hanns Lilje, zur Zeit der Hannover-Tagung Präsident des Lutherischen Weltbundes, den Rang des Haushalterschaftsgedankens als Schlüsselbegriff für das Christsein in der heutigen Welt ein, als er schrieb: „Die Erkenntnis, daß wir mit allem, was wir sind und haben, Haushalter Gottes sind, antwortet auf eine besonders tiefe Sehnsucht der Zeit, in der wir leben, nämlich auf die Sehnsucht nach einer vita nova, einer völligen Erneuerung unseres Lebens. Hier haben die Erkenntnisse unserer amerikanischen Glaubensbrüder kirchengeschichtlich die gleiche Bedeutung, wie etwa das, was die deutsche lutherische Reformation über die rechtfertigende Gnade oder die Brüdergemeinde über die Einheit der Kinder Gottes gelehrt haben.“2
Doch was ist eigentlich genau gemeint, wenn von Haushalterschaft die Rede ist? Häufig herrscht die Meinung, daß hier nur von einer bestimmten Methode des Umgangs mit den irdischen Gütern und Gaben die Rede ist, wie sie sich nun einmal in der Situation der nordamerikanischen Kirchen, die ja allesamt Freikirchen sind, ergeben hat. Diese mußten die Mittel für ihr kirchliches und gemeindliches Leben selbst aufbringen, und dafür haben sie die Konzeption der Stewardship entwickelt, die für ihre Existenz und Wirksamkeit in der neuen Welt schlechthin entscheidend war.
Damit ist der ursprüngliche „Sitz im Leben“, den die Stewardship-Idee in ihren Anfängen hatte, sicher richtig umschrieben, und auch heute noch hat diese Seite in der Stewardship-Praxis ihre nicht zu unterschätzende Bedeutung, nicht nur für Nordamerika, sondern zunehmend für alle Kirchen der Welt. Insofern ist die Formel, die das „United Stewardship Council“ in USA schon 1946 gefunden hat, durchaus bedenkenswert: „Christliche Haushalterschaft ist die Praxis des systematischen und angemessenen Opfers an Zeit, Gaben und materiellem Besitz, gegründet auf die Überzeugung, daß alles dem Menschen von Gott gegeben ist, damit er es, in dankbarer Anerkennung der Erlöserliebe Christi, in Seinem Dienst am ganzen Menschengeschlechte nutze“.3
Doch als Definition dessen, was mit Stewardship/Haushalterschaft eigentlich gemeint ist, erscheint diese Formel zu eng, jedenfalls — und dies ist eine theologische Notwendigkeit — wenn man das Wesen der Haushalterschaft in biblischer Fundamentierung und Perspektive beschreiben will. Dazu dürfte sehr viel besser die Formel geeignet sein, die Clarence S. Stoughton, einer der seinerzeit führenden Lutheraner in der Stewardship-Bewegung, auf der Tagung des Lutherischen Weltbundes in Hannover 1952 entwickelt hat: „Christliche Haushalterschaft ist, was ich tue, nachdem ich gesagt habe: ich glaube. Es ist die Antwort meines ganzen Lebens an Christus, aus Dankbarkeit für seine unbegreifliche Liebe, die ihn am Kreuz sterben ließ. Es ist die Hingabe von allem, was ich bin, und allem, was ich habe, an ihn, damit es angewandt werde nach seinem Willen. Es ist die völlige Übergabe an Christus und williger Zeugendienst aufgrund solcher Übergabe. Es ist das Fruchtbringen meines Lebens. Es ist der Glaube im Tun. Es sind die ‚guten Werke‘, auf die Luther solches Gewicht legte, daß sie mit Notwendigkeit aus dem Glauben erwachsen müssen“.4
Wer mit geschärften Ohren auf diese Sätze hört, der hat es nicht schwer, darin Anklänge zu finden an das, was Luther in der Erklärung des zweiten Glaubensartikels über den Christenstand im Zusammenhang mit dem Glauben an Jesus Christus sagt: „… auf daß ich sein eigen sei und in seinem Reiche unter ihm lebe und ihm diene …“ Diese Anklänge sind nicht zufällig, wie sie auch keine bloße Reminiszenz sind. Sie ergeben sich vielmehr aus der Sache, denn im Kern ist Haushalterschaft eine Totalaussage über Wesen, Inhalt und Auftrag christlicher Existenz. Es ist eine Dimension, die das Leben des Christen in allen seinen Bezügen durchdringt und formt. „Sein Leben vom biblischen Haushalter-Gedanken bestimmen zu lassen, bedeutet darum, ständig neue Seiten der christlichen Verantwortung entdecken und sich dankbar unter diese Verantwortung zu stellen“.5
Mit Recht unterscheidet Brattgård darum zwischen einer „prinzipiellen“und einer „praktischen“ Seite der Haushalterschaft. „Wenn eine Gemeinde ihre Verantwortung erkannt hat und wenn der Gedanke der Haushalterschaft unter den Gemeindegliedern lebendig wird, dann fragt man nach dem, was der Augenblick fordert. Solche Arbeitsformen dürfen aber niemals mit der Haushalter-Idee gleichgesetzt werden.“
Diese gibt sich zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten jeweils anderen Ausdruck. In diesem Sinn ist die Haushalterschaft eine Totaldimension. Man könnte sie auch eine „Lebenshaltung“ oder einen „perspektivischen Fluchtpunkt“ nennen, „von dem aus man einen besonderen Blick auf den christlichen Glauben und das christliche Leben gewinnt“.6 Davon zu unterscheiden aber sind die Arbeitsformen, in denen die christliche Haushalterschaft Gestalt gewinnt: sie reichen von der Geldverwaltung bis zum Besuchsdienst, von der Mitarbeit in der Diakonie bis zum Mitsingen im Kirchenchor, von Verhalten in Wirtschaftsfragen bis zum verantwortlichen Einsatz für Frieden und Gerechtigkeit in der Welt.
Sicher wird man sagen müssen, daß die Welle der Auseinandersetzung mit dem Haushalterschaftsgedanken, wie sie in den fünfziger und sechziger Jahren mächtig aufbrandete, heute zurückgegangen ist. Dies bedeutet jedoch nicht, daß die Sache, um die es in der Haushalterschaft geht, an Gewicht verloren hätte. Hier muß man zwischen Begriff und Sache unterscheiden. Zwar ist der Begriff gegenwärtig in den Hintergrund getreten. Aber unsere weitere Untersuchung wird zeigen, daß die damit gemeinte Sache ihre Bedeutung nicht nur behält, sondern erst noch entfalten wird. Wir versuchen, dies in drei Problemkreisen darzustellen:
- Haushalterschaft als Bestimmung des Menschen;
- Haushalterschaft als Auftrag der Kirche;
- Haushalterschaft als Ausdruck christlicher Weltverantwortung.
