Hayden White, Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie: „Die Tatsache, dass die Erzählung eine »historischen« wie »nichthi­storischen« Kulturen gemeinsame Diskursform ist und im mythi­schen wie im fiktionalen Diskurs überwiegt, macht sie als Form des Sprechens über »reale« Ereignisse verdächtig. Die nichtnarrative Sprechweise, wie sie in der Physik üblich ist, scheint der Darstel­lung »realer« Ereignisse angemessener. Dabei aber ist die Vorstellung von dem, was ein »reales« Ereignis ist, nicht von der Unter­scheidung zwischen »wahr« und »falsch« abhängig (denn dies ist eine Unterscheidung, die zur Ordnung der Diskurse und nicht zur Ordnung der Ereignisse gehört), sondern eher von der Differenzie­rung zwischen »real« und »imaginär« (die sowohl zur Ordnung der Ereignisse als auch zur Ordnung der Diskurse gehört). Man kann einen imaginären Diskurs über reales Geschehen schaffen, der, weil er »imaginär« ist, deshalb nicht weniger »wahr« zu sein braucht. Alles hängt davon ab, wie man das Wirken der menschlichen Imagi­nationsfähigkeit interpretiert.“

Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie

Von Hayden White

In der neueren Geschichtstheorie ist die Erzählung Gegenstand außerordentlich intensiver Diskussionen geworden. Aus einer ge­wissen Perspektive ist diese Tatsache erstaunlich, denn auf den ersten Blick sollte man glauben, daß es über Erzählung nicht viel zu diskutieren gibt. Erzählen ist eine Form des Sprechens, die so universell ist wie Sprache an sich, und die Erzählung ist eine dem menschlichen Bewußtsein so selbstverständlich erscheinende ver­bale Darstellungsform, daß es an Pedanterie grenzt, aus ihr ein Pro­blem zu machen.[1]

Doch gerade weil die narrative Darstellungsform dem mensch­lichen Empfinden so selbstverständlich scheint, weil sie so sehr ein Aspekt der Umgangssprache und des alltäglichen Diskurses ist, muß ihre Anwendung in jeder Art von Forschung, die den Rang einer Wissenschaft anstrebt, verdächtig sein. Denn abgesehen von allem, was eine Wissenschaft sonst noch auszeichnen mag: sie ist auch ein Verfahren, das die Art und Weise, in der Forschungsob­jekte beschrieben werden, einer ebenso kritischen Analyse unter­ziehen muß, wie die Art und Weise, in der ihre Strukturen und Pro­zesse erklärt werden. Aus dieser Sicht ist die Entwicklung der modernen Wissenschaften ablesbar am fortschreitenden Abbau narrativer Darstellungsformen zur Beschreibung der Phänomene, aus denen sich ihre spezifischen Forschungsobjekte zusammenset­zen. Diese Tatsache erklärt wenigstens zum Teil, warum das schlichte Thema »Erzählung« von Geschichtstheoretikern derzeit so breit diskutiert wird; denn für viele von denen, die die histo­rische Forschung gern in eine Wissenschaft umgewandelt sähen, ist der fortgesetzte Gebrauch narrativer Darstellungsweisen bei den Historikern ein Indiz für ein gleichermaßen methodisches wie theoretisches Versagen. Eine Disziplin, die über ihren Gegenstand narrative Schilderungen als Selbstzweck produziert, erscheint me­thodisch unsolide; eine Disziplin, die ihre Daten untersucht, um darüber eine Geschichte zu erzählen, erscheint theoretisch defizient.[2]

In der Geschichtsforschung ist die Erzählung jedoch im Grunde weder als das Produkt einer Theorie noch als Basis einer Methode begriffen worden. Sie galt eher als eine Form des Diskurses, die für die Darstellung historischer Ereignisse verwendet oder nicht ver­wendet werden kann, je nachdem ob primär eine Situation beschrie­ben, ein historischer Prozeß analysiert oder eine Geschichte (»story«) erzählt werden soll.[3] So gesehen wird der Erzählanteil in einer be­stimmten Darstellung variieren. Seine Funktion wird sich ändern, je nachdem ob die Erzählung als Selbstzweck oder lediglich als Mit­tel zu irgendeinem anderen Zweck konzipiert ist. Es ist nahe­liegend, daß der Anteil des Erzählens dort am größten ist, wo eine Geschichte erzählt werden soll. Er ist am geringsten in solchen Darstellungen, deren Intention in der Analyse der behandelten Er­eignisse besteht. Steht das Erzählen einer Geschichte im Vorder­grund, konzentriert sich das Problem der Narrativität auf die Frage der wahrheitsgetreuen Darstellung historischer Ereignisse, wenn diese Strukturen und Prozesse aufweisen, wie sie üblicherweise in bestimmten Formen des »imaginativen« Diskurses vorgefunden werden, also in fiktionalen Texten wie Epen, Märchen, Mythen, Romanzen, Tragödien, Komödien, Farcen usw. Was demnach »hi­storische« von »fiktionalen« Geschichten unterscheidet, ist in erster Linie ihr Inhalt und weniger ihre Form. Historische Ge­schichten haben reale Geschehnisse zum Inhalt; ein tatsächlich stattgefundenes Geschehen und nicht imaginäre Ereignisse, Ereig­nisse, die vom Erzähler erfunden wurden. Dies impliziert, daß die Form, in der sich historische Ereignisse dem künftigen Erzähler präsentieren, eher vorgefunden als konstruiert wird.

Für den narrativen Historiker besteht die historische Methode in der Untersuchung der Dokumente, um entscheiden zu können, welches die wahre oder plausibelste Geschichte ist, die sich auf­grund des gefundenen Beweismaterials über die Ereignisse erzäh­len läßt. So verstanden ist eine wahre narrative Schilderung nicht das Produkt der poetischen Talente des Historikers wie im Falle der narrativen Schilderung imaginärer Ereignisse, sondern notwendi­ges Resultat des richtigen Einsatzes einer historischen »Methode«. Die Form des Diskurses, die Erzählung, fügt dem Inhalt der Dar­stellung nichts hinzu, sondern ist vielmehr ein Abbild der Struktur und der Prozesse der realen Ereignisse. Insoweit als diese Darstel­lung den geschilderten Ereignissen gleicht, darf sie als wahre Dar­stellung betrachtet werden. Die in der Narration erzählte Ge­schichte ist eine »Mimesis« der Geschichte, die in irgendeinem Be­reich der historischen Realität erlebt wurde. Da sie deren genaue Imitation ist, kann sie als wahre Darstellung gelten.

In der traditionellen Geschichtstheorie wurde – zumindest seit Mitte des 19. Jahrhunderts – die über die Vergangenheit erzählte Geschichte unterschieden von der wie auch immer gearteten Erklä­rung des »wann, wo und wie« der in der Geschichte berichteten Er­eignisse. Nachdem der Historiker die wahre Geschichte des Ge­schehens entdeckt und sie in einer Erzählung exakt dargestellt hatte, durfte er die erzählende Redeweise aufgeben und sich sozu­sagen mit eigenen Worten direkt an den Leser wenden. Ihm unter­breitete er seine wohlbegründeten Ansichten als Kenner des menschlichen Lebens und ließ sich darüber aus, was die von ihm er­zählte Geschichte über die spezielle Eigenart der untersuchten Epoche, der lokalen Gegebenheiten, der Akteure, Handlungen und Prozesse (soziale, politische, kulturelle und so weiter) aus­sagte. Dieser Aspekt des historischen Diskurses wurde von einigen Theoretikern als reflektierende (»dissertative«) Darstellungsform bezeichnet, die sich nach Form und Inhalt von der Erzählung un­terschied.[4] Ihre Form war die der logischen Demonstration, ihr In­halt gab die Meinung des Historikers zu den Ereignissen wieder, die sich entweder auf die Ursachen oder auf die Bedeutung für das Verstehen der jeweiligen Ereignistypen bezog, deren Exemplifika­tion die erlebte Geschichte war. Dies bedeutete unter anderem, daß für die Bewertung des reflektierenden Teils eines historischen Dis­kurses andere Kriterien gelten mußten als für die des narrativen Teils. Die vom Historiker vorgelegte Abhandlung war eine Interpre­tation dessen, was er für die reale Geschichte hielt, während seine Erzählung eine Darstellung dieser wahren Geschichte war. Ein be­stimmter historischer Diskurs mag faktisch exakt und in narrativer Hinsicht so wahr sein, wie es das Beweismaterial zuläßt; dennoch kann er hinsichtlich seines reflektierenden Aspekts als falsch, un­gültig oder inadäquat bewertet werden. Die Fakten sind möglicher­weise wahrheitsgetreu herausgearbeitet, ihre Interpretation aber ist verfehlt. Umgekehrt kann eine bestimmte Interpretation der Ereig­nisse einleuchtend, brilliant, luzid und so weiter sein und dennoch nicht durch die Fakten belegt oder mit der im narrativen Teil des Diskurses erzählten Geschichte übereinstimmen. Doch ungeach­tet der jeweiligen Vorzüge des narrativen und des reflektierenden Aspekts eines historischen Diskurses: der narrative war fundamental, der reflektierende sekundär. Croce prägte den berühmten Satz: »… außerhalb der Erzählung … gibt es keine Geschichte«.[5] Bevor nicht die reale Geschichte ermittelt und die wahre Geschichte er­zählt war, gab es nichts spezifisch Historisches zu interpretieren.

Diese aus dem 19. Jahrhundert stammende Ansicht über Eigenart und Funktion der Erzählung im historischen Diskurs fußte indes auf einer Ambiguität. Einerseits galt die Erzählung als nur eine Form des Diskurses, eine Form, deren Inhalt die Geschichte war. Andererseits war diese Form selbst ein Inhalt, weil davon ausgegan­gen wurde, daß historische Ereignisse sich in der Realität als Ele­mente und Aspekte von Geschichten manifestieren. Die Form der erzählten Geschichte folgte notwendig aus der Form der von den historischen Akteuren erlebten Geschichte. Welche Rolle aber spielten solche, zwar durch Quellen belegte Ereignisse und Pro­zesse, die sich nicht in einer Geschichte, sondern lediglich als Ge­genstand der Betrachtung in anderer diskursiver Form wie etwa Enzyklopädien, Epitomen, Graphiken, Bildern, Statistiken oder Serien usw. darstellen ließen? Waren solche »Gegenstände« deshalb »unhistorisch« und gehörten womöglich gar nicht zur Historie; oder zeigte sich in der Möglichkeit, sie in einer nichtnarrativen Dis­kursform darstellen zu können, eine Begrenztheit der narrativen Methode und sogar eine Voreingenommenheit hinsichtlich dessen, was als historisch betrachtet werden konnte?

Hegel hatte darauf insistiert, daß eine spezifisch historische Seinsweise mit einer narrativen Darstellungsform durch eine »innerliche gemeinsame Grundlage« verknüpft sei.[6] Diese Grundlage war für ihn nichts anderes als die Politik, die sowohl die Vorbedingung für ein das historische Bewußtsein prägendes Interesse an der Vergan­genheit als auch die pragmatische Basis für die Produktion und Be­wahrung jener Art von Aufzeichnungen war, die eine historische Forschung überhaupt erst ermöglichten:

»… es ist dafür zu halten, daß Geschichtserzählung mit eigentlich ge­schichtlichen Taten und Begebenheiten gleichzeitig erscheine; … Fami­lienandenken, patriarchalische Traditionen haben ein Interesse innerhalb der Familie und des Stammes; der gleichförmige Verlauf ihres Zustandes ist kein Gegenstand für die Erinnerung … Aber der Staat erst führt einen Inhalt herbei, der für die Prosa der Geschichte nicht nur geeignet ist, son­dern sie selbst mit erzeugt.«[7]

Mit anderen Worten, für Hegel war der Inhalt (oder Referent) (»referent«) des spezifisch historischen Diskurses nicht die reale Ge­schichte der Ereignisse, sondern die besondere Beziehung zwischen einer öffentlichen Gegenwart und einer Vergangenheit, die ein mit einer Verfassung ausgestatteter Staat ermöglichte.

»Die tiefere Empfindung überhaupt, wie die der Liebe, und dann die reli­giöse Anschauung und deren Gebilde sind an ihnen selbst ganz gegen­wärtig und befriedigend, aber die bei ihren vernünftigen Gesetzen und Sitten zugleich äußerliche Existenz des Staates ist eine unvollständige Ge­genwart, deren Verstand zu ihrer Integrierung des Bewußtseins der Ver­gangenheit bedarf.«[8]

Daher die Ambiguität des Begriffs »Geschichte«; sie »vereinigt in unserer Sprache die objektive sowohl als die subjektive Seite und bedeutet ebensogut die historiam rerum gestarum als die res gestas selbst; sie ist das Geschehene nicht minder wie die Geschichtserzählung«. Diese Ambiguität, sagt Hegel, »müssen wir für höherer Art als für eine bloß äußerliche Zufälligkeit ansehen«.[9] Es war weder Erzählung per se, durch die sich die Historiographie von anderen Formen des Diskurses unterschied, noch war es die Realität der er­zählten Ereignisse, die historische von anderen Erzählungen unter­schied. Es war das Interesse an einer spezifisch politischen Form der menschlichen Gemeinschaft, die eine bestimmte historische Form der Forschung ermöglichte; und die politische Natur dieser Form der Gemeinschaft, die zu ihrer Darstellung eine narrative Form erforderte. So betrachtet hatte die Geschichtsforschung ihr eigenes Forschungsobjekt, nämlich »die großen Kollisionen zwi­schen den bestehenden, anerkannten Pflichten, Gesetzen und Rechten und den Möglichkeiten, … welche diesem System ent­gegengesetzt sind, …«[10]; sie besaß ihr eigenes Ziel, nämlich die Schilderung dieser Arten von Konflikten, und ihre eigene Darstel­lungsform, nämlich die (Prosa) Erzählung. Fehlen in einem Dis­kurs Gegenstand, Zweck oder Darstellungsform, so kann er zwar immer noch zu einer Erkenntnis beitragen, er ist jedoch kein voll­ständiger Beitrag zur historischen Erkenntnis.

Hegels Auffassung von der Eigenart des historischen Diskurses macht explizit, was in der herrschenden Geschichtsforschung des 19. Jahrhunderts implizit eingeräumt wurde: nämlich ein Interesse an der politischen Geschichte, das sich indes oft hinter vagen Be­teuerungen eines Interesses an der Narration um ihrer selbst willen verbarg. Anders ausgedrückt: die doxa der historischen Zunft be­trachtete die Form des historischen Diskurses – was ihr als die wahre Geschichte galt – als den Inhalt des Diskurses, während der wirkliche Inhalt, d. h. die Politik, in erster Linie bloß als Vehikel oder Anlaß für das Geschichten-Erzählen präsentiert wurde. Ob­wohl auf die politische Geschichte spezialisiert, sah die Mehrheit der aktiven Historiker des 19. Jahrhunderts in ihrer Arbeit weniger einen Beitrag zu einer politischen Wissenschaft, sondern eher einen Beitrag zu einer politischen Kunde über nationale Gemeinschaf­ten. Die narrative Form ihrer Diskurse entsprach voll dieser Inten­tion. Darin äußert sich jedoch sowohl die mangelnde Bereitschaft, die Geschichtsforschung zu verwissenschaftlichen, als auch, und dies muß als das wichtigere betrachtet werden, eine Abneigung ge­genüber der Vorstellung, die Politik könnte zum Objekt wissen­schaftlicher Forschung werden, zu der die Historiographie einen Beitrag leisten könnte.[11] Mehr als jedes offene Eintreten für ein bestimmtes politisches Programm oder eine spezielle Sache trägt gerade dieser Aspekt dazu bei, daß die professionelle Geschichts­schreibung des 19. Jahrhunderts als ideologisch geprägt empfun­den werden kann. Wenn aber Ideologie bedeutet, die Form eines Dings als Inhalt oder als das Wesentliche zu betrachten, dann ist die Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts deshalb ideologisch, weil sie die typische Form ihres Diskurses, die Narration, als In­halt, d.h. als Narrativität auffaßt. Sie behandelt die »Narrativität« als ein Wesenselement, das sowohl Diskursen als auch Ereignisfol­gen gemeinsam ist.

Im Zusammenhang solcher Überlegungen können wir es wagen, jene Diskussionen zu charakterisieren, die im Westen in den letzten zwei oder drei Jahrzehnten zum Problem der Erzählung in der Ge­schichtstheorie stattgefunden haben. In dieser Auseinandersetzung lassen sich vier grundlegende Richtungen unterscheiden:

– Erstens jene bestimmten anglo-amerikanischen Philosophen der analytischen Schule (Walsh, Gardiner, Dray, Gallie, Morton White, Danto, Mink); diese Wissenschaftler versuchen, den epistemologi­schen Status von Narrativität als eine für die Erklärung historischer Ereignisse und Prozesse – im Gegensatz zu natürlichen Ereignis­sen – besonders geeignete Form der Explanation zu etablieren.[12]

– Zweitens jene sozialwissenschaftlich orientierten Historiker, für die die Mitglieder der »Annales« als exemplarisch gelten können. Diese Gruppe (Braudel, Furet, Le Goff, Le Roy Ladurie etc.) wer­tete die narrative Historiographie als nichtwissenschaftliche, sogar als ideologierepräsentierende Strategie, deren Ausrottung für die Umwandlung der historischen Forschung in genuine Wissenschaft unerläßlich sei.[13]

– Drittens jene semiologisch orientierten Literaturtheoretiker und Philosophen (Barthes, Foucault, Derrida, Todorov, Julia Kristeva, Benveniste, Genette, Eco), die Erzählung in allen Versionen unter­sucht haben und sie lediglich als diskursiven »Code« unter anderen Codes betrachten, der für die Darstellung von »Realität« geeignet oder nicht geeignet sein kann, abhängig allein von der pragmati­schen Absicht des jeweiligen Sprechers.[14]

– Viertens jene hermeneutisch orientierten Philosophen wie Gadamer und Ricoeur, die die Erzählung als die Manifestation im Diskurs einer spezifischen Art von Zeitbewußtsein oder Zeitstruktur auf­gefaßt haben.[15]

– Eine fünfte Kategorie ließe sich hinzufügen in Gestalt jener Hi­storiker, die keiner bestimmten philosophischen oder methodo­logischen Richtung angehören, sondern eher vom Standpunkt der doxa des Berufsstandes als Verteidiger des Handwerks der Ge­schichtsforschung auftreten und denen zufolge die Erzählung eine absolut respektable Art und Weise ist, Geschichte zu »betreiben« (wie es J. H. Hexter formuliert) oder zu »praktizieren« (wie Geoff­rey Elton sagen würde).[16] Diese Gruppe repräsentiert jedoch weni­ger eine theoretische Position, sondern verkörpert eine traditionell eklektizistische Haltung in der Geschichtswissenschaft – ein Eklektizismus, der wiederum ein gewisses Mißtrauen gegenüber der Theorie als einem Hindernis für die eigentliche Praxis der histo­rischen Forschung, die als empirische Forschung verstanden wird, of­fenbart.[17] Für diese Gruppe bedeutet die narrative Darstellung kein signifikantes theoretisches Problem. Es genügt daher, diese Position lediglich zu erwähnen als die doxa, gegen die sich eine wirklich theoretisch orientierte Forschung entwickeln muß. Wir können uns nun solchen Positionen zuwenden, für die die Erzählung zum Problem und damit zum Anlaß für theoretische Erwägungen wird.