I. Haushalterschaft als Bestimmung des Menschen
„Was ist der Mensch?“ So lautet nach Immanuel Kant eine der vier großen Grundfragen, mit denen sich die Philosophie aller Zeiten auseinanderzusetzen hat. Die Antworten darauf sind — wie sollte es anders sein — immer wieder sehr verschieden ausgefallen und sind es auch heute. Sehen die einen den Menschen als ein mit Intellekt begabtes, hochorganisiertes Säugetier, gleichsam als den „nackten Affen“, so haben die anderen die Vorstellung von einem gottähnlichen Wesen, das der höchsten moralischen und religiösen Leistungen fähig ist. Ist er nach der Meinung der Marxisten jener Prometheus, der den Schicksalsmächten trotzt und durch Revolution und gesellschaftliche Arbeit der Schöpfer einer wahrhaft humanen Welt wird, so ist er nach weitverbreiteter Anschauung nichts anderes als ein Bündel von Trieben und Emotionen, ein Staubkorn im großen Weltall, dessen Verschwinden keinerlei Spuren hinterläßt.
Die Bibel hat eine andere Antwort, sie sagt: Der Mensch ist Gottes Haushalter. Das ist sein Wesen, seine Würde und seine Bestimmung. Damit er dieser Bestimmung entsprechen kann, hat Gott ihn zu seinem Ebenbild gemacht und ihn mit seinem Lebensgeist ausgestattet (1.Mose 1,27 und 2,7). Aber nun soll er auch als Gottes Haushalter wirken. Dazu hat Gott ihm die Herrschaft über seine ganze Schöpfung anvertraut und für alles gesorgt, was zur Bewahrung, Versorgung und Vertiefung des Lebens dient. Zuletzt setzte er ihn in den Garten Eden, „daß er ihn bebaute und bewahrte” (1.Mose 2,15). Und er gab ihm den Mitmenschen, dessen „Hüter“ er sein soll (1.Mose 4,9). Was Gott also dem Menschen verliehen hat an Würde und Ausrüstung für den Daseinskampf, soll er nicht zur Selbsterhöhung brauchen oder um sich selbst einen Namen zu machen, sondern zur Pflege der ihm anvertrauten Erde und zur Obhut seines Bruders.
Das ist das Bild des Menschen als Gottes Haushalter in der Bibel: einzigartige Vollmacht. Er ist beauftragter Sachwalter, der die Möglichkeit hat, im Namen seines Herrn vollkommen selbständig zu handeln. Zugleich aber ist er von seinem Herrn abhängig. Ihm selbst gehört nichts, alles ist anvertrautes Gut, Leihgabe, über die am Ende Rechenschaft zu geben ist. Schon die ersten Blätter der Bibel machen deutlich, daß es Gott mit dieser Rechenschaft ernst ist —, sei es in der Geschichte vom Sündenfall, von Kain und Abel oder vom Turmbau zu Babel. Aber die Rechenschaft steht am Ende, während am Anfang die Bestimmung steht: Gottes Haushalter zu sein. Natürlich gibt Gott dazu auch seinen Schutz. Der Mensch ist in Gottes Haushalt geborgen, es sei denn, daß er diese Geborgenheit trotzig von sich wirft. Dann muß er ungeborgen in dieser Welt leben, wie das Schicksal Kains oder auch des verlorenen Sohnes zeigt (1.Mose 4,1ff und Lk 15,1ff).
Kein anderes Bild ist es, das Jesus von der Bestimmung des Menschen als Gottes Haushalter zeichnet. Er verwendet dieses Bild ja häufig (Mt 24,42—51; Mk 13,33—37; Lk 12,42—48; 16,1—9; u.ö.). Aber auch, wo der Begriff selbst nicht gebraucht wird, ist die Haushalterschaft der Sache nach deutlich erkennbar (Mt 24,14—30; 24,31—46; Lk 17,7—10 u.ö.). Wir müssen deshalb annehmen, daß über Haushalterschaftstexte in der frühen Christenheit sehr viel gepredigt wurde. Darauf weist auch die Tatsache hin, daß das Bild des Haushalters als Gleichnis für den Christenstand in den apostolischen Briefen auftaucht, vor allem bei Petrus und Paulus (1.Petr 4,10; 1.Kor 4,1; 1.Tim 6,20).
Fragen wir nun nach den Kennzeichen, die einen Haushalter Gottes charakterisieren, so nennt die Bibel — hier stimmen Altes und Neues Testament überein — drei Eigenschaften: die Treue, die Klugheit und das Verantwortungsbewußtsein.
An erster Stelle steht die Treue, und zwar deshalb, weil sie in jenem Vertrauen wurzelt, das Gott mit der Berufung des Menschen in seinen Dienst als Haushalter zum Ausdruck bringt. Vertrauen und Treue sind korrespondierende Begriffe; Vertrauen kann nur mit Treue beantwortet werden. Wo immer das Wort Haushalter im apostolischen Schrifttum auftaucht, klingt mit, daß dieser „treu geachtet” wird (1.Kor 4,2; 7,25; 1.Tim 1,12; 2.Tim 2,2).
Die große Versuchung für den Haushalter besteht ja darin, daß er, was seinem Herrn gehört, in einer Optik der Verblendung als sein persönliches Eigentum betrachtet und damit nach seinem Gutdünken umgeht. Damit aber enttäuscht er das Vertrauen seines Herrn; er wird seiner Bestimmung untreu, und nicht nur sein Verhältnis zu den anvertrauten Gütern, sondern auch zum Mitmenschen wird pervertiert (Mt 24,48—49; Lk 12,45).
Allerdings gibt es auch eine falsche Treue. Wir erkennen sie an dem dritten Knecht im Gleichnis von den anvertrauten Pfunden. Was tut dieser Knecht? Er läßt das Kapital, das ihm der Herr zugeteilt hat, nicht für diesen arbeiten, sondern vergräbt es (Mt 25,24ff). So verschleudert er zwar nicht das Gut seines Herrn, aber er tut auch nichts, um es zu mehren. Dies aber ist die falsche Treue, denn Haushalten heißt nicht einfach Erhalten und Verwalten, was überkommen ist, sondern — wie man es von einem rechten Haushalter erwartet — das übernommene Kapital auch arbeiten lassen.
Damit aber sind wir schon bei der zweiten Eigenschaft, die an Gottes Haushältern gesucht wird: Es ist die Klugheit. Jesus verwendet diesen Begriff ausdrücklich, als er seinen Jüngern das Gleichnis vom ungerechten Haushalter erzählt (Lk 16,1—9). Die Klugheit des ungerechten Haushalters bestand ja nicht darin, daß er seinen Herrn betrog, sondern daß er im rechten Augenblick tat, was für seine Zukunft entscheidende Bedeutung hatte. „Die Kinder in der Welt“, so sagt Jesus dann in Anknüpfung an dieses Gleichnis, „sind klüger als die Kinder des Lichtes Sie sollten von den Kindern der Welt Nüchternheit, Wirklichkeitssinn und Geistesgegenwart lernen. „Während der Hausherr auf sich warten läßt“, so sagt Brattgård, „können ganz neue und unerwartete Situationen eintreten, die selbständiges und kluges Handeln erfordern. Weil das Leben nie stillsteht, bringt jeder Tag andere Gebote für unsere Liebe mit sich, ist das alte Liebesgebot täglich ein neues Gebot (Joh 13,34; 1.Joh 2,7-11), ist jeder Tag ein Schöpfungstag der Liebe. Mit anderen Worten: Liebe darf nie in bestimmten Formen erstarren … Sie sucht ständig neue Wege und entdeckt immer neue Ziele …“7
Die dritte Eigenschaft, die einen Haushalter Gottes auszeichnen soll, ist das Verantwortungsbewußtsein. Es erwächst aus der Erkenntnis, daß der Tag kommt, an dem Rechenschaft gegeben werden muß über die Art und Weise, wie mit den anvertrauten Gütern umgegangen worden ist. Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14—30) und vom großen Weltgericht (Mt 25,31—46) weist Jesus deutlich und unmißverständlich auf diese Wahrheit hin. Darauf bezieht sich der Apostel Paulus, wenn er in seiner Auseinandersetzung mit der Gemeinde in Korinth menschlichen Richtgeist relativiert, der andere verurteilt. Richten ist ein Amt, das allein Gott zusteht (1.Kor 4,4f.); aber gerade dadurch bekommt es seinen Ernst und seine letzte Verbindlichkeit. Wer an dieses Gericht denkt, wird seiner Verantwortung vor Gott und Menschen bewußt und kann nicht anders, als dieser Verantwortung entsprechend zu handeln.
Damit stehen wir zugleich vor der Frage, worüber ein Haushalter Gottes denn eigentlich Rechenschaft ablegen soll. Natürlich sind wir geneigt, dabei zunächst an die Gaben der Schöpfung zu denken, die Gott uns anvertraut hat. Das nordamerikanische Luthertum spricht in diesem Zusammenhang von den drei „T“, in denen sich die schöpfungsmäßigen Gaben konkretisieren: Talents, Treasure, Time (Begabungen, Besitz, Zeit). Sie sollen nicht ausschließlich dem eigenen Nutzen dienen, sondern Gott und dem Nächsten zur Verfügung gestellt werden, damit durch sie Gottes Wille geschehe, sein Reich gebaut und sein Name verherrlicht werde.
Aber nicht nur die Gaben der Schöpfung, sondern ebenso die Gaben der Erlösung sind uns Menschen anvertraut, und wenn wir an Christus glauben, müssen wir uns auch als Haushalter seines Evangeliums verstehen. Gerade im Gleichnis von den anvertrauten Talenten wird das deutlich. Jesus will damit seinen Jüngern klarmachen, daß er ihnen für die Zeit nach seinem Heimgang zum Vater einen reichen Schatz hinterläßt, den sie in seinem Sinne treu, klug und verantwortungsbewußt verwalten sollen. Diesem Auftrag werden sie jedoch nicht gerecht, wenn sie das Evangelium vergraben und verstecken wie ein privates Gut, das nur ihnen allein gehört. Sie sollen es vielmehr arbeiten lassen wie ein Kapital, das Zinsen bringt. Christen — so dürfen wir daraus folgern — handeln falsch, wenn sie das ihnen verliehene Kapital des Glaubens nur für sich verwenden. Sie sollen es vielmehr hineinwerfen in die geistigen und sozialen Auseinandersetzungen ihrer Zeit, und sie sollen damit vor allem den Menschen dienen. Nur so erweisen sie sich als treue, kluge und verantwortungsbewußte Haushalter, wie Gott sie sucht und braucht und wie es der Bestimmung des Menschen entspricht.
II. Haushalterschaft als Auftrag der Kirche
Wir beginnen diesen Abschnitt damit, daß wir wieder eine grundlegende Frage stellen, und sie betrifft diesmal die Kirche. Mit vielen Zeitgenossen — kirchennah oder kirchenfremd — fragen wir: „Was ist eigentlich die Kirche?“Natürlich gibt es auch auf diese Frage heute höchst unterschiedliche Antworten. Sehen die einen in ihr eine Glaubensgemeinschaft, so reden andere von einer Institution, die sich hierarchisch aufbaut und den religiösen Bedürfnissen der Menschen gerecht zu werden versucht. Meinen die einen, Kirche sei mit ihren kulturellen, sozialen und therapeutischen Leistungen so etwas wie das Schmieröl der Gesellschaft, so beharren die anderen darauf, daß sie Sand im Getriebe sei und den Fortschritt der Menschheit nur aufhalte.
Das Neue Testament gibt andere Antworten. Es spricht von der Kirche als vom „Hause Gottes“ (1.Petr 2,5ff), vom „königlichen Priestertum“ (1.Petr 2,9), vom „heiligen Volk“, das zugleich als „wanderndes Gottesvolk“ (Hebr 3,7ff) charakterisiert wird. Wie man es auch drehen und wenden mag, in jedem Fall wird die Kirche nicht als Menschenwerk, sondern als eine Stiftung Gottes verstanden, durch seinen Geist ins Leben gerufen (Apg 2,1ff) und durch seinen Auftrag in ihrem Wesen geprägt (Eph 2,4ff). In der Terminologie der Haushalterschaft aber gibt es eine ganz besondere Perspektive, in der die Kirche gesehen wird: Sie ist die Hüterin der Geheimnisse Gottes, und wer in ihr lebt, hat teil an der Haushalterschaft über diese göttlichen Geheimnisse. In diesem Sinne schreibt Paulus: „Dafür halte uns jedermann: für Christi Diener und Haushalter über Gottes Geheimnisse …“ (1.Kor 4,1).