Die von der Gruppe der »Annales« gegenüber der narrativen Hi­storie eingenommene Haltung war äußerst kritisch, wenngleich sie sich auch auf eher polemische als eindeutig theoretische Weise arti­kulierte. Narrative Geschichte galt den »Annales« bloß als die Ge­schichte ver­gangenen politischen Geschehens und überdies als eine nur der augenblicklichen Lage Rechnung tragende politische Ge­schichte »dramatischer« Konflikte und Krisen, die sich für »romanhafte« Darstellungen von eher »literarischem« als genuin »wis­senschaftlichem« Charakter anboten. Braudel hat diesen Sachver­halt folgendermaßen formuliert:

» … die narrative Historie, die Ranke so sehr am Herzen lag, bietet uns … einen Schimmer, aber keine Erleuchtung; Fakten, aber keine echte Humanität. Man muß sehen, daß diese narrative Historie immer von sich behauptet, sie berichte die ›Dinge so, wie sie wirklich gewesen sind« … In Wirklichkeit aber ist narrative Historie auf verdeckte und indirekte Art eine Interpretation, eine authentische Philosophie der Geschichte. Für den narrativen Historiker ist das menschliche Leben beherrscht von dramatischen Ereignissen, von den Taten jener außergewöhnlichen Figu­ren, die gelegentlich auftauchen und die oftmals Herren ihres eigenen Schicksals und viel mehr noch des unseren sind. Wenn sie von ‚allgemei­ner Geschichte« sprechen, meinen sie in Wirklichkeit das Sich-Überkreuzen solch außergewöhnlicher Schicksale, denn es liegt auf der Hand, daß jeder Held an einem anderen Helden gemessen werden muß. Ein Trug­schluß, wie wir alle wissen … «[18]

Diese Haltung wurde auch von anderen Mitgliedern der »Annales« weitgehend pauschal übernommen (wie Furets Beitrag in diesem Band zeigt); dies allerdings eher im Sinne einer Rechtfertigung ihres Eintretens für eine Geschichtsschreibung, die sich mit der Analyse »langfristiger« Trends in Demographie, Ökonomie und Ethnologie, d. h. mit »unpersönlichen« Prozessen befaßt, denn als Anreiz einer Analyse der »Erzählung« als solcher sowie dem Grund für ihre tausendjährige Popularität als der »eigentlichen« Form der historischen Darstellung.[19]

Es muß deutlich gesagt werden, daß die »Annales« ihre Ableh­nung der narrativen Historie ebensosehr auf ihre Mißbilligung der konventionellen thematischen Ausrichtung dieser Geschichts­schreibung, i.e. des politischen Geschehens der Vergangenheit, gründeten, wie auch auf ihre Überzeugung, daß narrative Ge­schichte ihrem Wesen nach eher »romanhaft« und »dramatisie­rend« als »wissenschaftlich« sei.[20] Ihre Überzeugung, daß sich po­litische Sachverhalte aufgrund ihres flüchtigen Charakters und ihres Status als Randphänomene solcher Prozesse, die für die Ge­schichte von grundlegender Bedeutung scheinen, einer wissen­schaftlichen Erforschung entziehen, stand im Einklang mit dem Scheitern der modernen Politologie (für diesen nützlichen Begriff bin ich Topolski zu Dank verpflichtet), eine echte politische Wis­senschaft zu schaffen. Die Zurückweisung von Politik als geeigne­tem Forschungsobjekt einer wissenschaftlichen Historiographie ergänzt indes in bemerkenswerter Weise die Voreingenommenheit der Historiker des 19. Jahrhunderts hinsichtlich der Unerwünscht­heit einer verwissenschaftlichten Politik. Die Behauptung, eine politische Wissenschaft sei unmöglich, ist natürlich ebenso ideo­logisch wie die Behauptung, eine derartige Wissenschaft sei nicht wünschenswert.

Was aber hat die Erzählung mit all dem zu tun? Die Vertreter der »Annales« erheben den Vorwurf, es liege in der Natur der Narrativität, ihren Gegenstand zu »dramatisieren« oder »romanhaft« zu gestalten, gerade so, als ob es in der Geschichte keine dramatischen Ereignisse gäbe oder, wenn es sie denn gibt, als ob sie aufgrund ihres dramatischen Charakters kein geeigneter Gegenstand histo­rischer Untersuchungen sein könnten.[21] Was ist von diesem selt­samen Meinungswirrwarr zu halten? Man kann »narrativisieren«, ohne zu dramatisieren, wie die gesamte moderne Literatur beweist; ebenso kann man dramatisieren, ohne zu »theatralisieren«, wie das moderne Theater seit Pirandello und Brecht eindeutig gezeigt hat. Mit welchem Recht darf man daher die Erzählung mit der Begrün­dung verdammen, sie habe ein »romanhaftes« Resultat? Der Ver­dacht drängt sich auf, daß es nicht die »dramatische« Natur des Ro­mans ist, um die es hier geht, sondern das Mißbehagen an einer literarischen Gattung, die eher menschliche Akteure als unpersön­liche Prozesse in den Mittelpunkt stellt und zu verstehen gibt, daß diese Akteure in signifikanter Weise ihr eigenes Schicksal kontrol­lieren.[22] Aber Romane sind so wenig notwendig »humanistisch« wie notwendig »dramatisch«. Wie dem auch sei, das Problem »freier Wille kontra Determinismus« ist ebenso ideologisch wie die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer politischen Wis­senschaft. Ohne die positiven Leistungen der »Annales« im Hin­blick auf eine Reform der Geschichtswissenschaft beurteilen zu wollen, muß daher der Schluß gezogen werden, daß die von ihnen angeführten Gründe für ihre Unzufriedenheit mit der »narrativen Geschichte« dürftig sind.

Nun kann es allerdings sein, daß einige ihrer Äußerungen zu die­sem Thema nur das Stenogramm einer viel umfassenderen Analyse und Dekonstruktion von Narrativität sind, die in den sechziger Jahren von Strukturalisten und Poststrukturalisten ausging. Sie ver­suchten nachzuweisen, daß die Erzählung nicht nur ein Werkzeug von Ideologien, sondern das eigentliche Paradigma des ideologisie­renden Diskurses schlechthin ist.

Dies ist nicht der Ort für eine weitere Darstellung von Struktura­lismus und Poststrukturalismus, deren es bereits mehr als genug gibt.[23] Die Bedeutung dieser beiden Bewegungen für die Diskus­sion der narrativen Geschichte soll indes kurz skizziert werden. Sie ist nach meinem Dafürhalten dreifacher Art: anthropologisch, psy­chologisch und semiologisch. Aus der anthropologischen Perspek­tive, wie sie vor allem Claude Lévi-Strauss repräsentiert, war weni­ger die »Erzählung« problematisch als die »Geschichte« selbst.[24] In seiner berühmten gegen Sartres Kritik der dialektischen Vernunft ge­richteten Polemik bestritt Lévi-Strauss die Validität der Unterschei­dung zwischen »historischen« (oder »zivilisierten«) und »prähisto­rischen« (oder »primitiven«) Gesellschaften. Damit verneinte er auch die Legitimität der Vorstellung von einer spezifischen »Me­thode« zur Erforschung und zur Darstellung der Strukturen und Prozesse der ersteren. Die Art der Erkenntnis, die die sogenannte »historische Methode« angeblich lieferte, und das heißt »histori­sche Erkenntnis«, war, nach Lévi-Strauss, kaum vom Mythen­schatz »wilder« Gesellschaften zu unterscheiden. In Wahrheit war Geschichtsschreibung – und Lévi-Strauss meinte damit die tradi­tionelle »narrative« Geschichtsschreibung – nichts anderes als der Mythos der westlichen, insbesondere der modernen, bürgerlichen, imperialistischen Industriegesellschaften. Der Kern dieses Mythos bestand in der Verwechslung einer Darstellungsmethode – der Erzählung – mit einem Inhalt, d. h. dem Begriff einer Menschheit, die ausschließlich mit jenen Gesellschaften identifiziert wird, die im Stande sind zu glauben, daß sie die ihnen von den westlichen Hi­storikern über ihre Vergangenheit erzählten Geschichten auch wirklich erlebt haben. Die historische, und das heißt die diachrone Darstellung von Ereignissen ist eine Analysemethode, wie Lévi-Strauss einräumte, aber sie ist »eine Methode, der kein genaues Objekt entspricht« und noch weniger eine Methode, die für ein Verstehen der »Menschheit« oder »zivilisierter Gesellschaften« be­sonders adäquat wäre.[25] Die Darstellung von Ereignissen in der chronologischen Ordnung ihres Auftretens, die Lévi-Strauss als die putative »Methode« der Geschichtswissenschaft bezeichnete, ist für ihn nichts anderes als ein heuristisches Verfahren, wie es in allen Bereichen wissenschaftlicher Forschung, ob Natur oder Kul­tur, vorkommt. Es geht der Anwendung aller Analysetechniken voraus, die zur Bestimmung der gemeinsamen Eigenschaften jener Ereignisse als den Elementen einer Struktur erforderlich sind.[26]

Die für dieses Anordnungsverfahren eingesetzte spezielle chrono­logische Skala ist stets kulturspezifisch und zufällig, ein rein heuri­stisches Werkzeug, dessen Validität von den jeweiligen Intentionen und Interessen der wissenschaftlichen Disziplinen abhängt, in denen es zum Einsatz kommt. Es ist wichtig zu betonen, daß es, nach Lévi-Strauss, nicht nur eine einzige Skala für die Anordnung der Ereignisse gibt, sondern ebenso viele Chronologien, wie es kul­turspezifische Darstellungsweisen für das Vergehen von Zeit gibt. Weit davon entfernt, eine Wissenschaft oder auch nur die Basis einer Wissenschaft zu sein, konnte die narrative Darstellung eines belie­bigen Ereigniszusammenhangs bestenfalls als protowissenschaftli­che Übung und im schlimmsten Falle als Basis für eine Art kulturel­len Selbstbetrugs gelten. »Das Fortschreiten der Erkenntnis und die Schaffung neuer Wissenschaften geschieht durch Erzeugung von Gegengeschichten, die beweisen, daß eine bestimmte Ord­nung, die nur auf einer (chronologischen) Ebene möglich ist, auf einer anderen aufhört, möglich zu sein.«[27]

Lévi-Strauss hat dabei keineswegs die Erzählung als solche abge­lehnt. Sein Monumentalwerk Mythologien war im Gegenteil darauf gerichtet, die zentrale Bedeutung der Narrativität für die Struk­turierung des kulturellen Lebens in allen seinen Formen zu demon­strieren.[28] Sein Protest richtete sich jedoch gegen die Zweckent­fremdung der Narrativität als der »Methode« einer »Wissenschaft«, die vorgibt, als Forschungsobjekt eine »Menschheit« zu haben, die besser in ihren »historischen« als in ihren »prähistorischen« Mani­festationen erkennbar ist. Seine Kritik richtete sich daher vor allem gegen jenen »Humanismus«, auf den die westliche Zivilisation so stolz war, dessen ethische Prinzipien sie jedoch eher brach als be­folgte. Es war dies derselbe »Humanismus«, den Jacques Lacan in seiner Revision der psychoanalytischen Theorie zu unterminieren suchte, den Louis Althusser aus dem modernen Marxismus verban­nen wollte und mit dem Michel Foucault einfach abgerechnet hatte als der Ideologie der westlichen Zivilisation in ihrer repressivsten und dekadentesten Phase.[29] Für alle diese Wissenschaftler – und ebenso für Jacques Derrida und Julia Kristeva – waren nicht nur die »Historie« schlechthin, sondern insbesondere die »Narrativität« einfach nur Darstellungspraktiken, mit deren Hilfe die Gesell­schaft sich ein menschliches »Subjekt« schuf, das den Lebensbedingungen im modernen Rechtsstaat besonders angepaßt war.[30] Ihre Argumentation ist zu vielschichtig, um in unserem Kontext vorge­stellt zu werden; die Eigenart ihrer feindseligen Haltung gegenüber einer »narrativen« Geschichtskonzeption soll indes eine kurze Analyse von Roland Barthes’ Aufsatz Le discours de l’histoire (1967) verdeutlichen.

Barthes greift in diesem Aufsatz die dem Historizismus in jeglicher Form zugrundeliegende Unterscheidung zwischen »historischem« und »fiktionalem« Diskurs an. Der für seine Argumentation ge­wählte Angriffspunkt ist jene Form von Geschichtsschreibung, die eine narrative Darstellung vergangener Ereignisse und Prozesse bevorzugt. Barthes fragte sich:

»Unterscheidet sich die Narration vergangener Ereignisse, die in unserer Kultur seit den Griechen allgemein der Sanktionierung durch die Geschichts-›Wissenschaft‹ unterworfen war, gebunden an die herrschende Norm des ›Realen‹ und legitimiert durch die Prinzipien der »rationalem Darlegung – unterscheidet sich diese Form der Narration wirklich in ir­gendeinem spezifischen Zug, einem unzweifelhaften, entscheidenden Merkmal von der imaginativen Narration, wie sie uns in Epik, Roman und Drama begegnet?«[31]

Aus der Art der Fragestellung geht eindeutig hervor – wie die in An­führungszeichen gesetzten Begriffe »Wissenschaft«, das »Reale« und »rational« verdeutlichen –, daß Barthes’ Angriff in erster Linie der prahlerischen Objektivität der traditionellen Historiographie galt, indem er die ideologische Funktion der narrativen Darstellungs­weise aufdeckte, mit der sie verknüpft war.

Wie schon in den Mythen des Alltags ging es Barthes weniger um eine Gegenüberstellung von Wissenschaft und Ideologie als viel­mehr um die Unterscheidung zwischen progressiven und reaktio­nären, befreienden und unterdrückenden Ideologien.[32] In Le discours de l’histoire zeigte er, daß es verschiedene Möglichkeiten der Darstellung von Geschichte gibt, von denen einige weniger »my­thologisch« sind als andere, insofern sie die Aufmerksamkeit offen auf ihren Entstehungsprozeß lenken und eher auf die »gemachte« als auf die »vorgefundene« Natur ihrer Referenten verweisen. Nach seiner Auffassung aber hinkte der traditionelle histo­rische Diskurs sowohl der modernen Wissenschaft als auch der modernen Kunst hinterher, die beide – laut Barthes – den erfundenen Charak­ter ihrer »Inhalte« signalisieren. Die historische Forschung war unter den Disziplinen, die Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erho­ben, die einzige, die ein Opfer dessen blieb, was er »den Trugschluß der Referentialität« nannte. Barthes formulierte diesen Sachverhalt folgendermaßen: »Wie wir allein schon durch die Betrachtung sei­ner Struktur, und ohne erst das Eigentliche seines Inhalts ausfindig machen zu müssen, erkennen können, ist der historische Diskurs seinem Wesen nach eine Art ideologischer Konstruktion oder, ge­nauer ausgedrückt, eine imaginäre Konstruktion…« Damit meinte er einen »Sprechakt« mit »Performanz«-Charakter, »durch den der den Diskurs Äußernde (eine rein sprachliche Entität) den Platz des Subjekts der Äußerung (eine psychologische oder ideolo­gische Entität) ›ausfüllt‹«.[33]

Es ist zu beachten, daß Barthes’ Interesse in erster Linie einem mit einer »narrativen Struktur« versehenen historischen Diskurs gilt, auch wenn er sich hier auf ihn allgemein bezieht. Dies aus zwei Gründen: erstens erscheint es ihm paradox, daß die »narrative Struktur, die ursprüng­lich im Schmelztiegel der Fiktion (in My­then und den frühesten Epen) entwickelt worden war«, in der tradi­tionellen Historiographie »zugleich Zeichen und Beweis von Rea­lität« geworden sein sollte.[34] Schwerwiegender aber ist der zweite Grund: In Anlehnung an Lacan wurde für Barthes die Erzählung zum Hauptinstrument, mit dem die Gesellschaft das narzisstische, infantile Bewußtsein in eine »Subjektivität« umformte, die fähig ist, die »Verantwortlichkeiten« eines dem Gesetz Unterworfenen in allen seinen Formen zu übernehmen.