Was aber hat es mit diesen „göttlichen Geheimnissen“ auf sich? Was ist damit gemeint? Darüber äußert sich der Apostel, wenn er — vor allem im Epheserbrief (1,9ff; 3,3ff) — von der „Ökonomie Gottes“ spricht. Damit ist keineswegs eine besondere Wirtschafts- oder Verwaltungsordnung höherer Art gemeint, sondern gleichsam die Weltpolitik Gottes, „eine Bezeichnung für eine göttliche Gnadenordnung oder den göttlichen Heilsplan, durch den Paulus Einblick in das göttliche Geheimnis von der Erlösung der Völker erhalten hat …“ Brattgård, dessen Buch wir das vorliegende Zitat entnehmen, schreibt im gleichen Zusammenhang: „Der biblische Oikonomia-Begriff bezeichnet den allumfassenden Heilsplan Gottes, in dessen Mitte Christus steht … Wer in diesem Oikonomia-Zusammenhang lebt, schiebt alle menschlichen Spekulationen und Diskussionen beiseite und ist bereit, im Glaubensgehorsam den Erfordernissen des Planes Gottes zu dienen“ (1.Tim 4,7; 2.Tim 2,16.23; Tit 1,14; 3,9).8
Instrument und Werkzeug zur Erfüllung des göttlichen Heilsplanes sind jedoch nicht unzählige einzelne Christen, die mehr oder weniger Verbindung untereinander haben mögen, sondern ist die Kirche als eine von Gott gestiftete und berufene Gemeinschaft. Um diesen Sachverhalt zum Ausdruck zu bringen, gebraucht das Neue Testament — insbesondere der Apostel Paulus — gern das Bild vom Leib und den Gliedern. Das ist seine Vorstellung von der Kirche, von der Gemeinde Jesu Christi: Keine Organisation, die zu administrieren ist, sondern ein Leib mit vielen Gliedern, ein Aufgebot unterschiedlicher Gaben und Kräfte, ein Kosmos mannigfaltiger Aufgaben und Dienstleistungen. Wie in einem menschlichen Leibe jedes Glied eine besondere Funktion besitzt, so hat jeder, der im Glauben mit Christus als dem Haupt verbunden ist, eine bestimmte Aufgabe, in der sich seine Gliedschaft am Leibe Christi manifestiert: „Ihr seid der Leib Christi und Glieder, ein jeglicher nach seinem Teil. Und Gott hat gesetzt aufs erste die Apostel, aufs andere die Propheten, aufs dritte die Lehrer, danach die Wundertäter, danach die Gabe, gesund zu machen, Helfer, Regierer, mancherlei Sprachbegabungen“ (1.Kor 12,27f).
Die Vielfalt der Ämter und Dienste, die von Christus als dem Haupt zusammengehalten und gelenkt werden, setzt freilich voraus, daß Gaben und Kräfte vorhanden sind, die sich in konkrete Aufgaben und Dienste transformieren lassen. Von dieser Erfahrung aber ist der Apostel Paulus erfüllt, wenn er schreibt: „Es sind mancherlei Gaben; aber es ist ein Geist. Es sind mancherlei Ämter; aber es ist ein Herr. Es sind mancherlei Kräfte; aber es ist ein Gott, der da wirkt alles in allem. In einem jeden erzeigen sich die Gaben des Geistes zum gemeinsamen Nutzen“ (1.Kor 12,4ff).
Die Lehre von der Kirche als einem Leib mit vielen Gliedern und die Lehre von den Geistesgaben (Charismen) gehören also zusammen. Der holländische Theologe Hendrik Berkhof interpretiert diesen Zusammenhang in folgender Weise: „Nach Paulus empfängt jeder Christ zusätzlich zu Glaube, Hoffnung und Liebe (die gleichsam die ‚Grundausstattung‘ jedes Christen sind; d. Verf.) vom Geist eine besondere Gabe (Charisma) für den Aufbau des Leibes Christi“.9
Die paulinische Charismenlehre in ihrem gesamten Umfang zu entfalten, ist an dieser Stelle nicht möglich. Daß sie jedoch für den Apostel und die urchristlichen Gemeinden hellenischen Typs eine überragende Bedeutung hatte, ist durch die neuere Forschung erwiesen. Paulus selbst behandelt sie an nicht weniger als vier Stellen (Röm 12,6—8; 1.Kor 12,8—28; 14; Eph 4,11ff), deren wesentliche Aussagen wir uns kurz vergegenwärtigen wollen. Dabei interessiert vor allem, welche Kategorien von Charismen genannt werden und wie sie zu charakterisieren sind. Nach dem Neutestamentler Gerhard Friedrich lassen sie sich in folgende Gruppen aufteilen:10
- Das einmalige Charisma des Apostels;
- Charismen der Verkündigung (z.B. Prophetie, Lehre, Evangelisation, ethische Ermahnung, Seelsorge);
- Charismen der Diakonie (z.B. Üben von Barmherzigkeit, Beistand für Kranke und Schwache, Unterstützung von Armen, Witwen und Waisen);
- Charismen der Gemeindeleitung (z.B. Organisation, Führung, Aufsicht, Verwaltung);
- Charismen der besonderen Kräfte (z.B. Glaubensfähigkeit, Krankenheilung, Krafttaten);
- Charismen des Gebets (z.B. Singen, Beten, Zungenrede und deren Interpretation, Lobpreis und Anbetung Gottes).
Die Liste der Charismen ist niemals abgeschlossen, sondern grundsätzlich offen. „Alles steht unter charismatischer Möglichkeit und ist insofern heilig, als es die Heiligen gebrauchen.“11 Der Streit, ob man als Charismen nur solche Gaben bezeichnen sollte, die übernatürlichen Ursprungs sind, oder alle von Gott verliehenen Gaben, ist damit hinfällig, „Nicht die Faktizität des Übernatürlichen, sondern die Modalität des angemessenen Gebrauchs erweist ein Charisma als echt“.12
„Modalität des angemessenen Gebrauchs“ — dieses Stichwort verweist uns wieder ganz unmittelbar auf die Haushalterschaft und bringt uns die Kennzeichen eines rechten Haushalters in Erinnerung: treu, klug und verantwortungsbewußt. Im Anschluß an einen seiner Charismenkataloge (Röm 12,3—6) nimmt der Apostel Paulus diese Aufzählung zum Anlaß, eine ethische Anweisung dazu zu geben, die in dieselbe Richtung deutet. „Hat jemand Weissagung, so sei sie dem Glauben gemäß. Hat jemand ein Amt, so warte er des Amtes. Lehrt jemand, so warte er der Lehre. Ermahnt jemand, so warte er des Ermahnens. Gibt jemand, so gebe er einfältig. Regiert jemand, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s mit Lust“ (Röm 12,7f). Was Paulus hier mit anderen Worten beschreibt, sind nichts anderes als die Tugenden eines rechten Haushalters, der treu, klug und verantwortungsbewußt handelt.
Erörtern wir die „Modalität des angemessenen Gebrauchs“ der Charismen, so kann die Frage nach dem Wozu freilich nicht ausgeklammert werden. Eine gewisse Antwort auf diese Frage finden wir wiederum bei Paulus, wenn er vom „gemeinsamen Nutzen“ (1.Kor 12,7) oder von der „Besserung der Gemeinde“ (1.Kor 14,12) spricht. Noch deutlicher aber formuliert der Verfasser des 1. Petrusbriefes diese Antwort, wenn er schreibt: „Dienet einander, ein jeglicher mit der Gabe, die er empfangen hat, als die guten Haushalter der mancherlei Gnade Gottes!“ (1.Petr 4,10). Was sich in diesem Wort ausspricht, ist der Zusammenhang von Charisma und Diakonia, von Gabe und Aufgabe, von Gnade und Dienst, von Rechtfertigung und Heiligung, Charisma ist potentielle Diakonia, und Diakonia ist umgewandeltes Charisma. Wie Christus sich selbst entäußerte, um den Menschen zu dienen, so sollen auch die Christen die ihnen gegebenen Charismen in Dienst umsetzen zum Heil und Wohl für alle Menschen, die darauf warten. Hier ist Paul Philippi zuzustimmen, wenn er vom „genus diaconicum“ als grundlegendem Merkmal christlicher Existenz spricht und dazu feststellt: „Diakonie ist die christliche Qualifikation des Charisma“.13 Wir fügen hinzu: Dienstbereitschaft ist zugleich Ausdruck treuer, kluger und verantwortungsbewußter Haushalterschaft, ohne die die Gemeinde Jesu Christi ihren Auftrag in der Welt nicht ausführen kann. Hier liegt das Kriterium ihrer Eignung für die Aufgabe, die Gott ihr zugedacht hat.
Aber überfordern wir damit nicht die volkskirchliche Gemeinde, wie sie sich in unserer Gesellschaft heute darstellt? Dürfen wir auf Resonanz hoffen, wenn wir solche Gedanken aus der biblisch-theologischen Reflexion in die Wirklichkeit umsetzen wollen? Daß die Kirche des Evangeliums eine Kirche des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen sein müsse, haben schon die Reformatoren gefordert. Aber statt dessen kam das landesherrliche Kirchenregiment und die Pastorenkirche. So ist Hendrik Kraemer, dem bekannten holländischen Missionswissenschaftler, zuzustimmen, wenn er schreibt: „Um der Wahrheit willen muß man aussprechen, daß weder diese neue Auffassung von der Kirche noch die Ehrenrettung des Laien jemals herrschend geworden sind. Der vielgepriesene Grundsatz des ‚Priestertums aller Gläubigen‘ hatte in der neuen Welt Amerikas Folgen von weitreichender Bedeutung, aber in der alten Welt ist er eigentlich nie wirksam geworden. Bis zum heutigen Tage spielt er eher die Rolle einer Fahne (gegen Rom) als die eines energiespendenden, lebenswichtigen Grundsatzes“.14
Nur eine Ausnahme erkennt Kraemer an: „Im neunzehnten Jahrhundert, als die Welle der Entwicklung und Entchristlichung wirksam zu werden begann, hat Johann Hinrich Wichern, der Vater der Inneren Mission in Deutschland, versucht, die Grundsätze der Reformation in bezug auf das allgemeine Priestertum der Gläubigen neu zu beleben. Er faßte dies nicht nur in dem hergebrachten Sinne als direkte Beziehung zu Gott … auf, sondern ebenso als Verpflichtung zur ‚diakonia‘, die für alle Mitglieder der Kirche gilt“.15 In der Tat hat Wichern das Prinzip des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen in seinen Programmschriften immer wieder hervorgehoben und unterstrichen. Er hat es als konstitutiv für die Innere Mission angesehen, weil damit einerseits der Weg zu einer charismatischen Kirche geöffnet wird, in der alle Gaben und Kräfte der Christenheit zum Zuge kommen können und andererseits gerade über die Laien das Evangelium gestaltend in diese Welt hineinzuwirken vermag. Zweifellos hat Wichern dabei die große Zahl von Vereinen, Anstalten und Einrichtungen der Inneren Mission vor Augen, in denen Laien als ehrenamtliche Mitarbeiter führend tätig sind. „Dadurch sind viele durch den Geist Gottes erweckte Gaben (Charismen) an die Stelle gelangt, wo sie in dem freiwillig übernommenen Dienst der Liebe sich zum gemeinsamen Nutzen entfalten können. Charisma und Amt sind auf diesem Wege wieder zusammengetroffen … Das allgemeine Priestertum und das Amt heben nämlich einander nicht auf, sondern bilden in ihrem Zusammensein erst die Kirche in ihre rechte Gestalt hinein.“16
Einen neuen Schub in diese Richtung auf das allgemeine Priestertum der Gläubigen brachte dann der Kirchenkampf in der Zeit des Nationalsozialismus. Damals kam der Dienst des Laien zu neuer Ehre, und die Konsequenzen dieser Entwicklung wirkten bis tief in die Nachkriegszeit hinein. Die Entstehung des Evangelischen Hilfswerkes wie überhaupt die Entfaltung der Diakonie, der Volksmission, der Erwachsenenbildung und mancher anderer Aktivitäten wäre nicht denkbar ohne diese Anstöße. Aber bis heute hat es die Amtskirche schwer, die Kräfte und Gaben, die sich darin auswirken, in ihre Verfassung zu integrieren und sie den Ortsgemeinden richtig zuzuordnen. Der Impuls der Haushalterschaft wartet noch darauf, in diesem Zusammenhang erneuernd wirksam zu werden.