Beim Erlernen der Sprache, so Lacan, erlernt das Kind auch den Inbegriff des geordneten, normalen, den Normen entsprechenden Verhaltens. Bei der Entwicklung der Fähigkeit, »Geschichten« auf­zunehmen und zu erzählen, lernt es jedoch auch, wie Barthes hin­zufügt, was es heißt, jenes Wesen zu sein, das, nach Nietzsche, in der Lage ist, Versprechungen zu machen, sich sowohl »nach vorn« als auch »zurück« zu erinnern. Es verknüpft damit sein Ende auf solche Weise mit seinem Anfang, daß es jene »Integrität« aufweist, die jedes Individuum besitzen muß, wenn es »Subjekt« eines (belie­bigen) Rechts-, Moral- oder Sittensystems werden will. Das »Ima­ginäre« an jeder Art von narrativer Schilderung ist die Illusion eines zentrierten Bewußtseins, das die Fähigkeit besitzt, auf die Welt zu blicken, ihre Strukturen und Prozesse zu erfassen und sie sich so darzustellen, als ob sie alle Elemente der formalen Kohärenz der Narrativität selbst besäßen. Das aber bedeutet, so Barthes, einen »Sinn« (der immer konstituiert, und nicht vorgefunden ist) mit »Realität« (die immer vorgefunden, und nicht konstituiert ist) zu verwechseln.[35]

Es braucht nicht eigens erwähnt zu werden, daß diese Formulie­rung auf einer Menge höchst problematischer, Sprache, Diskurs, Bewußtsein und Ideologie betreffender Theorien beruht, die insbe­sondere mit den Namen von Jacques Lacan und Louis Althusser verbunden sind. Barthes bediente sich dieser Theorien für seine eigenen Zwecke. Dieser Zweck bestand in nichts geringerem als in der Demontage des gesamten Erbes des »Realismus« des 19. Jahr­hunderts, den Barthes als den pseudowissenschaftlichen Inhalt jener Ideologie betrachtete, die sich den Anschein eines »Humanis­mus« in höchster Vollendung gab.

Für Barthes war es daher kein Zufall, daß sich »Realismus« im Roman des 19. Jahrhunderts und »Objektivität« in der Geschichts­schreibung des 19. Jahrhunderts Seite an Seite entwickelt hatten. Beiden gemeinsam war die Abhängigkeit von einer spezifisch narra­tiven Form des Diskurses, deren vorrangiger Zweck in der heim­lichen Substitution eines konzeptuellen Inhalts (eines Signifikats) anstelle eines Referenten bestand, den sie lediglich zu beschreiben vorgab. In seiner grundlegenden Schrift Introduction à l’analyse structurelle des récits (1966) schreibt Barthes:

»Behauptungen, die den «Realismus« der Erzählung betreffen, sind des­halb nur zum Teil richtig … Die Funktion der Erzählung besteht nicht darin, ›darzustellen‹, sondern ein Schauspiel zu bieten … Eine Erzäh­lung zeigt nicht, imitiert nicht… Was in einer Erzählung «geschieht«, ist vom referentiellen Standpunkt (Realität) aus gesehen buchstäblich nichts; «was geschieht«, ist allein die Sprache, das Abenteuer der Sprache, die unaufhörliche Feier ihrer Ankunft.«[36]

Diese Passage bezieht sich natürlich auf Erzählung schlechthin, doch die genannten Prinzipien könnten ebensogut auf die histori­sche Erzählung ausgedehnt werden. So gesehen wird klar, warum er am Schluß von Le discours de l’histoire darauf insistiert, daß »… in der ›objektiven‹ Historie das ›Reale‹ nie mehr ist als ein nichtfor­muliertes Signifikat, das hinter dem scheinbar allmächtigen Refe­renten Schutz sucht. Diese Situation charakterisiert, was man den realistischen Effekt (›effet de réel‹) nennen könnte.«[37]

Zu dieser Konzeption von Erzählung und ihrer vermuteten ideo­logischen Funktion wäre noch viel zu sagen, nicht zuletzt über die Psychologie, auf der sie aufbaut, und über die Ontologie, die sie voraussetzt. Sie ist – offensichtlich – eine Reminiszenz an Nietzsches Gedanken über Sprache, Literatur und Geschichtsschrei­bung, die aber hinsichtlich des Problems des historischen Bewußt­seins nicht viel zu sagen hat, was über Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben und Zur Genealogie der Moral hinausgehen würde. Diese Anlehnung an Nietzsche wird von Poststrukturalisten wie Derrida, Kristeva und Foucault offen zugegeben, und es ist diese nietzscheanische Wendung im französischen Denken der letzten 20 Jahre, durch die sich die Poststrukturalisten von ihren stärker »wissenschaftlich« orientierten strukturalistischen Vorläu­fern, wie Lévi-Strauss, Roman Jakobson und dem frühen Barthes, unterscheiden. Überflüssig zu betonen, daß der Poststrukturalis­mus wenig gemein hat mit den Bestrebungen jener Historiker der »Annales«, die davon träumten, die historische Forschung in eine Art von Wissenschaft umzuwandeln. Die »Dekonstruktion« von Narrativität, wie sie von Barthes und den Poststrukturalisten be­trieben worden war, deckt sich jedoch mit den von der »Annales« erhobenen Einwänden gegen die narrative Darstellungsform in der Historiographie.

Barthes Formulierung der Problematik einer »narrativen« Histo­rie verdeutlicht indes den signifikanten Unterschied zwischen der Diskussion dieses Themas im Frankreich der Sechziger jahre und jener während der vorangegangenen Jahrzehnte im Umkreis der anglophonen Philosophie, die damals von der analytischen Philo­sophie beherrscht war. Der markanteste Unterschied zu den von Frankreich ausgehenden Angriffen besteht in der Konsistenz, mit der analytische Philosophen Erzählung als eine vollkommen be­rechtigte Form der Darstellung und der Erklärung historischer Sachverhalte verteidigten. Zwar lieferten verschiedene Philoso­phen verschiedene Begründungen für diese Auffassung. Aber im Gegensatz zur Diskussion in Frankreich wurde die narrative Ge­schichtsschreibung mehrheitlich nicht als Ideologie verstanden, sondern eher als Gegenmittel gegen die verhängnisvolle »Geschichtsphilosophie« ä la Hegel und Marx, hinter denen man den ideologischen »Achsnagel« »totalitärer« politischer Systeme ver­mutete.

Doch auch hier waren die Konturen der Diskussion verwischt durch die Frage nach dem Rang der Historie als einer Wissenschaft und der Debatte über die Art der epistemologischen Autorität, die historische Erkenntnis im Vergleich zu den von der Physik geliefer­ten Erkenntnissen beanspruchen durfte. Selbst im marxistischen Lager wurde heftig diskutiert; in den siebziger Jahren erreichte die Auseinandersetzung ihren Höhepunkt am Beispiel der Frage, in­wieweit eine marxistische »wissenschaftliche« Historiographie die Form des narrativen statt des eigentlich angemessenen analytischen Diskurses annehmen durfte. Die dabei zur Sprache gebrachten Probleme waren jenen nicht unähnlich, durch die sich auch die »Annales« von ihren traditionelleren Berufskollegen unterschie­den. Allerdings drehte sich die Diskussion hier viel weniger um Narrativität als um das Problem von »Materialismus kontra Idea­lismus«.[38] Insgesamt aber stellten weder Historiker noch Phi­losophen, ob Marxisten oder Nichtmarxisten, die Legitimität einer spezifisch »historischen« Forschung ernsthaft in Frage, wie es Lévi-Strauss in Frankreich getan hatte; auch die Adäquatheit der Erzählung zur wahrheitsgetreuen und objektiven Darstellung der mit welchen historischen Methoden auch immer gewonnenen »Wahrheiten« wurde nicht angezweifelt, wie es Foucault und Barthes in Frankreich taten. Solche Fragen wurden zwar von eini­gen Sozialwissenschaftlern gestellt, doch angesichts der Dürftig­keit ihres eigenen Anspruchs an methodische Strenge und der Un­erheblichkeit ihrer »Wissenschaftlichkeit« erwiesen sie sich für die Frage einer »narrativen Historie« als wenig ergiebig.[39]

Die Unterschiede zwischen diesen beiden Richtungen in der Dis­kussion der historischen Erzählung brachten aber auch die grund­sätzlich verschiedenen Konzeptionen in bezug auf die Natur des Diskurses schlechthin ans Licht. In der Literatur- und Sprachtheo­rie gilt als Diskurs normalerweise jeder beliebige Äußerungszu­sammenhang, der größer ist als der (komplexe) Satz. Welches sind nun die Prinzipien der Diskursbildung, die den für die Satzbildung zuständigen grammatischen Regeln entsprächen? Es leuchtet ein, daß diese Prinzipien ihrerseits nicht grammatisch sind, denn es ist möglich, Ketten von grammatikalisch richtigen Sätzen zu bilden, die sich nicht zu einem erkennbaren Diskurs verbinden oder ver­schmelzen.

Es ist offensichtlich, daß für die Rolle des Organon der Diskurs­bildung die Logik in Betracht kommt, deren Gesetze für die Bil­dung aller »wissenschaftlichen« Diskurse zuständig sind. Im poeti­schen Diskurs macht die Logik allerdings auch anderen Prinzipien wie etwa Phonetik, Reim, Metrum usw. Platz, die die Verletzung lo­gischer Gesetze im Interesse der Erzeugung einer formalen Kohä­renz anderer Art erforderlich machen und legitimieren. Hinzu kommt die Rhetorik, die zum Prinzip der Diskursbildung in sol­chen Sprechsituationen wird, die eher auf Überredung oder Anreiz zum Handeln als auf Deskription, Demonstration oder Explika­tion gerichtet sind. Auch wenn sowohl im poetischen als auch im rhetorischen Sprechen die Kommunikation einer Botschaft über irgendeinen extrinsischen Referenten involviert ist, können die Funktionen der »Expression« einerseits und der »Konation« ande­rerseits einen übergeordneten Rang einnehmen. Daher erlaubt die Unterscheidung zwischen »Kommunikation«, »Expression« und »Konation«, bezogen auf ihre Funktion, eine Differenzierung zwi­schen den verschiedenen Regeln der Diskursbildung, von denen die Logik nur eine und keineswegs die wichtigste ist.

Wie Roman Jakobson sagt, hängt alles von der Einstellung zu der im fraglichen Diskurs enthaltenen »Botschaft« ab.[40] Ist die Vermitt­lung einer Botschaft über einen extrinsischen Referenten das pri­märe Ziel des Diskurses, dann können wir sagen, daß die Funktion der Kommunikation überwiegt; der fragliche Diskurs wird dann hinsichtlich der Klarheit seiner Formulierung und seines Wahr­heitswertes (der Validität der gelieferten Information) zu bewerten sein. Wenn andererseits die Botschaft primär zum Anlaß wird, die emotionale Situation des Diskurssprechers auszudrücken (wie oft­mals in der Lyrik) oder um im Rezipienten der Botschaft eine Ein­stellung hervorzurufen, die eine bestimmte Handlungsweise zur Folge hat (wie in hortatorischen Reden), dann ist der fragliche Dis­kurs weniger aufgrund seiner Klarheit oder seines Wahrheitswertes in bezug auf seinen Referenten zu bewerten als hinsichtlich der Überzeugungskraft seiner Performanz – eine rein pragmatische Überlegung.

Dieses Funktionsmodell des Diskurses stuft Logik, Poetik und Rhetorik gleichermaßen auf den Rang von »Codes« zurück, mit­tels derer unterschiedliche Arten von »Botschaften« ausgedrückt und mit ganz verschiedenen Zielen übermittelt werden können: kommunikative, expressive oder konative, entsprechend dem je­weiligen Einzelfall.[41] Diese Ziele schließen sich keineswegs ge­genseitig aus; tatsächlich kann jeder Diskurs Aspekte aller drei Funktionen enthalten. Dies gilt für den »faktischen« wie für den »fiktionalen« Diskurs. Als Grundlage einer allgemeinen Theorie des Diskurses aber erlaubt uns dieses Modell zu fragen, wie insbe­sondere der narrative Diskurs diese drei Funktionen verwendet.

Von größerer Relevanz für das Ziel dieses Beitrags ist allerdings die Tatsache, daß uns dieses Modell zu sehen erlaubt, wie die gegenwär­tigen Diskussionen über die besondere Eigenart einer narrativen Historie eine Tendenz zur Ignorierung der einen oder anderen die­ser Funktionen verraten, um so entweder die narrative Geschichte für die »Wissenschaft« zu retten oder sie auf die Kategorie einer »Ideologie« zu reduzieren.

Fast alle Verteidiger der Erzählung als einer legitimen Art der hi­storischen Darstellung und als einer gültigen Form selbst der Ex­planation (zumindest für die Geschichte) unterstreichen die kom­munikative Funktion. So gesehen wird Geschichte zur »Botschaft« über einen »Referenten« (die Vergangenheit, historische Ereignisse usw.), deren Inhalt sowohl aus »Information« (die »Fakten«) als auch aus »Erklärung« (die »narrative« Schilderung) besteht. So­wohl die Fakten in ihrer Partikularität als auch die narrative Schil­derung in ihrer Generalität müssen ein Korrespondenz- und ein Kohärenzkriterium für ihren Wahrheitswert erfüllen. Das entspre­chende Kohärenzkriterium ist ohne Frage das der Logik eher als das der Poetik oder Rhetorik. Individuelle Propositionen müssen untereinander logisch konsistent sein, und die Prinzipien, die den syntagmatischen Zusammenhang regeln, müssen in konsistenter Weise angewandt werden. So kann beispielsweise ein früheres Er­eignis als Ursache eines späteren Ereignisses dargestellt werden, was umgekehrt jedoch nicht möglich ist. Dagegen kann ein späte­res Ereignis dazu beitragen, die »Bedeutung« eines früheren Ge­schehens zu erklären, nicht aber umgekehrt (zum Beispiel erklärt die Geburt Diderots nicht die Bedeutung von Rameaus Neffe, doch Rameaus Neffe erläutert sozusagen im Rückblick die »Bedeutung« von Diderots Geburt). Und so weiter …[42]

Anders verhält es sich mit dem Korrespondenzkriterium. Die spe­ziellen Existenzaussagen, aus denen sich die »Chronik« der histo­rischen Schilderung zusammensetzt, müssen nicht nur mit den Er­eignissen, deren Prädikationen sie sind, korrespondieren, sondern die Erzählung als Ganzes muß mit der allgemeinen Konfiguration der Ereignisfolge, deren Schilderung sie ist, »korrespondieren«. Das heißt: die Aufeinanderfolge der »Tatsachen«, wie sie miteinan­der verknüpft sind (»as they are emplotted«), um eine »Geschichte« aus dem zu machen, was sonst lediglich eine »Chronik« wäre, muß mit der allgemeinen Konfiguration der »Ereignisse« korrespondie­ren, deren propositionale Indikatoren »Tatsachen« sind.

Für diejenigen Theoretiker, die die Kommunikationsfunktion des narrativen historischen Diskurses betonen, ist die Korrespondenz der »Geschichte« zu den in ihr berichteten Ereignissen auf der Ebene des konzeptuellen Inhalts der »Botschaft« gegeben. Diesen konzeptuellen Inhalt hat man sich vorzustellen entweder als aus denjenigen Faktoren bestehend, die Ereignisse in Ursache-Wirkungs-Ketten verknüpfen, oder als die »Gründe« (oder »Intentio­nen«), die die menschlichen Akteure der betreffenden Ereignisse zu ihrem Tun motivieren. Die (notwendigen, wenngleich nicht hin­reichenden) Ursachen oder die (bewußten oder unbewußten) Gründe dafür, daß Ereignisse sich zutragen, wie sie sich wirklich zugetragen haben, werden in der Erzählung in der Form der Ge­schichte, die sie erzählt, zum Ausdruck gebracht.[43]

So gesehen ist die narrative Form des Diskurses nur ein Medium für die Botschaft, das nicht mehr Wahrheitswert oder informato­rischen Inhalt besitzt als jede andere formale Struktur, etwa ein lo­gischer Syllogismus, eine metaphorische Figur oder eine mathema­tische Gleichung. Als Code betrachtet entspricht die Erzählung einem Vehikel etwa in dem Sinne, in dem das Morsealphabet als Ve­hikel für die telegraphische Nachrichtenübermittlung dient. Dies bedeutet unter anderem, daß, so verstanden, der narrative Code nichts an Information oder Erkenntnis hinzufügt, was durch ein an­deres System der diskursiven Verschlüsselung nicht auch vermittelt werden könnte. Den Beweis dafür liefert die Tatsache, daß der In­halt jeder narrativen Schilderung eines realen Geschehens aus der Schilderung selbst extrahiert, in reflektierender (»dissertative«) Form dargestellt und denselben Kriterien der logischen Konsistenz und Stimmigkeit der Fakten unterzogen werden kann wie eine wis­senschaftliche Beweisführung. Die vom jeweiligen Historiker ent­worfene Erzählung kann inhaltlich mehr oder weniger »dicht« und in ihrer Ausführung mehr oder weniger »künstlerisch« sein; sie kann mehr oder weniger elegant formuliert sein – vergleichbar dem »Anschlag« unterschiedlicher Telegrafisten. Nach Meinung der Be­fürworter dieser Auffassung ist dies jedoch nur eine Frage des indi­viduellen »Stils« und nicht des »Inhalts«. »Wahrheitswert« besitzt in der historischen Erzählung allein der »Inhalt«. Alles andere ist »Ornament«.