III. Haushalterschaft als Ausdruck christlicher Weltverantwortung
Sprechen wir in dem folgenden Abschnitt von „christlicher Weltverantwortung“, so stellt sich zunächst die Frage, was die „Welt“ nach dem Urteil der Bibel denn eigentlich ist. Natürlich ist sie auf der einen Seite der Inbegriff des Abfalls von Gott, der Empörung gegen seine Herrschaft, der Absage an seinen guten und gnädigen Willen. Aber durch die Menschwerdung Jesu Christi, sein Leiden, Sterben und Auferstehen, hat diese Welt, die ja eigentlich Gottes gute Schöpfung bleibt und die doch seit dem Sündenfall von Widerspruch, Feindschaft und Blutvergießen angefüllt ist, eine neue Qualität gewonnen. Sie ist nun nicht mehr nur Schauplatz der Sünde, sondern vielmehr der Verherrlichung Gottes, nicht bloß Acker des Bösen, sondern Erntefeld Jesu Christi; nicht lediglich Szenerie menschlichen Verderbens, sondern Gegenstand göttlicher Rettung. „Also hat Gott die Welt geliebt, daß er seinen eingeborenen Sohn gab …“ (Joh 3,16).
Die Gemeinde Jesu Christi steht deshalb nicht nur unter dem Gesetz der Sammlung und der eigenen Auferbauung, sondern ebenso der Sendung in die Welt. Als Leib Christi ist sie das Werkzeug dieser Sendung, und die Charismen sind das Kräftepotential des dafür erforderlichen Dienstes. In den Charismen, die Christus seiner Gemeinde gibt, will er sein Auferstehungsleben allen Menschen und, wie etwa die orthodoxe Kirche betont, dem ganzen Kosmos mitteilen. „Der Geist als Ursprung aller Gaben weist deshalb jeden einzelnen in der Gemeinde über sich selbst hinaus zum Dienst am Ganzen, und er weist die Gemeinde als Ganzes über sich hinaus zum Dienst an der Welt.“17
Christliche Haushalterschaft muß daher über die Grenzen der Gemeinde hinausdenken und an der Gestaltung dieser Welt verantwortlich mitwirken. Gerade hier, auf diesem Feld, muß sie sich bewähren.
In seiner „Theologie der Hoffnung“ beschreibt Jürgen Moltmann zwei Weisen, wie die Gemeinde, wie die Christen ihre Weltverantwortung wahrnehmen können und sollen: als „missionarische Verkündigung“ und als „schöpferische Nachfolge“.18
„Missionarische Verkündigung“ — das ist jene Bewegung, in der „das Wort des Evangeliums in diese Welt hineinwirken und jeden Menschen mit Hoffnung infizieren will“.19 Gemeint sind damit alle Bemühungen der Kirche, ihre eigenen Grenzen zu überschreiten und Menschen in den Wirkungsbereich des Evangeliums hineinzurufen. Sie zielen darauf ab, daß der Ruf zum Glauben auch Antwort findet und daß Menschen dadurch mit Gott, mit sich selbst und mit ihrem Nächsten versöhnt werden. Missionarische Verkündigung ist insofern Haushalterschaft, als das anvertraute Gut des Evangeliums nicht vergraben oder verborgen, sondern unter die Menschen gebracht wird, damit sie neues Leben, Leben aus Gott, empfangen und ein Ziel vor Augen haben: das Reich Gottes, das mit dem Wirken Jesu auf diese Erde begonnen hat, das der erhöhte Christus vollenden wird. Wo solche missionarische Verkündigung geschieht und wo sie auf fruchtbaren Boden fällt, da „vollzieht sich der Übergriff der Gemeinde auf die ganze Menschheit“.20
Dieser „Übergriff“ fängt vor der Haustür der Gemeinde an, denn die Zeiten sind längst vorbei, daß die Menschen in Europa ganz selbstverständlich zur Kirche gehörten und damit im Umkreis der Verkündigung des Evangeliums aufwuchsen. Der Prozeß der Entkirchlichung, der mit dem Industriezeitalter begann, hat inzwischen solchen Umfang erreicht, daß in manchen Großstädten 18—20 % die Kirche effektiv verlassen und sich von ihr getrennt haben. Damit beginnt unser eigenes Land mehr und mehr Missionsfeld zu werden, wobei dieser Entwicklung nur dadurch entsprochen werden kann, daß die gottesdienstlich versammelte Gemeinde nachdrücklich dazu angeleitet wird, sich auch als Missionsgemeinde zu verstehen und sich in der Haushalterschaft des anvertrauten Evangeliums zu bewähren.
Es ist darum kein Zufall, daß die Haushalterschaftsbewegung und die Volksmission von Anfang an ein enges Bündnis miteinander geschlossen haben. Was von den amerikanischen Christen in diesem Bereich zu lernen war, war vor allem der gemeindliche Besuchsdienst.21 Die Impulse dazu, die in den fünfziger und sechziger Jahren gegeben wurden, wirken bis heute fort, und der Besuchsdienst, anfangs beargwöhnt und als amerikanischer Import verdächtigt, ist inzwischen zu einer selbstverständlichen Form des missionarischen Gemeindeaufbaues geworden. Doch wichtiger als diese Arbeitsform ist das Konzept, das dahinter steht: Nicht der Pastor ist der Träger von Evangelisation und Mission, auch nicht einzelne charismatisch begabte Evangelisten, sondern die ganze Gemeinde. Ist auch nicht jeder Christ zur öffentlichen Verkündigung berufen, so soll er doch im Alltag Zeuge des Evangeliums sein und darin seine „Haushalterschaft über Gottes Geheimnisse“ bewähren. Nur in einem solchen Verständnis des Christseins können Kirchen und Gemeinden sich heute erneuern.22
Von dieser Konzeption her war auch das„Missionarische Jahr 1980“ entworfen. Es wollte keine spektakulären Großveranstaltungen inszenieren, deren Wirkung auf die Gemeinden ohnehin zumeist begrenzt ist, sondern wollte in der Gemeinde selbst den missionarischen Ansatz zur Entfaltung bringen. Sicher ist diese Absicht nur erst bruchstückweise gelungen, aber ein Signal ist gesetzt, und es wurde weithin verstanden. Evangelisation und Mission sind für viele Gemeinden inzwischen keine Fremdworte mehr, sondern als Aufgaben begriffen, die zur Existenz jeder rechten Gemeinde und zur Erfüllung ihres Auftrages gehören, in welchen Formen auch immer dieser missionarische Auftrag Gestalt gewinnt.
Indessen fängt das Missionsfeld zwar vor der Haustür der Gemeinde an, aber es endet dort nicht. Der Missionsbefehl weist ja bekanntlich „in alle Welt“und betrifft „alle Völker“ (Mk 16,15; Mt 28,19). Haushalterschaft des Evangeliums als der rettenden Botschaft für alle Menschen bedeutet deshalb Teilhabe an der Weltmission, Verantwortung für den Lauf des Evangeliums bis an die Enden der Erde. Gewiß haben sich die Formen geändert, in denen die abendländische Christenheit diesen Auftrag heute wahrzunehmen vermag. Aber dispensiert ist sie davon nicht, kann sie nicht sein, wenn der Gedanke der Haushalterschaft in seinem ganzen Umfang verstanden ist. Hier kann es auch keine Moratorien geben; vielmehr muß man der „Lausanner Verpflichtung“ von 1974 zustimmen, wenn sie sagt: „Gott hat in den jungen Kirchen eine große neue Quelle der Weltevangelisation entstehen lassen und zeigt damit, daß die Verantwortung für die Evangelisation der Welt dem ganzen Leib Christi zukommt. Jede Gemeinde soll daher Gott und sich selbst fragen, was sie tun muß, um nicht nur in ihrem eigenen Bereich zu wirken, sondern auch Missionare in andere Teile der Welt zu entsenden. Eine Überprüfung unserer Missionarischen Verantwortung muß ständig vollzogen werden. Auf die Weise wächst die Partnerschaft der Gemeinden, und der weltweite Charakter der einen Gemeinde Christi wird deutlich hervortreten.“
Missionarische Verkündigung —, das ist aber nur die eine Seite christlicher Haushalterschaft als Ausdruck ihrer Weltverantwortung. Die andere Seite heißt: „Schöpferische Nachfolge“. Emst Wolf war es, der diesen Begriff in die evangelische Sozialethik eingeführt und ihn in Anknüpfung an Gedanken Martin Luthers als „Selbsterniedrigung zum Dienst“ interpretiert hat: „Sein (sc. Luthers) Verständnis der Rechtfertigung dispensiert nicht vom Werk, sondern verschärft den Ruf in der Nachfolge, und da das Leben in der Heiligung das Widerfahrnis der Rechtfertigung zur Voraussetzung und das Dasein unter den Nöten dieser Welt zur Bedingung hat, vollzieht sich auch das Tun der Nachfolge als Akt der Solidarität mit den Nöten dieser Welt oder … als das Besorgen dessen, was dem Nächsten nützlich, förderlich und heilsam ist. Dabei weist das Wort ‚heilsam‘ zugleich über diese Welt hinaus“.23
„Solidarität mit den Nöten dieser Welt“, „Besorgen dessen, was dem Nächsten nützlich, förderlich und heilsam ist” —, was spiegeln diese Sätze anderes als eine Umschreibung jener Aufgabe, die wir „Diakonie“ nennen und deren Einbeziehung in die Haushalterschaft sich, wie wir bereits an früherer Stelle gezeigt haben, aus dem Wesen der Haushalterschaft selbst ergibt. Karl Barth hat dem Begriff „Diakonie“ eine Konkretion gegeben, der wir uns hier anschließen wollen, auch wenn wir sie für ergänzungsbedürftig halten: „Diakonie ist die Gestalt des Tuns der Gemeinde, in welcher sie a parte potiori den physisch und materiell Notleidenden innerhalb und außerhalb ihres Kreises beispringen und helfen will… Was in der Diakonie zu tun ist: Kranke, gebrechliche und dann wohl auch geistig verkümmerte oder doch bedrohte Menschen pflegen, verwahrloster Kinder sich annehmen, Gefangene betreuen, Flüchtlingen eine neue Heimat schaffen, gestrandeten und gescheiterten menschlichen Mitgeschöpfen aller Art eine hilfreiche Hand zu reichen — das sind … ihrem Wesen nach glanzlose Unternehmungen, die gerade nur als reiner, selbstloser Dienst in Angriff genommen und durchgeführt werden können, bei denen alles auch nur beiläufige Dominieren nur hinderlich sein und alles verderben könnte. Hier hat die Gemeinde die einzigartige Chance, ihr Zeugnis eindeutig eben als Zeugnisdienst zu vollziehen und sichtbar zu machen.“24
Treue, kluge und verantwortungsbewußte Haushalterschaft in diesem Bereich —, wie sieht sie aus? „Treu“, das kann hier doch nur bedeuten, auf der Spur Jesu selbst zu bleiben, der sich aller Menschen annahm, auch derer, die in der Gesellschaft nicht wohlgelitten waren. Damals hießen sie Zöllner und Dirnen; heute mögen sie Drogensüchtige, Nichtseßhafte oder Asylanten heißen. „Klug“, das zielt auf die Lernbereitschaft im Dienst, aber auch auf die Entdeckung und Wahrnehmung gesellschaftlicher Schäden die andere nicht erkennen. „Verantwortungsbewußt“, das heißt schließlich, die Nöte der Gegenwart im Horizont der letzten Rechenschaft zu sehen und aus dem Gleichnis vom Großen Weltgericht zu lernen, daß es dann mehr die unbewußten Versäumnisse und Unterlassungen sind, die uns anklagen werden, als die bewußte oder unbewußte Überschreitung irgendeines Gebots.