Diese Deutung des narrativen Diskurses muß jedoch scheitern, wenn es darum geht, die gewaltige Menge verschiedener Arten von Erzählungen zu berücksichtigen, die jede Kultur denen zur Verfü gung stellt, die sich ihrer zur Verschlüsselung und Übermittlung von Botschaften bedienen wollen. Überdies besteht jeder narrative Diskurs nicht nur aus einem einzigen monolithisch gebrauchten Code, sondern vielmehr aus einer komplexen Reihe von Codes, deren Ineinanderweben (zur Herstellung einer Geschichte, die unendlich reich ist an Suggestivität und Varietät des Affektes, ganz zu schweigen von der Einstellung zu ihrem Gegenstand und seiner subliminalen Wertung) das Talent des Autors als Künstler, als dem Meister, nicht dem Diener der ihm zur Verfügung stehenden Codes unter Beweis stellt. Daher die »Dichte« solch relativ informeller Diskurse wie »Literatur« und »Dichtung« im Gegensatz zu den Diskursen der »Wissenschaft«. Laut dem russischen Texttheoreti­ker J. Lotman[44] ist der künstlerische Text in viel stärkerem Maße Träger von »Information« als der wissenschaftliche, weil ersterer mehr Codes und mehr Ebenen der Verschlüsselung verwendet als letzterer. Gleichzeitig lenkt der künstlerische Text im Gegensatz zum wissenschaftlichen die Aufmerksamkeit ebensosehr auf die bei seiner Produktion beteiligte Virtuosität wie auf die »Informa­tion«, die die verschiedenen bei seiner Entstehung verwendeten Codes vermitteln.

Es ist diese komplexe Vielschichtigkeit des Diskurses und seine daraus resultierende Kapazität, Träger eines breiten Interpreta­tionsspektrums seines Sinns zu sein, die das Performanzmodell des Diskurses zu untersuchen trachtet. Aus der Perspektive dieses Mo­dells erscheint der Diskurs eher als Apparat für die Produktion von Sinn denn nur als ein Vehikel für die Übermittlung von Information über einen extrinsischen Referenten. In dieser Konzeption besteht der »Inhalt« des Diskurses ebensosehr aus seiner Form wie aus der seiner Lektüre entnommenen Information.[45] Daraus folgt, daß eine Veränderung der Form des Diskurses nicht gleichbedeutend mit einer Veränderung der Information über seinen textexternen Refe­renten sein muß; mit Sicherheit aber würde dadurch der von ihm produzierte Sinn verändert.

Zum Beispiel: eine nur in der chronologischen Ordnung ihres ur­sprünglichen Erscheinens aufgelistete Ereignisreihe ist, ohne Lévi-Strauss zu nahe treten zu wollen, nicht bar eines Sinns. Ihr Sinn ist von genau der Art, wie ihn jede Auflistung erzeugt – wie der Ge­brauch dieses Verfahrens durch Rabelais und Joyce beweist. Eine Auflistung von Ereignissen kann nur eine »dünne« Chronik (wenn die einzelnen Details der Liste chronologisch präsentiert sind) oder eine »schlanke« Enzyklopädie (wenn eine topische Anordnung vorliegt) sein. In beiden Fällen wird die gleiche Information vermit­telt, aber ein unterschiedlicher Sinn produziert.

Eine Chronik aber ist keine Erzählung, selbst dann nicht, wenn sie als informatorischen Inhalt dieselbe Tatsachenreihe enthält, und zwar deshalb nicht, weil ein narrativer Diskurs eine andere Performanz besitzt als eine Chronik. »Chronologie« ist zweifel­los ein »Code«, den Chronik wie Erzählung besitzen; die Er­zählung aber verwendet auch noch andere Codes und produziert einen Sinn, der vom Sinn jeder Art von Chronik gänzlich verschie­den ist.

Das soll nicht heißen, daß der Code der Erzählung »literarischer« wäre als derjenige der Chronik – wie zahlreiche Historiker vorge­schlagen haben. Es bedeutet auch nicht, daß die Erzählung mehr oder umfassender »erklärt« als die Chronik. Der zentrale Punkt ist vielmehr, daß die Narrativisierung einen ganz anderen Sinn produ­ziert als die Chronikalisierung. Durch Narrativisierung wird den Ereignissen, die ihre eigene Chronik enthalten, aufgrund poetischer Mittel eine diskursive Form auferlegt. Der narrative Code ist also eher dem Performanzbereich der poiesis als dem der noesis entnom­men. Barthes bezog sich auf diesen Sachverhalt, als er sagte: »Die Erzählung zeigt nicht, imitiert nicht … (ihre) Funktion besteht nicht in der ›Darstellung‹, sondern in der Konstituierung eines Schauspiels …« (Kursivierung H. White)

Es ist allgemein anerkannt, daß eine Möglichkeit der Unterschei­dung des poetischen Diskurses vom prosaischen durch das stärkere Hervortreten von »patterns« in ersterem gegeben ist – eine Strukturiertheit durch Klang, Rhythmus, Metrum und so weiter-, die die Aufmerksamkeit auf die Form des Diskurses lenken, unabhängig davon (oder als Hinzufügung zu), welche »Botschaft« er auf der Ebene seiner wörtlichen verbalen Äußerungen auch immer enthält. Die Form des poetischen Textes produziert einen ganz anderen »Sinn« als alles, was in einer Prosaparaphrase seines wörtlichen ver­balen Inhalts wiedergegeben werden könnte. Dasselbe gilt aber auch für die verschiedenen Gattungen der Kunstprosa (oratorische Deklamation, juristischer Schriftsatz, Prosaromanze, Roman und so weiter), zu denen die historische Erzählung unleugbar gehört. Allerdings betrifft hier die Bildung der »patterns« weniger Klang und Metrum als vielmehr Rhythmen und Wiederholungen motivi­scher Strukturen, die zu Themen verschmelzen, und Themen, die sich zu »plot-Strukturen« verbinden. Das heißt natürlich nicht, daß sich solche Gattungen nicht auch der verschiedenen Codes der logischen Argumentation und der wissenschaftlichen Beweisfüh­rung bedienen; sie tun es in der Tat. Aber diese Codes haben nichts mit der Produktion jener Art von Sinn zu tun, die durch Narrativisierung entsteht.

In einigen narrativen Diskursen können Argumente in Gestalt von »Erklärungen« für das Warum eines bestimmten Geschehens eingebettet sein, die als direkte Anrede des Autors an den Leser ge­richtet und als solche wahrnehmbar sind. Solche Argumente aber sind eher als »Kommentar« denn als Teil der Erzählung zu verste­hen. Im historischen Diskurs dient die Erzählung dazu, eine Liste von geschichtlichen Ereignissen, die andernfalls nur eine Chronik wären, in eine Geschichte umzuwandeln. Für diese Transformation müssen die in der Chronik dargestellten Ereignisse, Akteure und Handlungen als »Geschichten-Elemente« (»story-elements«) co­diert, das heißt als diejenigen Arten von Ereignissen, Akteuren und Handlungen usw. gekennzeichnet werden, die als Elemente spezi­fischer »Geschichten-Typen« (»story-types«) wahrgenommen werden können. Auf dieser Ebene der Codierung lenkt der histori­sche Diskurs die Aufmerksamkeit des Lesers auf einen sekundären Referenten, der sich seinem Wesen nach von den Ereignissen, aus denen der primäre Referent zusammengesetzt ist, unterscheidet, nämlich auf die »plot-Strukturen« (»plot-structures«) der verschie­denen »Geschichten-Typen«, die in einer bestimmten Kultur vor­herrschend sind.[46] Wenn der Leser die in einer historischen Narra­tion erzählte Geschichte als eine spezifische Geschichten-Gattung, z.B. als Epos, Romanze, Tragödie, Komödie, Farce etc. wiederer­kennt, dann kann man sagen, daß er den vom Diskurs produzierten »Sinn« »verstanden« hat. Dieses »Verstehen« ist nichts anderes als das Wiedererkennen der »Form« der Erzählung.

Die Sinnproduktion kann in diesem Falle als Performanz betrach­tet werden, weil jede gegebene Reihe realer Ereignisse auf vielfäl­tige Weise innerlich verknüpft (»emplotted«) sein kann, weil sie tragfähig genug ist, um als beliebige Menge verschiedener Geschichten-Gattungen erzählt zu werden. Da keine Reihe oder Folge realer Ereignisse von sich aus »tragisch«, »komisch«, »farcenhaft« etc. ist, sondern erst durch die Auferlegung der Struktur eines entsprechen­den Geschichten-Typs auf die Ereignisse so konstituiert wird, ist es die Wahl des Geschichten-Typs und seine Auferlegung auf die Ereignisse, die ihnen Sinn verleihen. Der Effekt einer derartigen inneren Verknüpfung (»emplotment«) kann, wenn man so will, als »Erklä­rung« aufgefaßt werden, wobei allerdings zu berücksichtigen wäre, daß die in den verschiedenen Versionen der nomologisch-dedukti­ven Argumentation als allgemeine Gesetzmäßigkeiten fungieren­den Generalisierungen hier eher die Topoi literarischer »plots« sind als die Kausalgesetze der Wissenschaft.

Deshalb darf narrative Historie zu Recht als etwas anderes be­trachtet werden denn als wissenschaftliche Schilderung der behan­delten Ereignisse – wie die »Annales« richtig argumentiert hat. Das allein ist jedoch noch nicht Grund genug, der narrativen Ge­schichte einen realen »Wahrheitswert« abzusprechen. Narrative Historiographie mag, wie Furet feststellt, historische Ereignisse durchaus »dramatisieren« und historische Prozesse »romanhaft« gestalten, doch zeigt sich darin nur, daß die Wahrheiten, von denen narrative Geschichte handelt, einer anderen Ordnung angehören als die Wahrheiten ihres sozialwissenschaftlichen Gegenstücks. In der historischen Erzählung werden die für eine bestimmte Kultur oder Gesellschaft typischen Systeme der Sinnproduktion gegen die Fähigkeit einer beliebigen Reihe »realer« Ereignisse, sich solchen Systemen zu unterwerfen, getestet. Wenn diese Systeme ihre rein­ste, vollkommenste und formal kohärenteste Darstellung in der »li­terarischen« oder »poetischen« Ausstattung moderner, säkulari­sierter Kulturen finden, dann ist das noch lange kein Grund, sie als bloß imaginäre Konstrukte auszuschließen. Damit würde man leugnen, daß Literatur und Dichtung uns gültige Erkenntnisse über »Realität« vermitteln können.

Die Beziehung zwischen Historiographie und Literatur ist in der Tat ebenso heikel und schwierig zu definieren wie die Bezie­hung zwischen Historiographie und Wissenschaft. Dies resultiert zweifellos zum Teil daraus, daß die westliche Historiographie vor dem Hintergrund eines ausgeprägt »literarischen« (besser gesagt »fiktionalen«) Diskurses entstand, der sich seinerseits gegen den archaischeren »mythischen« Diskurs entwickelt hatte. Seinen Ur­sprüngen nach unterscheidet sich der historische Diskurs vom literarischen eher kraft seines Gegenstands (»reale« eher als »ima­ginäre« Ereignisse) als kraft seiner Form. Form hat hier allerdings eine doppelsinnige Bedeutung: sie bezieht sich nicht nur auf das of­fensichtliche Erscheinungsbild historischer Diskurse (ihre Erschei­nung als Geschichten), sondern auch auf die Systeme der Sinnpro­duktion (die Weisen des »emplotment«), die die Geschichtsschrei­bung mit »Literatur« und »Mythos« teilte. Dieser Anschluß von narrativer Historiographie an Literatur und Mythos sollte uns indes nicht in Verlegenheit bringen, weil die allen dreien gemeinsa­men Systeme der Sinnproduktion aus der historischen Erfahrung eines Volkes, einer Gruppe, einer Kultur herausdestilliert sind. Die von der narrativen Historie gelieferte Erkenntnis ist das Produkt der Überprüfung jener sinnproduzierenden Systeme, die ur­sprünglich im Mythos geformt worden waren und ihre Vervoll­kommnung in der Retorte des hypothetischen Modus der fiktiona­len Artikulation erfahren haben. In der historischen Erzählung werden die zu Fiktion destillierten Erfahrungen als Typisierungen auf ihre Leistungsfähigkeit, »reale« Ereignisse mit Sinn auszustat­ten, überprüft. Es wäre Kulturphilistertum in höchster Vollen­dung, wollte man den Ergebnissen dieser Überprüfung den Rang genuiner Erkenntnis verweigern.

Mit anderen Worten: ebenso wie mythische Inhalte durch die Fik­tion überprüft werden, geschieht dies auch mit den Formen der Fiktion durch die (narrative) Geschichtsschreibung. Wenn der In­halt narrativer Geschichtsschreibung in vergleichbarer Weise auf die Adäquatheit seiner Darstellung und Explanation einer anderen Ordnung von »Realität« als der von traditionellen Historikern vor­ausgesetzten überprüft wird, so sollte darin weniger ein Gegensatz zwischen »Wissenschaft« und »Ideologie« gesehen werden – eine von den »Annales« scheinbar häufig vertretene Ansicht –, sondern eher eine Fortsetzung jenes Prozesses der Vermessung des Grenz­verlaufs zwischen dem Imaginären und dem Realen, ein Prozeß, der mit der Erfindung der »Fiktion« beginnt.

Die historische Erzählung, als Erzählung, verhindert nicht etwa falsche Überzeugungen über vergangene Zeiten, menschliches Leben, die Natur der Gemeinschaft und so weiter. Ihre Leistung besteht darin, die Fiktionen einer Kultur auf ihre Fähigkeit zu über­prüfen, reale Ereignisse mit jenen Arten von Sinn auszustatten, den die Literatur dem Bewußtsein anbietet, indem sie »imaginäre« Er­eignisse zu patterns gestaltet. Exakt insoweit als die historische Er­zählung reale Ereignisreihen mit jener Art von Sinn ausstattet, der ansonsten nur im Mythos und in der Literatur zu finden ist, kön­nen wir sie zu Recht als das Produkt von Allegorese betrachten. Statt daher jede historische Erzählung als »mythisch« oder »ideo­logisch« zu betrachten, wäre es richtiger, sie als Allegorie zu verste­hen, das heißt: sie sagt etwas und meint etwas anderes.

Die Erzählung formt also den Ereigniszusammenhang, der als Primär-Referent dient, und verwandelt diese »Ereignisse« in Evo­kationen von Sinn-»patterns« – eine Leistung, wie sie die wörtliche Präsentation der »Ereignisse« als reine »Tatsachen« niemals hervor­bringen könnte. Das soll jedoch nicht heißen, daß ein historischer Diskurs nicht auch aufgrund des Wahrheitswertes seiner faktischen Aussagen (speziellen Existenzaussagen), für sich genommen, und aufgrund der logischen Verbindung der gesamten Aussagenreihe, distributiv betrachtet, angemessen bewertet werden könnte. Denn wenn sich ein historischer Diskurs nicht einer so formulierten Be­wertung unterziehen ließe, wäre sein Anspruch, spezifisch »reale« Ereignisse zu erklären, ohne jede Berechtigung. Eine derartige Bewertung berührt jedoch nur den Aspekt des historischen Dis­kurses, der traditionell als seine »Chronik« bezeichnet wird. Die Bewertung des Inhalts der Erzählung selbst ist dadurch nicht gege­ben.

Dieser Punkt ist äußerst treffend von dem Philosophen Louis O. Mink beschrieben worden:

»Jeder Text im direkten Diskurs kann als logische Verbindung von Aussa­gen betrachtet werden. Der Wahrheitswert des Textes ist dann einfach nur eine logische Funktion der Wahrheit oder Falschheit der einzelnen Aussagen für sich genommen: die Verbindung ist wahr, wenn, und nur dann, wenn jede einzelne Proposition wahr ist. Die Erzählung ist mehr als gründlich analysiert worden, und zwar besonders von Philosophen, die vor allem die Form der Erzählung mit der Form von Theorien verglei­chen wollten, so, als ob sie nichts anderes sei als eine logische Konjunk­tion von auf die Vergangenheit bezogenen Aussagen; und bei einer derar­tigen Analyse taucht das Problem der narrativen Wahrheit nicht auf. Die Schwierigkeit des Modells der logischen Konjunktion besteht jedoch darin, daß es kein Erzählmodell ist. Es ist vielmehr das Modell der Chro­nik. Die logische Konjunktion eignet sich bestens zur Darstellung des einzigen Ordnungsprinzips innerhalb von Chroniken, nämlich ›… und dann … und dann … und dann … und dann … ‹. Erzählungen aber ent­halten unendlich viele ordnende Beziehungen und unendlich viele Mög­lichkeiten, diese Beziehungen zu kombinieren. Wir meinen eine derartige Kombination, wenn wir von der Kohärenz oder auch der mangelnden Kohärenz einer Erzählung sprechen. Es ist eine noch ungelöste Aufgabe der Literaturtheorie, die ordnenden Beziehungen der narrativen Form zu klassifizieren; von der Klassifizierung abgesehen, sollte es jedoch klar sein, daß eine historische Erzählung nicht nur für jede ihrer individuel­len Aussagen, distributiv verstanden, sondern auch für die komplexe Form der Erzählung selbst Anspruch auf Wahrheit erhebt.«[47]

Die »Wahrheit« der »narrativen Form« aber kann sich nur indirekt, das heißt durch Allegorese zeigen. Was sonst könnte involviert sein, wenn eine Ereignisreihe als Tragödie, Komödie, Farce usw. darge­stellt wird? Gibt es irgendein Testverfahren, ob logisch oder empi­risch, mit dem sich beispielsweise der Wahrheitswert von Marx’ Be­hauptung ermitteln ließe, die Ereignisse »des 18. Brumaire von Louis Bonaparte« seien eine »farcenhafte« Neuauflage der »Tragö­die« von 1789?[48] Gewiß ist der Marxsche Diskurs durch Kriterien für die Richtigkeit der Fakten bei der Darstellung spezieller Ereignisse und durch Kriterien für die logische Konsistenz seiner Erklärung für das »Warum geschah es« bewertbar. Welches aber ist der Wahr­heitswert seiner durch narrative Verfahren geleisteten Gestaltung der ganzen Ereignisreihe als Farce? Sollen wir darin lediglich eine sprachliche Figur, einen metaphorischen Ausdruck erkennen, der folglich nicht Gegenstand einer Bewertung auf der Basis seines »Wahrheitswertes« sein kann? Dies würde bedeuten, den narrati­ven Aspekt des Marxschen Diskurses, die Geschichte, die er uns über das Geschehen erzählt, als bloßes Ornament, und nicht als einen essentiellen Aspekt des Diskurses insgesamt abzutun.