Doch der Katalog der Aufgaben, die mit dem Begriff der „schöpferischen Nachfolge“ in der konkreten Gestalt der Diakonie gemeint sind, ist damit weder erschöpft noch vollständig beschrieben. Es geht um größere Dimensionen. „Die Sendung der Kirche“, so sagt Jürgen Moltmann, „erfolgt nicht im Erwartungshorizont der sozialen Rollen, die die Gesellschaft der Gemeinde zubilligt, sondern geschieht in dem ihr eigenen eschatologischen Erwartungshorizont des kommenden Reiches Gottes, der kommenden Gerechtigkeit und der kommenden Freiheit und Würde des Menschen. Die Christenheit hat der Menschheit nicht zu dienen, damit diese Welt bleibe, was sie ist, sondern damit sie sich wandle und werde, was ihr verheißen ist … Die Hoffnung des Evangeliums hat nicht nur eine polemische und befreiende Beziehung zu den Religionen und Ideologien des Menschen, sondern viel mehr noch zum faktischen und praktischen Leben der Menschen und zu den Verhältnissen, in denen dieses Leben geführt wird … Sendung und Berufung der Christenheit fächern sich in den irdischen Berufen gleichsam in die Welt hinein aus in Diensten, Aufträgen und Charismen an der Erde und der menschlichen Gesellschaft. In den weltlichen Berufen dringt die Herrschaft Christi und die Freiheit des Glaubens in die Welt hinein als ‚Politia Christi‘.“25
Daß es eine „gesellschaftliche“bzw.„politische“ Diakonie gibt, haben wir gerade in der evangelischen Christenheit in Deutschland erst lernen müssen. In der Tradition der Reformation und der abendländischen Geistesgeschichte waren wir sehr viel stärker auf das Individuum konzentriert. Wir brauchen dieses Erbe gewiß nicht zu verleugnen — die „Kategorie des Einzelnen“ (S. Kierkegaard) wird ihre Gültigkeit immer behalten —, aber wir müssen hinzunehmen, daß der Mensch zugleich in soziale, kulturelle und politische Verhältnisse eingebunden ist, die dem Einzelnen vorgegeben sind.
Wir können diese Verhältnisse gewiß nicht so verändern, daß das Reich Gottes damit sichtbar wird. Vor solchen Utopien wird uns die Erkenntnis bewahren, daß Gott selbst es ist, der sein Reich vollendet, wobei wir bestenfalls seine „Mitarbeiter“ (1.Kor 3,9) oder „Wegbereiter“ (Mk 1,3 parr.) sein können. Aber dies sollen wir auch sein, und es könnte der Beginn einer aufregenden Revolution werden, würden wir Christen — gerade im gesellschaftlichen Bereich — als Gottes Haushalter mit jenen drei T (Talent, Treasure, Time) ernst machen, die wir eingangs erwähnt haben. Begabungen, Besitz und Zeit —, darin spiegeln sich doch alle Probleme, die heute die Welt bewegen und die soviel Unheil anrichten, weil sie mißbraucht werden. Was könnte geschehen, wenn die Christenheit „Alternativen“ anzubieten hätte, die den Gedanken der Haushalterschaft in größere Dimensionen transformieren und auch in gesellschaftliche Zusammenhänge hineinstellen würde. „Brot für die Welt“, Entwicklungshilfe oder „Diakonisches Jahr“ sind solche Alternativen: Zeichen, die in die richtige Richtung deuten. Aber sie rufen nach Fortsetzung, nach weiteren Zeichen. „Diese Welt“, so schreibt Jürgen Moltmann, „ist nicht der Himmel der Selbstverwirklichung, wie es im Idealismus hieß. Diese Welt ist nicht die Hölle der Selbstentfremdung, wie es in der romantischen und existentialen Belletristik heißt … Sie ist vielmehr die Welt des Möglichen, in der man der zukünftigen verheißenden Wahrheit, Gerechtigkeit und dem Frieden dienen kann.“26
Eine solche Auffassung öffnet den Raum, in dem der Mensch als Gottes Haushalter auch in der verwirrenden Welt von heute im Horizont des kommenden Gottesreiches wirken kann.
Quelle: Theodor Schober (Hrsg.), Haushalterschaft als Bewährung christlichen Glaubens. Gnade und Verpflichtung, Ludwig Geißel zum 65. Geburtstag gewidmet, Stuttgart: Verlagswerk der Diakonie, 1981, S. 24-40.
1 Helge Brattgård „Im Haushalt Gottes“, eine theologische Studie über Grundgedanken und Praxis der Stewardship, Berlin und Hamburg 1964, S. 9.
2 Vorwort zu Heinrich Rendtorff, „… als die guten Haushalter“, Neuendettelsau 1951.
3 Abgedruckt in Brattgård, S. 14.
4 Abgedruckt in Rendtorff, S. 9.
5 Brattgård, a.a.O., S. 15.
6 Brattgård, a.a.O., S. 249 und 251.
7 Brattgård, a.a.O., S. 66.
8 Brattgård, a.a.O., S. 56 f.
9 Hendrik Berkhof, Theologie des heiligen „Geistes“.
10 Gerhard Friedrich, „Geist und Amt”, in: Wort und Dienst, Jahrbuch der Theol. Schule Bethel 1952, S. 61 ff
11 Ernst Käsemann, „Amt und Gemeinde im NT“, in: Exegetische Versuche und Besinnungen, Göttingen 1964, S. 117.
12 Käsemann, a.a.O., S. 112.
13 Paul Philippi, „Christozentrische Diakonie“, Stuttgart 1963, S. 247.
14 Hendrik Kraemer, „Theologie des Laientums“, Zürich/Stuttgart 1959, S. 48 f.
15 Kraemer, a.a.O., S. 54.
16 J.H. Wichern, Sämtliche Werke, hrsg. von Peter Meinhold, Berlin 1958, Band I, S. 143.
17 Georg Eichholz, „Die charismatische Gemeinde“, Theol. Existenz heute, Neue Folge Nr. 77, München 1960, S. 26 f.
18 Jürgen Moltmann, „Theologie der Hoffnung“, München 1966, S. 302 und 308.
19 Moltmann, a.a.O., S. 302.
20 Moltmann, a.a.O., S. 302.
21 Vgl. dazu: Herbert Reich, „Besuchsdienst in christlicher Haushalterschaft“, Hannover 1961.
22 Vgl. dazu: T.A. Kantonen, „Lebendige Gemeinde“, Theologie der Haushalterschaft, Stuttgart 1958; Wilhelm Thomas, „Lebendige Gemeinde nach dem Neuen Testament“, Hannover 1962.
23 Ernst Wolf, „Schöpferische Nachfolge“, in: Spannungsfelder evangelischer Soziallehre, hrsg. von Friedrich Karrenberg und Wolfgang Schneiter, Hamburg 1960, S. 34.
24 Karl Barth, „Kirchliche Dogmatik“, Band IV/3, S. 1021.
25 Moltmann, a.a.O., S. 302 und 305.
26 Moltmann, a.a.O., S. 312.