Marx artikuliert den farcenhaften Charakter des von ihm be­schriebenen Geschehens indes nur indirekt (durch den seinem Dis­kurs vorangestellten Aphorismus und durch seine Narrativisierung des Geschehens: durch die Geschichte, die er daraus macht), und das heißt allegorisch. Das gibt uns jedoch noch nicht das Recht an­zunehmen, Marx habe nicht beabsichtigt, daß wir diese Behaup­tung »ernst« nehmen und ihren Inhalt als »wahr« betrachten. Wel­che Art von Beziehung aber herrscht zwischen der Behauptung der Ereignisse als Farce und den im Diskurs verzeichneten »Tatsachen« einerseits sowie ihrer dialektischen Analyse andererseits, die Marx in bestimmten Passagen als Autor und vermeintlicher »Erforscher« der Gesellschaft für deren »Erklärung« liefert? Bestätigen die Fak­ten die Charakterisierung des Geschehens als Farce? Steht die Logik der von Marx gegebenen Erklärung im Einklang mit der Logik der Erzählung? Welche »Logik« regelt diesen narrativisierenden Aspekt des Marxschen Diskurses?

Die Logik von Marx’ expliziter Erörterung der Ereignisse, seine Erklärung der Tatsachen, ist offenkundig »dialektisch«, d.h. seine eigene Version der Hegelschen Logik. Gibt es noch eine andere »Logik«, die die Strukturierung des Geschehens als »Farce« steu­ert? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft uns die dreifache Un­terscheidung zwischen der Chronik der Ereignisse, ihrer als Kom­mentar unmittelbar im Diskurs gegebenen Erklärung und der durch Allegorese ermöglichten Narrativisierung der Ereignisse. Die Frage ist genau dann beantwortet, wenn wir den allegorischen Aspekt der Charakterisierung des Geschehens des »18. Brumaire« als »Farce« erkennen. Es ist nicht das »Faktum«, das die Darstel­lung der Ereignisse als »Farce« legitimiert, und es ist nicht die »Logik«, die die Darstellung des Faktums als »Farce« erlaubt. Aus logischen Gründen zu folgern, daß eine beliebige Reihe »realer« Ereignisse eine Farce ist, ist nicht möglich. Wir haben es hier mit einem Urteil und nicht mit einer Schlußfolgerung zu tun; dieses Urteil aber ist nur auf der Basis einer poetischen Tropisierung der »Fakten« gerechtfertigt, um ihnen schon im Prozeß ihrer allerer­sten Beschreibung den Aspekt jener Geschichtenform zu verlei­hen, die im literarischen Code unserer Kultur als »Farce« bekannt ist.

Wenn im Diskurs beim Übergang von der Ebene des Faktums oder des Ereignisses auf die der Erzählung überhaupt Logik im Spiel ist, dann ist es die der Figuration, und das heißt die Tropologie. Dieser Übergang entsteht als Folge einer Verpflanzung der Fakten auf den Boden literarischer Fiktionen oder, was auf dasselbe hin­ausläuft, der Projizierung der »plot-Strukturen« des einen oder an­deren Gattungen literarischer Figuration auf die Fakten. Anders ausgedrückt: der Übergang kommt durch einen Umkodierungsprozeß zustande, bei dem ursprünglich im Code der Chronik transkribierte Ereignisse nun im literarischen Code der Farce neu transkribiert werden.

Wird die Frage der Narrativisierung in der Geschichtsschreibung so präsentiert, dann stellt sich natürlich die generelle Frage nach der »Wahrheit« der Literatur selbst. Insgesamt ist diese Frage von den analytischen Philosophen, die sich mit der Analyse der Logik narrativer Erklärungen in der Geschichtsschreibung befassen, ignoriert worden. Und dies – wie ich zumindest annehme – des­halb, weil der von ihnen in die Untersuchung eingebrachte Er­klärungsbegriff die Vorstellung, daß auch der metaphorisch gestal­tete Diskurs echte Erkenntnis hervorbringen kann, ausschließt. Weil sich historische Erzählungen eher auf »reale« denn auf »imaginäre« Ereignisse beziehen, gilt die Annahme, daß ihr »Wahrheits­wert« entweder in den in ihnen enthaltenen wörtlichen Tatsa­chenaussagen liege oder in einer Kombination dieser wörtlichen Tatsachenaussagen mit einer streng wörtlichen Paraphrase von in metaphorischer Sprache formulierten Aussagen. Da allgemein davon ausgegangen wurde, daß metaphorische Ausdrucksformen entweder falsch, mehrdeutig oder logisch unhaltbar sind (weil sie nach Meinung einiger Philosophen aus »Kategoriefehlern« beste­hen), wurde gefolgert, daß alle in einer histori­schen Erzählung möglicherweise enthaltenen Erklärungen nur in wörtlicher Form ausgedrückt werden sollten. In ihren Überblicken über die Er­klärung in historischen Erzählungen zeigten diese Analytiker der Form folglich eine Tendenz zur Reduzierung der untersuchten Erzählung auf einzelne Propositionsreihen, für die der einfache Aussagesatz als Modell diente. Tauchte in solchen Sätzen ein me­taphorisches Sprachelement auf, dann wurde es einfach nur als metaphorische Figur behandelt, deren Inhalt entweder in ihrer wörtlichen Bedeutung bestand oder in einer streng wörtlichen Paraphrase dessen, was ihre grammatikalisch »korrekte« Formulie­rung zu sein schien. Bei diesem Prozeß der Verwörtlichung bleiben gerade diejenigen Figurationselemente, die in der Rhetorik als Tro­pen und Denkfiguren bezeichnet werden, ausgeklammert; ohne sie könnte die Narrativisierung realer Ereignisse, die Transformation einer Chronik in eine Geschichte, niemals zustande kommen. Wenn in dieser Verwörtlichungsprozedur überhaupt ein »Kategoriefehler« enthalten ist, dann liegt er in der Verwechslung einer narrativen Schilderung realer Ereignisse mit deren wörtlicher Schil­derung. Eine narrative Schilderung ist immer eine metaphorisch gestaltete Schilderung, sie ist immer eine Allegorie. Dieses meta­phorische Element in der Analyse einer Erzählung nicht zu berück­sichtigen heißt nicht nur, sich seinen allegorischen Aspekt entgehen zu lassen; gleiches gilt auch für die sprachliche Performanz, durch die eine Chronik in Erzählung umgewandelt wird. Es ist nichts weiter als ein modernes Vorurteil gegen die Allegorie oder, was auf dasselbe hinausläuft, eine szientistische Voreingenommenheit zu­gunsten des Wörtlichen, weshalb diese Tatsache von so vielen mo­dernen Analytikern des historischen Erzählens nicht erkannt wird. Wie dem auch sei: die zweifache Überzeugung, daß einerseits Wahr­heit in wörtlichen Tatsachenaussagen dargestellt werden muß und andererseits die Erklärung sich dem wissenschaftlichen Modell oder seiner Entsprechung im »common sense« anpassen muß, hat jedenfalls die meisten Analytiker veranlaßt, den spezifisch »litera­rischen« Aspekt der historischen Erzählung und damit auch jede Art von »Wahrheit«, die sie auf metaphorische Weise vermitteln könnte, zu ignorieren.

Es muß wohl nicht eigens erwähnt werden, daß die Vorstellung einer literarischen, ja sogar mythischen Wahrheit jenen Philoso­phen nicht fremd ist, die eine geistige Tradition weiterführen, deren Ursprünge im hegelianischen Idealismus liegen, die durch Dilthey ihre Fortsetzung erfuhr und deren neuere existentialistisch-phänomenologische Verkündigung eine Heideggersche Hermeneutik ist. Für Denker dieser Provenienz war »Geschichte« stets weniger ein Forschungso¿ü’U, etwas zu Erklärendes, als vielmehr eine Form des In-der-Welt-Seins, die »Verstehen« nicht nur erst ermög­licht, sondern als eine Bedingung seiner eigenen Enthüllung her­vorruft. Das bedeutet, daß historische Erkenntnis nur auf der Basis einer Forschung entstehen kann, die sich von der Forschung der (nomologisch-deduktiven) Naturwissenschaften und der (struktu­ral-funktionalen) Sozialwissenschaft fundamental unterscheidet. Nach Gadamer und Ricoeur ist die »Methode« der historisch-ge­netischen Wissenschaften die Hermeneutik, und zwar weniger im Sinne einer Dechiffrierung denn als »Inter-Pretation«, als »Über­tragung« im wörtlichen Sinne des Wortes: ein »Übertragen« von Sinn von einer Diskursgemeinschaft zur anderen. Sowohl Gada­mer als auch Ricoeur unterstreichen den »traditionalistischen« Aspekt des hermeneutischen Unternehmens oder, was auf dasselbe hinausläuft, den »übertragenden« Aspekt der Tradition. Es ist die Tradition, die den Interpreten mit dem interpretandum – wahrge­nommen in der ganzen Fremdheit dessen, was aus der »Vergangen­heit« herüberkommt – in einem Tun vereint, das die Individualität und Gemeinsamkeit beider hervorbringt. Ist diese Individualität-in-der-Gemeinsamkeit über eine zeitliche Distanz hinweg herge­stellt, dann ist die hervorgebrachte Art von Erkenntnis-als-Verstehen eine spezifisch historische Erkenntnis.[49]

Soviel ist jedem Kenner dieser Tradition des philosophischen Dis­kurses bekannt und selbstverständlich traditionellen Historikern und solchen, die eine Verwissenschaftlichung der Geschichtsschrei­bung für wünschenswert halten, äußerst fremd. Und warum auch nicht? Die Terminologie ist metaphorisch, der Tonfall fromm, die Epistemologie mystisch – alles, was sowohl traditionelle Histori­ker als auch ihre modernen, sozial wissenschaftlich orientierten Ge­genspieler aus der Geschichtsforschung verbannt sehen möchten. Dennoch besitzt diese geistige Tradition eine besondere Relevanz für die Behandlung unseres Themas, denn es war einer ihrer Vertre­ter, Paul Ricoeur, der sich an einer Metaphysik der Narrativität ver­suchte.

Ricoeur hat sich mit allen wichtigen Diskurs-, Text- und Lesekon­zeptionen der gegenwärtigen Theorieszene auseinandergesetzt und darüber hinaus zeitgenössische Theorien der Geschichtsschrei­bung und den Begriff der Erzählung, wie er in der gegenwärtigen Geschichtsphilosophie und in den Sozialwissenschaften vertreten wird, eingehend untersucht. Insgesamt findet Ricoeur viel Loh­nendes in der Argumentation der analytischen Philosophen, ins­besondere bei Mink, Danto, Gallie und Dray, aus deren Sicht die Erzählung eine Weise des Erklärens ist, die sich von »nomologisch-deduktiven« Erklärungen zwar unterscheidet, aber keinen totalen Gegensatz zu ihnen bildet. Ricoeur ist jedoch der Ansicht, daß Narrativität in der Geschichtsschreibung eher zum »Verstehen« des beschriebenen Geschehens beiträgt als zu seiner »Erklärung«, die doch nur eine schwächere Version jener Arten von Erklärung ist, wie sie in der Physik und in den Sozialwissenschaften zu finden sind. Das heißt aber nicht, daß Ricoeur Verstehen in Opposition zu Erklären setzen würde. Denn, so Ricoeur, diese beiden Arten des Verstehens stehen in einer »dialektischen« Relation als die »unme­thodischen« und »methodischen« Aspekte jeglicher Erkenntnis, die sich mehr mit (menschlichem) Handeln als mit (Natur-)Ereignissen befaßt.[50]

Nach Ricoeur ähnelt das »Lesen« einer Handlung dem Lesen eines Textes; das Verstehen des einen wie des anderen beruht auf denselben hermeneutischen Prinzipien. Da »Geschichte von den Handlungen der Menschen in vergangenen Zeiten handelt«, ist folglich das eigentliche Ziel der Erforschung der Vergangenheit auf ein hermeneutisches »Verstehen« menschlichen Handelns gerich­tet.[51] Für diesen Verstehensprozeß werden verschiedene Möglich­keiten des Erklärens herangezogen, vergleichbar etwa der Art und Weise, wie auch in einer Geschichte Erklärungen für das, »was ge­schah«, benutzt werden, um die Geschichte zur vollen Entfaltung zu bringen. Diese Erklärungen aber dienen dem Verstehen dessen, »was geschah«; sie sind kein Selbstzweck. Folglich sollte beim Schreiben des historischen Textes die Darstellung (menschlicher) Ereignisse als Ziel ins Auge gefaßt werden, und zwar so, daß ihr Sta­tus als Teil eines sinnvollen Ganzen zutage tritt.[52]

Den Sinn einer komplexen Aufeinanderfolge menschlicher Ereig­nisse zu erfassen ist nicht dasselbe, wie erklären zu können, warum oder gar wie sich die speziellen Ereignisse abgespielt haben, aus denen die Aufeinanderfolge zusammengesetzt ist. Man könnte viel­leicht erklären, warum und wie jedes einzelne Ereignis im jewei­ligen Ereigniszusammenhang auftrat, und hätte trotzdem nicht den Sinn des ganzen Zusammenhangs verstanden. Wenn man die Ana­logie des Lesens auf den Prozeß des Verstehens überträgt, wird deutlich, daß man zwar jeden Satz einer Geschichte verstehen kann, aber dennoch nicht begriffen haben muß, »worum es geht«. Ebenso verhält es sich, laut Ricoeur, mit unseren Bemühungen, den Sinn menschlicher Handlungen zu begreifen. Texte haben einen Sinn, der nicht auf die spezifischen, bei ihrer Herstellung verwen­deten Wörter und Sätze reduzierbar ist; dasselbe gilt auch für Handlungen. Handlungen produzieren Sinn durch ihre vorherseh­baren und intendierten oder nichtvorhersehbaren und nichtinten­dierten Konsequenzen, die ihre Verkörperung in den Institutionen und Konventionen bestimmter sozialer Gebilde finden.[53] Histori­sche Handlungen verstehen heißt demnach, die zum Handeln mo­tivierenden Intentionen, die Handlungen selbst und die Folgen dieser Handlungen, gespiegelt in den sozialen und kulturellen Kontexten, »zusammenzufassen« als Teile »sinnvoller« Ganzheiten.[54]

In der Geschichtsschreibung, so Ricoeur, kommt dieses »Zusam­menfassen« der Elemente von Situationen, in denen sich »sinnvol­les Handeln« vollzogen hat, durch ihre »Konfiguration« mittels des »plot« zustande. Anders als bei vielen Autoren, die sich zur hi­storischen Erzählung geäußert haben, ist der »plot« bei Ricoeur nicht nur eine Strukturkomponente von ausschließlich fiktionalen oder mythischen Geschichten, sondern er ist auch für die Darstel­lung historischer Ereignisse von entscheidender Bedeutung. Des­halb schreibt Ricoeur: »Jede Erzählung kombiniert zwei Dimen­sionen in unterschiedlichen Proportionen, eine chronologisch, die andere nichtchronologisch. Erstere kann als die episodische Di­mension bezeichnet werde; sie charakterisiert die aus Ereignissen zusammengesetzte Geschichte. Die zweite ist die Dimension der Konfiguration, aufgrund derer der ›plot‹ aus versprengten Ereig­nissen signifikante Ganze konstruiert.«[55]

Dieser »plot« aber wird den Ereignissen nicht vom Historiker auf­erlegt; er ist kein Code, der dem Repertoire literarischer Modelle entnommen und »pragmatisch« verwendet wird, um in eine be­stimmte rhetorische Form zu kleiden, was sonst bloß eine An­sammlung von Fakten wäre. Es ist der »plot«, der für Ricoeur die »Geschichtlichkeit« der Ereignisse zum Vorschein bringt. Er schreibt daher: »Der »plot« … stellt uns an den Schnittpunkt von Zeitlichkeit und Narrativität: um historisch zu sein, muß ein Ereig­nis mehr sein als eine singuläre Erscheinung, ein einzigartiges Vor­kommnis. Es erhält seine Definition durch seinen Beitrag zur Ent­wicklung eines »plot«.«[56]

So gesehen kann ein spezifisch historisches Ereignis nicht nach Belieben des Autors in eine »Geschichte« eingebaut werden, denn es ist immer eine Art von Ereignis, das »zur Entwicklung eines ›plot‹ beitragen« kann. Es scheint, als ob der »plot« eine im Prozeß der Entwicklung begriffene Entität noch vor dem Eintreten eines jeweiligen Ereignisses wäre und als ob ein jeweiliges Ereignis nur in dem Maße »Geschichtlichkeit« besitzt, wie es zu diesem Prozeß beiträgt. Das scheint in der Tat der Fall zu sein, denn für Ricoeur ist »Geschichtlichkeit« ein strukturaler Modus oder eine strukturale Ebene der »Zeitlichkeit« selbst.

Zeit, so scheint es, besteht aus drei »Organisationsgraden«: »Innerzeitigkeit«, »Geschichtlichkeit« und »Tiefenzeitlichkeit«. Diese »Organisationsgrade« werden ihrerseits durch drei Arten von Er­fahrung oder Darstellungen von Zeit im Bewußtsein reflektiert: »gewöhnliche Darstellungen von Zeit … solche, »in« denen Ereig­nisse stattfinden«; diejenigen, bei denen »die Betonung auf der Bedeutung der Vergangenheit liegt und mehr noch … auf der Fä­higkeit, die »Erstreckung« zwischen Geburt und Tod mittels der ›Wiederholung‹ zurückzuerhalten«; und schließlich jene, die »die plurale Einheit von Zukunft, Vergangenheit und Gegenwart…« zu erfassen trachten.[57] In der historischen Erzählung – und eigentlich in jeder Erzählung, sogar in der einfachsten – ist es die Narrativität, die »uns von der Innerzeitigkeit zur Geschichtlichkeit zurück­führt, vom »Rechnen mit der Zeit« zur »Erinnerung««. Kurz, »die Funktion des Narrativen schafft einen Übergang von der Innerzeitigkeit zur Geschichtlichkeit«, indem sie bloßlegt, was als die »›plot«-artige« Natur der Zeitlichkeit bezeichnet werden muß.[58]

So gesehen besitzt jede historische Schilderung auf der narra­tiven Ebene einen Referenten, der sich von dem auf der Ebene ihrer »Chronik« gänzlich unterscheidet. Während die Chronik Ereignisse als »in der Zeit« existierend darstellt, repräsentiert die Erzählung den Aspekt von Zeit, in dem erkennbar wird, wie Schlußpunkte mit Anfängen verknüpft sind, um eine Kontinuität innerhalb einer Differenz zu bilden. »The sense of an ending«, die Verknüpfung des Endes eines Prozesses mit seinem Ursprung der­gestalt, daß alles, was sich dazwischen ereignet hat, eine nur im »Rückblick« zu gewinnende Signifikanz erhält, wird durch die spe­zifisch menschliche Fähigkeit zur »Wiederholung«, wie Heidegger sagt, erreicht. Diese »Wiederholung« ist die spezifische Existenz­modalität von Ereignissen in der »Geschichtlichkeit«, im Gegen­satz zu ihrer Existenz »in der Zeit«. In der als »Wiederholung« ver­standenen »Geschichtlichkeit« ergreifen wir die Möglichkeit der »Wiedergewinnung unserer elementarsten Potentialitäten, die wir von unserer Vergangenheit in Gestalt des persönlichen Schicksals und der kollektiven Bestimmung ererbt haben«.[59] Aus diesem Grunde – selbstverständlich gibt es auch noch andere – glaubt sich Ricoeur in der Annahme gerechtfertigt, daß die »Zeitlichkeit die­jenige existentielle Struktur ist, die die Sprache in der Narrativität erreicht, und daß die Narrativität die Sprachstruktur ist, die als ihren fundamentalen Referenten die Zeitlichkeit hat«.[60] Diese Ar­gumentation gibt mir, wie ich glaube, das Recht, Ricoeurs Beitrag zur Theorie der Geschichte als denVersuch einer »Metaphysik der Narrativität« zu werten.

Die Bedeutung dieser Metaphysik der Narrativität für die Theorie der Geschichtsschreibung liegt in Ricoeurs Vorschlag, die histori­sche Erzählung müsse kraft ihrer Narrativität nichts anderes als die »Zeitlichkeit« selbst als ihren »fundamentalen Referenten« haben. Im größeren Zusammenhang seines Werks betrachtet, geht aus die­ser Äußerung hervor, daß Ricoeur die historische Erzählung der Kategorie des symbolischen Diskurses zuordnet, das heißt einem Diskurs, dessen hauptsächliche Kraft weder auf seinem informato­rischen Inhalt noch auf seiner rhetorischen Wirkung, sondern eher auf seiner bildhaften Funktion beruht.[61] Für ihn ist eine Erzählung weder ein Ikon der berichteten Ereignisse, eine Erklärung dieser Er­eignisse, noch ein rhetorisches Zurechtstilisieren von »Tatsachen« um eines spezifisch überredenden Effekts willen. Sie ist vielmehr ein Symbol, das zwischen verschiedenen Sinnuniversa vermittelt, indem sie die Dialektik ihrer Beziehung in einem Bild »konfigu­riert«. Dieses Bild ist nichts anderes als die Erzählung selbst, jene »Konfiguration« von Ereignissen, über die in der Chronik durch die Enthüllung ihrer »›plot‹-artigen« Natur berichtet wird.

Indem er eine Geschichte erzählt, legt der Historiker also zwangs­läufig einen »plot« frei. Dieser »plot« »symbolisiert« Ereignisse, indem er zwischen ihrem Status als »in der Zeit« existierend und ihrem Status als Indikatoren der »Geschichtlichkeit«, an der diese Ereignisse partizipieren, vermittelt. Weil diese Geschichtlichkeit nur angedeutet, aber niemals unmittelbar dargestellt werden kann, folgt, daß die historische Erzählung, wie alle symbolischen Struk­turen, »etwas anderes sagt, als sie sagt, und … mich ergreift, weil sie in ihrem Sinn einen neuen Sinn geschaffen hat«.[62]

Ricoeur räumt ein, daß er symbolische Sprache durch eine derar­tige Charakterisierung fast mit »Allegorie« identifiziert, was aber nicht heißen soll, daß sie reine Phantasie ist. Und zwar deshalb nicht, weil die Allegorie für Ricoeur eine Möglichkeit darstellt, den »Sinnüberschuß« auszudrücken, der in den Wahrnehmungen von »Wirklichkeit« als einer Dialektik von »menschlichem Begehren« einerseits und »kosmischer Erscheinung« andererseits präsent ist.[63] Eine historische Erzählung ist demnach als Allegorisierung der Erfahrung der »Innerzeitigkeit« zu verstehen, deren übertrage­ner Sinn die Struktur der Zeitlichkeit ist. Die Erzählung drückt einen »anderen« Sinn aus als den von der Chronik vermittelten, nämlich die »gewöhnliche Darstellung von Zeit… als demjenigen Element, ›in‹ dem sich Ereignisse vollziehen«. Dieser sekundäre oder übertragene Sinn ist weniger »konstruiert« als »vorgefunden« in der universellen menschlichen Erfahrung einer »Erinnerung«, die eine Zukunft verspricht, weil sie in jeder Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart einen »Sinn« entdeckt. Im »plot« der historischen Erzählung erkennen wir eine »Figur« der »Mög­lichkeit, die ›Erstreckung‹ zwischen Geburt und Tod durch das Werk der ›Wiederholung‹ zurückzuerhalten«.[64]

Für Ricoeur ist deshalb die Erzählung mehr als eine Form des Er­klärens, mehr als ein Code und vielmehr als ein Vehikel für die Ver­mittlung von Information. Sie ist keine diskursive Strategie oder Taktik, die der Historiker je nach pragmatischem Ziel oder Zweck anwendet oder nicht anwendet. Sie ist ein Mittel, Ereignisse zu symbolisieren, ohne das ihre »Geschichtlichkeit« nicht hervortre­ten kann. Es ist möglich, wahre Aussagen über Ereignisse zu ma­chen, ohne sie zu symbolisieren – wie in der Chronik. Man kann diese Ereignisse sogar erklären, ohne sie zu symbolisieren – wie es fortwährend in den (struktural-funktionalen) Sozialwissenschaf­ten geschieht. Man kann jedoch den Sinn historischer Ereignisse nicht darstellen, ohne sie zu symbolisieren, und zwar deshalb nicht, weil »Geschichtlichkeit« selbst zugleich Realität und Ge­heimnis ist. Alle Erzählungen offenbaren dieses Geheimnis und verhindern gleichzeitig, daß wir über die Unmöglichkeit, es zu lösen, verzweifeln. Denn sie enthüllen uns seine Form in Gestalt des »plot« und seinen Inhalt in Gestalt des Sinns, mit dem der »plot« ausstattet, was sonst nur Ereignisse wären. Insofern Ereig­nisse und ihre Aspekte mit den Methoden der Wissenschaft »er­klärt« werden können, erweisen sie sich dabei, so will es scheinen, weder als »geheimnisvoll« noch als besonders »historisch«. Was an historischen Ereignissen erklärt werden kann, ist genau das, was ihren nichthistorischen oder ahistorischen Aspekt ausmacht. Was nach der Erklärung von Ereignissen bleibt, ist sowohl »historisch« als auch »sinnvoll«, insofern als es verstanden werden kann. Dieser Rest wiederum ist verstehbar, insofern als er in einer Symbolisie­rung »erfaßt« werden kann, d.h. es wird gezeigt, daß er diejenige Art von Sinn besitzt, mit dem ein »plot« Geschichten ausstattet.

Es ist der Erfolg der Erzählung bei der Offenlegung von Sinn, Ko­härenz oder Signifikanz von Ereignissen, der ihre Legitimität als historiographische Praxis bekräftigt. Es ist der Erfolg der Histo­riographie in der Narrativisierung historischer Ereigniszusammen­hänge, der den »Realismus« der Erzählung bestätigt. Durch eine Form der Symbolisierung, wie sie die historische Erzählung ver­körpert, ist dem Menschen ein diskursives Instrument gegeben, mit dessen Hilfe er (sinnvoll) zeigen kann: daß die Welt mensch­licher Taten real und geheimnisvoll zugleich, und das heißt auf ge­heimnisvolle Weise wirklich ist (das ist nicht dasselbe, wie zu sagen, sie sei ein wirkliches Geheimnis); daß das Nicht-Erklärbare im Prinzip verstehbar ist; und daß dieses Verstehen letztendlich nichts anderes ist als seine Darstellung in der Form einer Erzählung.

Somit liegt eine gewisse Notwendigkeit in der Beziehung zwi­schen der Erzählung als einer symbolischen oder symbolisieren­den Diskursstruktur und der Darstellung spezifisch historischer Ereignisse. Diese Notwendigkeit entspringt der Tatsache, daß menschliche Ereignisse Produkte menschlicher Handlungen sind oder waren, deren Konsequenzen die Struktur von Texten – ge­nauer gesagt, die Struktur narrativer Texte – besitzen. Das Verste­hen dieser als Produkte von Handlungen konzipierten Texte ist abhängig davon, ob wir in der Lage sind, ihre Entstehungsprozesse zu reproduzieren, das heißt ob wir fähig sind, diese Handlungen zu narrativisieren. Weil aber diese Handlungen tatsächlich erlebte Narrativisierungen sind, können sie folglich nur durch die Erzählung selbst dargestellt werden. In diesem Falle entspricht die Form des Diskurses vollkommen seinem Inhalt, weil die Form die Erzählung ist und der Inhalt das, was narrativisiert wurde. Das Ineinanderfallen von Form und Inhalt erzeugt das Symbol, »das mehr sagt, als es sagt«, das aber im historischen Diskurs immer nur eines sagt: »Ge­schichtlichkeit«.

Von allen neueren Theoretikern der Geschichtsschreibung ist Ricoeur sicherlich derjenige, der sich am nachdrücklichsten für die Erzählung als einer adäquaten Form der Realisierung historischer Forschungsziele einsetzt. Das Problem der Beziehung zwischen Erzählung und Historiographie glaubt er zu lösen, indem er den Inhalt der ersteren (d. h. Narrativität) mit dem »fundamentalen Re­ferenten« der letzteren (d. h. Geschichtlichkeit) identifiziert. In der nachfolgenden Identifikation des Inhalts von »Geschichtlichkeit« mit einer »Zeitstruktur«, die nur im Modus der Narrativität darge­stellt werden kann, bestätigt er jedoch den Verdacht all derer, die narrative Darstellungen historischer Phänomene als eigentlich »mythischer« Natur betrachten. Dennoch, indem er zu zeigen ver­sucht, daß Geschichtlichkeit ein Inhalt ist, dessen Form die Narra­tivität ist, gibt er zu verstehen, daß das eigentliche Thema jeder Dis­kussion über die angemessene Form des historischen Diskurses letztendlich von einer Theorie des wahren Inhalts der »Historie« selbst abhängt.

Ich selbst bin der Ansicht, daß sich alle theoretischen Erörterungen über die Historiographie im Netz der Ambiguität verstricken, die im Begriff »Geschichte« enthalten ist. Diese Ambiguität entspringt weniger der Tatsache, daß sich der Begriff »Geschichte« sowohl auf ein Forschungsobjekt als auch auf die Darstellung dieses Objekts bezieht, sondern ist vielmehr darauf zurückzuführen, daß das For­schungsobjekt selbst nur auf der Basis eines Doppelsinns faßbar ist. Ich meine natürlich jenen Doppelsinn, der in der Vorstellung einer gemeinsamen menschlichen Vergangenheit enthalten ist, die in zwei Teile zerfällt, einen »historischen« und einen »unhistori­schen«. Diese Unterscheidung ist nicht von der gleichen Art wie die Unterscheidung zwischen »menschlichem Geschehen« und »Naturereignissen«, auf deren Basis die historische Forschung eine andere Kategorie von Fakten konstituiert als diejenigen, die in den Naturwissenschaften untersucht werden. Die Unterschiede zwi­schen einem in der Natur und einem in der Kultur gelebten Leben sind Grund genug für eine Trennung zwischen Naturereignissen und menschlichen Ereignissen, so daß die historische Forschung und die Humanwissenschaften schlechthin auf dieser Basis an die Entwicklung adäquater Methoden zur Erforschung dieser mensch­lichen Ereignisse herangehen können. Ist eine Ordnung allgemein menschlicher Ereignisse erst konzipiert und nach vergangenen und gegenwärtigen differenziert, dann ist die Frage sicher legitim, in welchem Maße verschiedene Forschungsmethoden zur Untersu­chung der als vergangen klassifizierten Ereignisse angewandt wer­den, um sie dann mit jenen Methoden zu vergleichen, die bei der Untersuchung gegenwärtiger Ereignisse (in welchem Sinne auch immer man »gegenwärtig« interpretiert) herangezogen werden.

Ist diese menschliche Vergangenheit erst postuliert, dann ist es jedoch etwas ganz anderes, sie weiter aufzuspalten in eine Ereig­nisordnung, die »historisch« ist, und eine andere, die »nichthisto­risch« ist. Denn damit wird impliziert, daß es zwei Menschheits­ordnungen gibt, von denen eine menschlicher, weil historischer ist als die andere.

Die Unterscheidung zwischen einer historischen Menschheit oder Kultur oder Gesellschaft und einer nichthistorischen ist nicht von der gleichen Art wie die Differenzierung zwischen zwei Zeit­perioden in der Entwicklung der menschlichen Spezies: der prä­historischen und der historischen. Weil nämlich diese Unterschei­dung nicht an die Überzeugung gebunden ist, daß sich vor dem Beginn von »Geschichte« menschliche Kultur nicht entwickelt habe oder daß diese Entwicklung keine »historische« gewesen sei. Sie hängt vielmehr von der Überzeugung ab, daß es in der Evolu­tion der menschlichen Kultur einen Punkt gibt, von dem an ihre Entwicklung in einem Diskurs darstellbar wird, der anders ist als jener Diskurs, durch den diese Evolution in ihrer früheren Phase dargestellt werden kann. Wie allgemein bekannt und zu­gegeben, beruht die Möglichkeit, die Entwicklung bestimmter Kul­turen in einem spezifisch »historischen« Diskurs darzustellen, auf dem Umstand, daß diese Kulturen eine bestimmte Art von Aufzeichnungen hervorgebracht, aufbewahrt und verwendet haben, nämlich schriftliche Aufzeichnungen. Allerdings ist die Möglichkeit zur Darstellung der Entwicklung bestimmter Kul­turen in einem spezifisch historischen Diskurs noch kein hinrei­chender Grund, Kulturen, deren Entwicklung, bedingt durch das Fehlen solcher Aufzeichnungen, nicht auf diese Weise darstellbar ist, als weiterhin im Zustand der »Vorgeschichtlichkeit« befindlich zu betrachten.

Dafür gibt es mindestens zwei Gründe: erstens, der Eintritt der menschlichen Spezies in die »Geschichte« vollzieht sich nicht nur »zum Teil«. Allein der Begriff »menschliche Spezies« impliziert be­reits, daß, wenn irgendein Teil von ihr »in der Geschichte« existiert, dies auch für die Spezies insgesamt gilt. Zweitens, die Vorstellung, daß irgendein Teil der menschlichen Spezies »in die Geschichte« eintritt, ist als rein intramuraler Vorgang, als Transformation, die bestimmte Kulturen oder Gesellschaften isoliert erfahren, über­haupt nicht denkbar. Im Gegenteil, der Eintritt bestimmter Kultu­ren in die Geschichte impliziert, daß ihre Beziehungen zu jenen »außerhalb« der Geschichte gebliebenen Kulturen radikale Wand­lungen erfahren haben, so daß das, was früher ein Prozeß relativ autonomer oder autochthoner Beziehungen gewesen war, nun zu einem Prozeß progressiver Interaktion und Integration zwischen den sog. »historischen« und den »nichthistorischen« Kulturen wird. Dieses Panorama der Herrschaft sog. »höherer« Zivilisatio­nen über die unter ihnen stehenden »neolithischen« Kulturen sowie die »Expansion« der westlichen Zivilisation über den Erd­ball ist Gegenstand der Standarderzählung der Weltgeschichte, geschrieben aus der Perspektive »historischer« Kulturen. Diese »Geschichte« »historischer« Kulturen aber ist gerade durch ihre Eigenart als Panorama von Herrschaft und Expansion gleichzeitig Dokumentation der »Geschichte« jener als »nichthistorisch« apo­strophierten Kulturen und Völker, die die Opfer dieses Prozesses sind. Daraus können wir folgern, daß gerade jene Aufzeichnungen, die das Schreiben der Geschichte historischer Kulturen ermög­lichen, auch die Dokumente sind, die gleiches für die sog. »nicht­historischen« Kulturen erlauben. Daraus folgt, daß eine Trennung nach historischen und nichthistorischen Teilbereichen der mensch­lichen Vergangenheit, die auf der Unterscheidung der jeweils zur Verfügung stehenden Arten von Dokumenten beruht, ebenso frag­würdig ist wie die Vorstellung, es gebe zwei Arten einer spezifisch menschlichen Vergangenheit, eine, die mit »historischen« Metho­den untersucht werden kann, und eine, zu deren Erforschung »nichthistorische« Methoden wie Anthropologie, Ethnologie und ähnliches erforderlich sind.

Insoweit als der Begriff der »Geschichte« eine Trennung der ge­meinsamen menschlichen Vergangenheit zwischen einem spezi­fisch »historischen« und einem »nichthistorischen« Segment oder System von Ereignissen voraussetzt, enthält dieser Begriff einen Doppelsinn. Wenn nämlich der Begriff der »Geschichte« auf eine gemeinsame menschliche Vergangenheit verweist, dann kann er durch die Aufteilung dieser Vergangenheit in eine »historische Ge­schichte« einerseits und eine »nichthistorische Geschichte« ande­rerseits nicht weiter spezifiziert werden. So formuliert ist der Be­griff der »Geschichte« einfach nur eine Replik der Ambiguität, die dem Unvermögen innewohnt, zwischen einem Forschungsobjekt (die menschliche Vergangenheit) einerseits und dem Diskurs über dieses Objekt andererseits zu differenzieren.

Liefert das Erkennen dieses Netzes aus Ambiguitäten und Mehr­deutigkeiten, aus denen der Begriff der »Geschichte« zusammen­gesetzt ist, eine Möglichkeit, die jüngsten Diskussionen zum Pro­blem der Erzählung in der Geschichtstheorie besser zu verstehen? Ich habe bereits festgestellt, daß der Begriff der Erzählung selbst die gleiche Ambiguität enthält wie die, die bezeichnenderweise im Begriff der »Geschichte« enthalten ist. Die Erzählung ist gleichzei­tig eine Diskursmodalität, eine Sprechweise und das durch den Ein­satz dieser Diskursmodalität erzeugte Produkt. Wird diese Dis­kursmodalität zur Darstellung »realer« Ereignisse gebraucht wie im Falle der »historischen Erzählung«, so entsteht eine Diskursart mit speziellen sprachlichen, grammatischen und rhetorischen Merkmalen, i.e. »narrative Historie«. Sowohl das Gefühl der Adä­quatheit dieser Diskursart zur Darstellung spezifisch »histori­scher« Ereignisse als auch die von jenen empfundene Inadäquat­heit, die der Narrativität den Rang einer »Ideologie« unterstellen, sind auf die Schwierigkeit zurückzuführen, den Unterschied zwi­schen einer Sprechweise und der bei ihrer Durchführung produ­zierten Darstellungsform zu konzeptualisieren.

Die Tatsache, daß die Erzählung eine »historischen« wie »nichthi­storischen« Kulturen gemeinsame Diskursform ist und im mythi­schen wie im fiktionalen Diskurs überwiegt, macht sie als Form des Sprechens über »reale« Ereignisse verdächtig. Die nichtnarrative Sprechweise, wie sie in der Physik üblich ist, scheint der Darstel­lung »realer« Ereignisse angemessener. Dabei aber ist die Vorstellung von dem, was ein »reales« Ereignis ist, nicht von der Unter­scheidung zwischen »wahr« und »falsch« abhängig (denn dies ist eine Unterscheidung, die zur Ordnung der Diskurse und nicht zur Ordnung der Ereignisse gehört), sondern eher von der Differenzie­rung zwischen »real« und »imaginär« (die sowohl zur Ordnung der Ereignisse als auch zur Ordnung der Diskurse gehört). Man kann einen imaginären Diskurs über reales Geschehen schaffen, der, weil er »imaginär« ist, deshalb nicht weniger »wahr« zu sein braucht. Alles hängt davon ab, wie man das Wirken der menschlichen Imagi­nationsfähigkeit interpretiert.

Gleiches gilt auch für narrative Darstellungen von Realität, insbe­sondere dann, wenn es sich, wie in historischen Diskursen, um Darstellungen der »menschlichen Vergangenheit« handelt. Wie denn sonst ließe sich eine »Vergangenheit«, die per definitionem aus als nicht mehr wahrnehmbar geltenden Ereignissen, Prozessen, Strukturen und so weiter besteht, entweder im Bewußtsein oder im Diskurs darstellen, wenn nicht durch die »Imagination«? Impli­ziert nicht das Problem der Erzählung in allen historischen Theo­riediskussionen letztlich immer auch die Frage nach der Funktion der Imagination für die Hervorbringung einer spezifisch mensch­lichen Wahrheit?

(Aus dem Amerikanischen von Margit Smuda)

Ursprünglich unter dem Titel The Question of Narrative in Contemporary Historical Theory erschienen in: History and Theory 23, Heft 1 (Februar 1984), S. 1-33.

Quelle: Pietro Ross (Hrsg.), Theorien der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1987, S. 57-106.


[1] R. Barthes bemerkt dazu: «… Erzählen ist international, transhisto­risch, transkulturell: es ist einfach vorhanden wie das Leben selbst.« Vgl. Introduction à l’analyse structurale des récits, in: R. Barthes, Aventure sémiologique, Paris 1986, S. 168. Es versteht sich von selbst, daß die narrative Darstellungsweise nicht »natürlicher« ist als jede andere Form des Diskurses; ob es sich allerdings um eine Primärformhandelt, mit der andere diskursive Formen kontrastiert werden müs­sen, ist eher für die historische Sprachwissenschaft von Interesse. Vgl. E. Benveniste, Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft, Mün­chen 1975; sowie G. Genette, Frontieres du récits, in: Figures II, Paris 1969, S. 49-69. E. H. Gombrich hat auf die Bedeutung der Bezie­hung zwischen der narrativen Darstellungsmodalität, einem ausge­prägt historischen (im Gegensatz zum mythischen) Bewußtsein und dem »Realismus« in der westlichen Kunst hingewiesen. Vgl. Kunst und Illusion, Köln 1967.

[2] M. Mandelbaum lehnt es z.B. ab, die von Historikern geschaffenen Darstellungen als »Erzählungen« (»narratives«) zu bezeichnen, wenn dieser Begriff als Synonym von »Geschichten« (»Stories«) ver­standen wird. Vgl. The Anatomy of Historical Knowledge, Baltimore 1977, S. 25-26. In der Physik haben Erzählungen keinen Platz, es sei denn als anekdotische Einleitung vor der eigentlichen Präsentation der Forschungsergebnisse; ein Physiker oder Biologe fände es unan­gebracht, eine Geschichte über sein Datenmaterial zu erzählen, an­statt die Daten zu analysieren. Aus der Biologie wurde eine Wissen­schaft, als man aufhörte, sie als »Naturgeschichte« zu betreiben, d. h. als die Erforscher der organischen Natur damit aufhörten, die »wahre Geschichte« dessen, »was geschah«, zu rekonstruieren und statt dessen nach rein kausalen, nichtteleologischen Gesetzmäßigkei­ten zu suchen begannen, um durch sie das Vorhandensein der fossilen Beweise oder die Ergebnisse bestimmter Züchtungsverfahren usw. erklären zu können. Natürlich ist, wie Mandelbaum betont, die sukzessive Schilderung einer Ereignisreihe nicht dasselbe wie deren »narrative« Beschreibung. Der Unterschied besteht darin, daß in der ersten jedes teleologische Interesse als Erklärungsprinzip fehlt. Jede narrative Darstellung von irgend etwas ist eine teleologische Schil­derung, und es ist unter anderem gerade dieser Grund, der die Nar- rativität für die Physik so verdächtig macht. Mandelbaums Be­merkungen verfehlen indes den zentralen Punkt der herkömmlichen Unterscheidung zwischen Chronik und Historie, der auf der Diffe­renz zwischen einer bloß sukzessiven und einer narrativen Schilde­rung beruht. Dieser Unterschied wird durch den Grad der Annähe­rung der so konzipierten Historie an die formale Kohärenz einer »Geschichte« reflektiert. Siehe dazu meinen Aufsatz The Value of Narrativity in the Representation of Reality, in: Critical Inquiry, VII, 1 (1980), S. 5-27.

[3] Vgl. dazu die Kommentare von G. Elton, The Practice of History, New York 1967,8. 118-141, und J. H. Hexter, Reappraisals in History, New York 1961,8. 8 ff. Diese beiden Arbeiten verdeutlichen beispiel­haft die in Fachkreisen während der Sechziger jahre vertretene Auf­fassung zum Problem der Adäquatheit des »Geschichten-Erzählens« für die Ziele und Absichten der historischen Forschung. Für beide Autoren sind narrative Darstellungen eine Möglichkeit, die der Histo­riker hat und deren er sich für seine Zwecke bedienen oder nicht be­dienen kann. Dieser Gedanke findet sich auch bei G. Lefebvre, La naissance de Thistoriographie moderne, Paris 1971, S. 321-326.

[4] Die Unterscheidung zwischen Diskussion und Erzählung war ein Gemeinplatz in den Theorien des 18. Jahrhunderts zur Rhetorik der historischen Komposition. Vgl. H. Blair, Lectures on Rhetoric and Belles Lettres (London 1783), hg. v. H. F. Harding, Carbondale 1965, S. 259-310. Vgl. auch J. G. Droysen, Historik, hist.-krit. Ausgabe v. P. Leyh, Stuttgart 1977, S. 222-280. Eine aktuellere Version dieser Unterscheidung stammt von P. Gay: »Historische Narration ohne Analyse ist trivial, historische Analyse ohne Narration ist unvollstän­dig.« Style in History, New York 1974, S. 189. Für einen aktuellen Überblick siehe S. Bann, Towards a Critical Historiography, in: Philosophy, LVI (1981), 365-385.

[5] Croces früheste Haltung zu dieser Frage. Vgl. Die Geschichte auf den allgemeinen Begriff der Kunst gebracht, Hamburg 1984 (ital. Orig. 1893). Croce schreibt: »Allererste Bedingung für wahre Geschichte (die zugleich ein Kunstwerk ist) ist die Möglichkeit, eine Erzählung herzustellen.« (S. 36) Und: »Aber kann man denn abschließend leug­nen, daß die ganze vorbereitende Arbeit darauf abzielt, Erzählungen über das, was sich ereignet hat, herzustellen?« (S. 38 f.) Dies sollte nach Croces Auffassung aber nicht heißen, daß Erzählen an sich schon Geschichte ist. Erst die Verknüpfung mit den durch »documenti vivi« belegten Tatsachen macht eine historische Erzählung »hi­storisch«. Vgl. dazu Zur Theorie und Geschichte der Historiographie, Tübingen 1915, S. 1-16; Croce äußert sich hier über den Unterschied von »Chronik« und »Geschichte«, wobei er an dieser Stelle eher den Unterschied zwischen einer »toten« und einer »lebendigen« Darstel­lung der Vergangenheit betont als die Abwesenheit oder das Vorhan­densein von »Erzählen« in der Darstellung. Auch hier unterstreicht Croce, daß man auf der Basis von »Erzählungen« über »Doku­mente«, die nicht mehr existieren, keine echte Geschichte schreiben könne und definiert »Chronik« als »narrazione vuota«, als »leere Er­zählung« (S. 11-16).

[6] »… es ist eine innerliche gemeinsame Grundlage, welche sie zusam­men hervortreibt.« G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1970, S. 83.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 83-84.

[9] Ebd., S. 83.

[10] Ebd., S. 44-45.

[11] Dies soll natürlich nicht heißen, daß es nicht auch etliche Historiker gegeben hätte, die dem Begriff einer wissenschaftlichen Politologie, zu der die Historiographie ihren Beitrag leisten könnte, nicht abge­neigt gewesen wären, wie das Beispiel Tocquevilles und der ganzen »machiavellistischen« Tradition, zu der auch Treitschke und Weber gehören, zeigt. Man muß jedoch sehen, daß immer deutlich differen­ziert wurde zwischen dem Wissenschaftsbegriff, zu dem die Ge­schichtsschreibung beitragen sollte, und jener Art von Wissenschaft, die bei der Erforschung natürlicher Phänomene betrieben wurde. Daher auch die sich durch das ganze 19. Jahrhundert hinziehende De­batte um die vermuteten Unterschiede zwischen Geistes- und Natur­wissenschaften, bei der die »historische Forschung« die Rolle des Pa­radigma für die erste Art von Wissenschaft spielte. Manche Denker, wie etwa Comte und Marx, die das Bild einer politischen Wissen­schaft auf der Grundlage der Geschichtswissenschaft entwarfen, wurden in dieser Hinsicht weniger als Historiker denn als Ge­schichtsphilosophen betrachtet, weshalb ihre zu diesem Thema ver­faßten Schriften gar nicht als Beiträge zur Geschichtsforschung ge­wertet wurden.
Zur Frage der »politischen Wissenschaft« selbst ist in historischen Fachkreisen allgemein die Auffassung vertreten worden, daß Versu­che, eine derartige Wissenschaft auf der Basis historischer Forschun­gen aufzubauen, zu »totalitären« Ideologien vom Schlage des Natio­nalsozialismus und Stalinismus führen. Die Literatur zu diesem Thema ist umfangreich, der eigentliche Kern der Argumentation aber tritt besonders eindrucksvoll im Werk der späten Hannah Arendt her­vor, die unter anderem schrieb: »Die Entstehung des modernen Ge­schichtsbegriffs und des modernen Geschichtsbewußtseins im neun­zehnten Jahrhundert ist an das Absinken der spezifisch neuen, das siebzehnte und achtzehnte Jahrhundert beherrschenden politischen Theorien eng gebunden … Wo ein echtes Interesse an Politik und politischer Theorie noch lebendig blieb, endete es entweder in Verzweif­lung, wie bei Tocqueville, … oder in einer verhängnisvollen Ver­wechslung und Vermischung von Politik und Geschichte wie bei Marx … Tocqueville begann sein großes Werk über die Demokratie in Amerika, in welchem er weit über den aktuellen Anlaß hinaus ›die Ge­sellschaft der modernen Welt« gezeichnet hat, mit der in der Einlei­tung gestellten Forderung: ›Eine neue Welt bedarf einer neuen Wis­senschaft von Politik«; und er endete das gleiche Werk mit der an der eigenen Aufgabe verzweifelnden Feststellung: ›Seit die Vergangenheit aufgehört hat, ihr Licht auf die Zukunft zu werfen, irrt der mensch­liche Geist in der Finsternis.« Und bei Marx endet der Versuch, den Menschen als tätig handelndes Wesen zu verstehen, das heißt ihn zu politisieren, damit, daß er das Handeln schließlich doch nur als ein ›Geschichte-machen‹ zu begreifen vermochte.« (H. Arendt, Fragwür­dige Traditionsbestände im politischen Denken der Gegenwart, Frank­furt a.M. 1957, S. 101 f.)
Hannah Arendt beklagt hier nicht die Abkoppelung der historischen Forschung vom politischen Denken, sondern die Degradierung der historischen Forschung zur »Philosophie der Geschichte«. Weil sich ihrer Auffassung nach politisches Denken in der Domäne mensch­licher Weisheit bewegt, war historisches Wissen für dessen »realistische« Herausbildung sicherlich notwendig. Daraus folgte, daß so­wohl das politische Denken als auch die historische Forschung aufhörten, »realistisch« zu sein, als sie anfingen, den Status von (posi­tiven) Wissenschaften anzustreben.
Karl R. Popper hat diesen Gedanken in seinem einflußreichen Werk Das Elend des Historizismus (1944-1945) folgendermaßen formuliert: »Ich will die von den Historizisten so oft als altmodisch angefeindete Auffassung verteidigen, daß die Geschichtswissenschaft durch ihr Inter­esse für tatsächliche, singuläre, spezifische Ereignisse im Gegensatz zu Gesetzen oder Verallgemeinerungen charakterisiert ist … Im Sinne die­ser Analyse kann jede kausale Erklärung eines singulären Ereignisses als historisch bezeichnet werden, insofern, als die »Ursache« stets durch singuläre Randbedingungen beschrieben wird. Und dies stimmt vollkommen mit der populären Vorstellung überein, nach der etwas kausal erklären heißt: erklären, wie und warum etwas geschah, also seine »Geschichte« erzählen. Doch nur in der Geschichtsfor­schung sind wir wirklich an der kausalen Erklärung singulärer Ereig­nisse interessiert. In den theoretischen Wissenschaften sind solche Kausalerklärungen hauptsächlich Mittel zu einem anderen Zweck: zur Prüfung allgemeiner Gesetze.« (Das Elend des Historizismus, Tü­bingen 1965, S. 112 f.)
Popper wandte sich gegen jede Form von sozialer Planung, die sich auf den Vorwand beruft, geschichtliche Gesetzmäßigkeiten oder, was für Popper auf ein und dasselbe hinauslief, soziale Gesetzmäßigkei­ten entdeckt zu haben. Mit diesem Standpunkt bin ich durchaus einverstanden. Mir geht es hier nur darum, daß Poppers Verteidigung einer »altmodischen« Historiographie, die »Erklären« mit dem Er­zählen einer Geschichte gleichsetzt, ein konventioneller Weg war, um nicht nur die kognitive Autorität dieser »altmodischen« Historiogra­phie zu bekräftigen, sondern auch die Möglichkeit irgendeiner pro­duktiven Beziehung zwischen der Geschichtsforschung und einer zu­künftigen »politischen Wissenschaft« zu leugnen. Vgl. dazu auch J. Rüsen/H. Süssmuth (Hg.), Theorien in der Geschichtswissenschaft, Düsseldorf 1980, S. 29-31.

[12] Die Argumentationsweise dieser Gruppe variiert im Detail, insofern als verschiedene Philosophen jeweils unterschiedliche Begründun­gen dafür geben, wann eine narrative Darstellung überhaupt als Erklärung auf gefaßt werden kann; das Spektrum reicht vom Stand­punkt, eine Erzählung sei eine »poröse«, »partielle« oder »skizzen­hafte« Version der nomologisch-deduktiven Erklärung in den Na­turwissenschaften (C. G. Hempels spätere Auffassung) bis hin zu einer Auffassung, die davon ausgeht, daß Erzählungen durch Techni­ken wie »Kolligation« oder »Konfiguration« erklären, für die es in wissenschaftlichen Erklärungen keine Entsprechung gibt. Vgl. dazu den Sammelband von P. Gardiner (Hg.), Theories of History, London 1959, und W. H. Dray, Philosophical Analysis and History, New York 1966. Vgl. auch die Überblicke zu diesem Thema von W. H. Dray, Phi­losophy of History, Englewood Cliffs 1964; als eine neuere Arbeit siehe R. F. Atkinson, Knowledge and Explanation in History, Ithaca 1978; zur frühen französischen Reaktion auf die anglo-amerikanische Diskussion vgl. P. Veyne, Comment on écrit l’histoire: Essai d’épistémologie, Paris 1971, S. 194-209; sowie in Deutschland Ge­schichte-Ereignis und Erzählung, hg. v. R. Kosellcck/W.-D. Stempel, München 1973.

[13] Grundlegend ist die Arbeit von F. Braudel, Ecrits sur l’histoire, Paris 1969. Neben einer Reihe anderer, ähnlich polemisch gehaltener Ar­beiten vgl. F. Furet, Quantitative History, in: F. Gilbert/S. R. Graubard (Hg.), Historical Studies Today, New York 1972, S. $4-60; sowie J. Dumoulin/D. Moisi (Hg.), The Historian between the Ethnologist and the Futurologist, Paris/The Hague 1973. Es handelt sich hier um die Protokolle eines Kongresses in Venedig 1971, von denen beson­ders die Statements von Furet und Le Goff wichtig sind.

[14] Ich lege Wert auf den Begriff »semiologisch«, weil er mir die Möglich­keit zur Subsumtion einer ganzen Gruppe von Wissenschaftlern gibt, deren besonderes Interesse, ungeachtet ihrer sonstigen Verschieden­heit, der Erzählung, der Narration und der Narrativität galt. Sie haben sich dem Problem der historischen Erzählung unter dem Aspekt eines mehr allgemein gehaltenen Interesses an der Theorie des Diskurses zugewandt; ihre Analysen haben lediglich eines gemein­sam: die Abwendung von der semiologischen Sprachtheorie. Von grundlegender Bedeutung ist R. Barthes, Elemente der Semiologie, Frankfurt a. M. 1983, vgl. auch »Tel Quel«, Die Demas­kierung der bür­gerlichen Kulturideologie, München 1971. Eine umfassende Theorie der »semiohistory« gibt P. Valesio, The Practice of Literary Semiotics: A Theoretical Proposal, Urbino, Centro Internazionale di Semiótica e di Lingüistica, Nr. 71, Serie D, Feb. 1978; sowie Novantiqua: Rheto­rics as a Contemporary Theory, Bloomington 1980.
Ein allgemein semiologischer Ansatz in der Erzählforschung hat ein ganz neues Arbeitsfeld geschaffen, die »Narratologie«. Die gegen­wärtige Situation und Interessenlage der auf diesem Feld arbeitenden Wissenschaftler verdeutlichen die in drei Bänden gesammelten Auf­sätze in Poetics Today: Narratology I, II, III, Tel Aviv, Bd. I und II (1980-1981). Vgl. auch die beiden Bände zu zeitgenössischen Theo­rien von »Erzählen und Erzählung» in: New Literary History, VI (1975) und XI (1980) sowie die Sondernummer On Narrative von Cri­tical Inquiry, VII, 1 (1980).

[15] Diese Standpunkte werden vertreten bei H.-G. Gadamer, Das Pro­blem des historischen Bewußtseins, in: Kleine Schriften IV. Variationen, Tübingen 1977; und P. Ricoeur, Geschichte und Wahrheit, München 1974; The Model of the Text, in: Social Research, XXXVIII, 3 (1971); Expliquer et comprendre, in: Revue philosophique de Louvain, LV (1977), und Narrative Time, in: Critical Inquiry,X\\, 1 (1980).

[16] J. H. Hexter, Doing History, Bloomington 1971, S. 1-14, 77-106. Eine ähnliche Auffassung über das »Handwerk« der Geschichtsfor­schung vertritt der Philosoph I. Berlin, Geschichte als Wissenschaft,in: H. M. Baumgartner/J. Rüsen (Hg.), Seminar: Geschichte und Theorie. Umrisse einer Historik, Frankfurt a. M. 1976.

[17] Die Verteidigung der Historiographie als empirisches Forschungsun­ternehmen bleibt bestehen und manifestiert sich häufig in offenem Mißtrauen gegenüber der »Theorie«. Vgl. dazu beispielsweise E. P. Thompson, The Poverty of Theory, London 1978 (gekürzte dt. Aus­gabe: Das Elend der Theorie, Frankfurt a.M. 1980); sowie P. Ander­sons Analyse dieses Buches in: Arguments Within English Marxism, London 1980.

[18] F. Braudel, The Situation of History in 1950, in: On History, Chicago 1980, S. 11.

[19] Furets Haltung variiert dem jeweiligen Anlaß entsprechend. Man ver­gleiche seine Bemerkungen im vorlie­genden Band mit jenen seines Aufsatzes Quantitative History, in dem er eine »histoire événementielle« kritisiert, nicht deshalb, weil sie von »politischen Tatbestän­den« handelt oder weil sie »aus einer bloßen Erzählung bestimmter ausgewählter ›Ereignisse‹ entlang der Zeitachse zusammengesetzt« ist, sondern weil »sie auf der Vorstellung beruht, daß diese Ereignisse einzigartig sind und nicht statistisch dargestellt werden können und daß das Einzigartige der Stoff der Geschichte par excellence ist«. Er zieht daraus den Schluß: »Deshalb geht es bei dieser Art von Ge­schichte paradoxerweise gleichzeitig um das Kurzfristige und um eine finalistische Ideologie.« In: Gilbert/Graubard (Hg.), Historical Studies Today, a. a. O., S. 54.

[20] Vgl. J. Le Goff: »Der ›Annales‹-Schule war das Trio aus Politikge­schichte, narrativer Geschichte und Chronik oder episodischer (événementielle) Geschichte verhaßt. All dies war in ihren Augen bloße Pseudogeschichte, Geschichte auf die billige Art, eine oberflächliche Angelegenheit.« Is Politics Still the Backbone of History?, in: Gilbert/ Graubard (Hg.), Historical Studies Today, a. a. O., S. 340.

[21] Furet zeigt, daß die »traditionelle historische Interpretation der Logik der Erzählung« folgt, was er kommen­tiert mit, »das Vorher er­klärt das Nachher«. Die Selektion der Fakten wird gesteuert von »dieser impliziten Logik, die die Periode gegenüber dem Objekt bevorzugt und die Ereignisse in bezug auf ihren Platz in einer durch Anfang und Ende gekennzeichneten Erzählung aussucht«. (Vgl. in diesem Band S. 157.) Er charakterisiert sodann »die politische Geschichtswissenschaft« als »das Modell dieses Typs der Geschichtswis­senschaft«, weil die Politik »im weitesten Sinne den bevorzugten Ort für einen Wandel darstellt« ; dieses wiederum erlaubt eine Geschichts­darstellung im Sinne der Kategorien der menschlichen Freiheit (»die Freiheit des Menschen«). »Die Politik« ist »Geschichte in Roman­form, … «. (Ebd., S. 157 f.)

[22] Furet behauptet: »Im Gegensatz dazu ergibt sich die Sprache der So­zialwissenschaften aus der Suche nach der Determiniertheit und den Grenzen des Handelns.« (Ebd., S. 158.) Er schließt daraus, daß, um Geschichte zum Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung zu machen, es notwendig sei, »nicht nur auf die zentrale Darstellungs­form des Faches, die Erzählung, sondern auch auf sein Lieblings­thema, die Politik, zu verzichten«. (Ebd., S. 159.)

[23] Zu den besseren Darstellungen gehören: F. Wahl (Hg.), Einführung in den Strukturalismus, Frankfurt a. M. 1973 ; R. Macksey/E. Donato (Hg.), The Languages of Criticism and the Sciences of Man: The Structuralist Controversy, Baltimore 1970; J. V. Harari (Hg.), Textual Stra­tegies: Perspectives in Post-Structuralist Criticism, Ithaca 1979; John Sturrock (Hg.), Structuralism and Since, Oxford 1979. Zu Struktura­lismus und Geschichtstheorie vgl. A. Schmidt, Geschichte und Struk­tur: Fragen einer marxistischen Historik, München 1971. Vgl. in diesem Zusammenhang auch H. White, Metahistory: The Historical Imagina­tion in Nineteenth-Century Europe, Baltimore 1973, und ders., Auch Klio dichtet oder die Fiktion des Faktischen, Stuttgart 1986. Ein faszi­nierendes Beispiel für die Applikation strukturalistisch- poststruk­turalistischer Ideen auf Probleme der historischen Untersuchung und Exposition ist T. Todorov, Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen, Frankfurt a. M. 1985.

[24] C. Lévi-Strauss, Das wilde Denken, Frankfurt a. M. 1968; in Kap. IX, »Geschichte und Dialektik«, schreibt Lévi-Strauss: »… im System Sartres spielt die Geschichte genau die Rolle eines Mythos«. (S. 292) Und weiter: »Es genügt also, daß die Geschichte sich zeitlich von uns entfernt oder daß wir uns im Denken von ihr entfernen, und schon ist sie nicht mehr interiorisierbar und verliert ihre Intelligibilität, eine Il­lusion, die mit einer vorübergehenden Interiorität zusammenhängt.« (S. 294) Und: »Wie man von bestimmten Karrieren sagt, sie führen überallhin, so auch die Geschichte, unter der Bedingung allerdings, daß man aus ihr heraustritt.« (S. 302)

[25] »Man braucht nur zu erkennen, daß die Geschichtswissenschaft eine Methode ist, der kein genaues Objekt entspricht, und infolgedessen die Äquivalenz zwischen dem Begriff der Geschichte und dem der Menschheit zu verwerfen, … «. (Ebd., s. a. S. 288-290, 292)

[26] »In Wahrheit ist die Geschichtswissenschaft nicht an den Menschen oder an irgendein besonderes Objekt gebunden. Sie besteht ganz und gar in ihrer Methode, von der man aus Erfahrung weiß, daß sie unerläßlich ist, um die Integralität der Elemente einer beliebigen mensch­lichen oder nichtmenschlichen Struktur zu erfassen.« (Ebd., S. 302)

[27] Ebd., S. 301 n.

[28] C. Lévi-Strauss, Mythologien III. Der Ursprung der Tischsitten,Frankfurt a. M. 1973.

[29] Vgl. R. Coward/J. Ellis, Language and Materialism: Developments in Semiology and the Theory of the Subject, London 1977, S. 81-82; H. White, Michel Foucault, in: Sturrock (Hg.), Structuralism and Since, a. a. O., Anm. 23.

[30] J. Derrida, The Law of Genre, in: Critical Inquiry, VII, 1 (1980), S. 55-82, und Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Die Schrift und die Differenz, Frankfurt a. M. 1972. Julia Kristeva schreibt: »In der Erzählung kon­stituiert sich das sprechende Subjekt als Mitglied einer Familie, eines Stammes oder eines Staates; es wurde gezeigt, daß der syntaktisch-normative Satz sich im Zusammenhang des Prosa- und später dann des historischen Erzählens entwickelt. Das gleichzeitige Auftreten von narrativer Gattung und Satz begrenzt den Bezeichnungsprozeß auf eine Frage- und Kommunikationshaltung.« The Novel as Polylogue, in: Desire in Language, New York 1980, S. 174. Vgl. auch J.-F. Lyotard, Petite économie libidinale d’un dispositif narratif ... in : Des di­spositifs pulsionnels, Paris 1973,8. 180-184.

[31] R. Barthes, Le discours de l’histoire, in: ders., Essais critiques IV, Le bruissement de la langue, Paris 1984, S. 153.

[32] Ders., Mythen des Alltags, Frankfurt a. M. 1964, New York 1972.

[33] Ders., Le discours de l’histoire, S. 164.

[34] Ebd., S. 166.

[35] »… jenseits der Ebene der Narration beginnt die Welt, … « ders., In­troduction à l’analyse structurelle des récits, in: ders., Aventures sémio­logique, S. 199.

[36] Ebd., S. 205 f.

[37] Ders., Le discours de l’histoire, S. 165.

[38] Vgl. Anderson, Arguments within English Marxism, S. 14, 98, 162.

[39] Vgl. die Kommentare von D. Bell/P. Wiles in: Dumoulin/Moisi (Hg.), The Historian between the Ethnologist and the Futurologist, S. 64-71, 89-90.

[40] R. Jakobson, Linguistik und Poetik, in: J. Ihwe (Hg.), Literaturwis­senschaft und Linguistik, Frankfurt a.M. 1972, S. 99-135. Jakobsons Aufsatz ist unumgänglich für das Verständnis einer Theorie des Dis­kurses, wie sie sich im Rahmen einer allgemein semiologischen Aus­richtung seit den sechziger Jahren entwickelt hat. Dabei ist zu beto­nen, daß, während viele Poststrukturalisten sich auf die Arbitrarität des Zeichens und a fortiori auf die der Diskurskonstitution schlecht­hin berufen haben, Jakobson immer auf der Möglichkeit eines in­neren Sinns, der sogar noch dem Phonem innewohnt, insistierte. Während daher radikalere Poststrukturalisten wie Derrida, Kristeva, Sollers und der spätere Barthes die diskursive »Referentialität« als Illusion betrachteten, folgte Jakobson dieser Auffassung nicht. Referentialität war einfach eine der sechs grundlegenden Funktionen der sprachlichen Kommunikation.

[41] Jakobsons Schüler Paolo Valesio formuliert diesen Sachverhalt fol­gendermaßen: »… hinsichtlich seines funktionalen Aspekts beruht jeder Diskurs auf einer relativ begrenzten Reihe von Mechanismen … die jede referentielle Auswahl auf eine formale Auswahl reduzie­ren.« Novantiqua, S. 21. Daher, so Valesio, »… kann es niemals darum gehen, … auf Referenten in der »realen« Welt zu verweisen, zwischen wahr und falsch, schön und häßlich und so weiter zu unter­scheiden. Man hat nur die Wahl zwischen den anzuwendenden Me­chanismen, und diese Mechanismen konditionieren bereits jeden Diskurs, weil sie vereinfachte Darstellungen der Wirklichkeit sind, die unausweichlich und im Innersten parteiisch einer Richtung zu­neigen. Die Mechanismen erweisen sich immer … als gnoseologisch, sind aber in Wahrheit eristisch-, sie verleihen dem Bild der Entität, die sie beschreiben, eine positive oder negative Konnotation, und zwar genau dann, wenn sie sie zu beschreiben beginnen.« (Ebd., S. 21 f.)

[42] Dieses Beispiel stammt aus A. C. Danto, Analytische Philosophie der Geschichte, Frankfurt a. M. 1974.

[43] Vgl. Dray, Philosophy of History, S. 19,43-47.

[44] J. M. Lotman, Die Struktur des künstlerischen Textes, Frankfurt a. M. 1973, S. 13-17,285-288.

[45] Ebd., S. 39-44.

[46] Vgl. dazu White, Metahistory, »Introduction: the Poetics of History«, S. 1-38; sowie ders., Auch Klio dichtet, Kap. 2-5.

[47] Louis O. Mink, Narrative Form as a Cognitive Instrument, in: R. H. Canary/H. Kozicki (Hg.), The Writing of History: Literary Form and Historical Understanding, Madison/Wisc. 1978, S. 143-144.

[48] »Hegel bemerkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen Tat­sachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat verges­sen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce. Caussidiere für Danton, Louis Blanc für Robespierre, die Montagne von 1848-51 für die Montagne von 1793-95, der Neffe für den Onkel. Und dieselbe Karikatur in den Umständen, unter denen die zweite Auflage des achtzehnten Brumaire herausgegeben wird!« K. Marx, Politische Schriften, I, hg. v. H.-J. Lieber, Werkausgabe in 6 Bde., Bd. III. 1, Darmstadt 19603, S. 270; dies ist nicht bloß ein Aphorismus. Das gesamte Werk ist als Farce verfaßt. Vgl. White, Metahistory, S. 320-327; sowie ders., The Problem of Style in Realistic Representation; Marx and Flaubert, in: B. Lang (Hg.), The Concept of Style, Philadelphia 1979, S. 213-229.

[49] H.-G. Gadamer, Das Problem des historischen Bewußtseins, Kleine Schriften, S. 144-146, und P. Ricoeur, Du conflit à la convergence de méthodes en exégèse biblique, in: R. Barthes/P. Beauchamps u.a., Exégèse et herméneutique, Paris 1971, S. 47-51.

[50] P. Ricoeur, Explanation and Understanding: On Some Remarkable Connections Among the Theory of the Text, Theory of Action, and Theory of History, in: C. E. Reagan/D. Stewart (Hg.), The Philosophy of Paul Ricoeur, Boston 1978, S. 165.

[51] Ebd., S. 161.

[52] Ebd., S. 153-158.

[53] P. Ricoeur, The Model of the Text: Meaningful Action Considered as a Text, in: P. Rabinow/W. Sullivan (Hg.), Interpretive Social Science, Berkeley 1979, S. 83-85.

[54] Ebd., S. 77-79.

[55] P. Ricoeur, Narrative Time, in: Critical Inquiry, VII, 1 (1980), S. 178-179.

[56] Ebd., S. 171.

[57] Ebd.

[58] Ebd., S. 178.

[59] Ebd., S. 183 f.

[60] Ebd., S. 169.

[61] P. Ricoeur, Existence and Hermeneutics, in: Reagan/Stewart (Hg.), Philosophy of Paul Ricoeur, S. 98.

[62] P. Ricoeur, The Language of Faith, in: ebd., S. 233.

[63] Ebd.

[64] P. Ricoeur, Narrative Time, S. 178-184.

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