Georg Merz, Tausendjähriges Reich: „Sie er­hoffen das Reich Christi als ein Ereignis der Ge­schichte, unterscheiden darum das Tausendjährige Reich als eine Epoche dieser Geschichte von der Wiederkunft Christi in seiner Herrlichkeit als dem Ende aller Geschichte. In der Aussage von Offenbarung 20 und in den auf dieses Kapitel sich beziehenden Aussagen der Schriften Alten und Neuen Testaments sehen sie ein unüberhörbares Zeugnis für die Realität der dieser Erde zugesagten Hoffnung.“

Tausendjähriges Reich

Von Georg Merz

In der Offenbarung des Johannes wird im 20. Kapitel berichtet, daß der Satan „tausend Jahre“ gebunden werde und in diesen Jahren keine Verführungsgewalt mehr haben solle über die Völker, während die der „ersten Auf­erstehung“ (V 6) Gewürdigten „Priester Gottes und Christi sein werden und mit ihm regieren tausend Jahre“. Dieses Zeugnis ist die Grundlage der Lehre vom Tausendjährigen Reich oder, wie es lateinisch heißt, vom „Millennium“. Da im Griechischen „tausend Jahre“ — chilia étē — heißt, nennt man diese Lehre Chiliasmus und nennt ihre Anhänger Chiliasten. In der Geschichte der christlichen Kirche ist der Chiliasmus zunächst von einer Reihe Kirchenvätern wie Irenaeus und Tertullian vertreten worden, bis ihnen gegenüber die Auslegung der Alexandriner unter Führung des Origenes siegte, die alle auf das „Reich“ bezüglichen Aussagen geistig verstanden. Als sich dann im Mittelalter die Meinung durchsetzte, die päpstliche Kirche als solche sei das „regnum dei“, das Reich Gottes, so daß es keiner besonderen Offenbarung des Reiches mehr bedürfe, sondern nur der Überkleidung des irdischen Reiches mit Herr­lichkeit, erhofften viele der Kritiker an der Hier­archie ein Reich der Gerechtigkeit und des Friedens, in dem die Nöte der Armen und Elenden aufgehoben seien. Eine besondere Stellung hat in der Ver­kündigung dieser Hoffnung der Abt Joachim von Floris, dessen Lehren auch nachwirkten bei den religiös-revolutionären Bewegungen des 16. Jahrhunderts, während des Bauernkrieges bei Thomas Münzer und ein Jahzehnt später bei den Wieder­täufern von Münster. Auch die Revolution Eng­lands im 17. Jahrhundert ist von diesen Gedanken bestimmt. Im Gegensatz dazu wurde diese Lehre von den Reformatoren selber zurückgedrängt. Die Augu­stana lehrt im 17. Artikel: „Es werden verworfen auch etliche jüdische Lehren, die sich auch jetzund ereignen, daß vor der Auferstehung der Toten eitel Heilige, Fromme ein weltlich Reich haben und alle Gottlosen vertilgen werden.“

In der Orthodoxie lehnte man jeden Chiliasmus ab. Er bekam aber eine neue Bedeutung durch Philipp Jakob Spener und den Pietismus. Auch Bengel war „Chiliast“. Aber diese Chiliasten lehrten im Gegen­satz zu den „jüdischen Hoffnungen“ der Schwärmer keine politische Heilslehre, sondern erwarteten von den „tausend Jahren“ die Lösung der „dunklen“ Stellen der Heiligen Schrift und die Auflösung der Rätsel der Geschichte. Bei etlichen wurde die Frage nach der Ankunft des Volkes Israel mit der Aus­legung von Offenbarung 20 verbunden und Römer 9–11 mit den Bildern zusammengeschaut, die sich aus Offenbarung 20 ergeben, meist in der Form, daß man für diese Zeit eine Bekehrung des Volkes Israel er­wartete, das dann das Volk der großen endgültigen Völkermission werde und sich nach der „Episode“ der Kirche aus den Völkern als die „eigentliche“ Kirche des Volkes Gottes mit den Gläubigen aus den Völkern darstelle. In dieser und ähnlicher Form ist die „chiliastische“ Lehre auch eine Hauptlehre bei „adventistischen“ Sektierern geworden.

In der kirchlichen Theologie der evangelischen Kirchen wird die Lehre streng abgelehnt von denen, die in der Schriftauslegung der alten Orthodoxie folgen, am strengsten von der Kirche der Missouri-Synode. Sie wird aber auch abgelehnt von allen Theologen, die mehr oder minder von der idea­listischen Philosophie bestimmt oder beeinflußt sind und die in dieser Lehre eine Abweichung von dem „geistigen“ Charakter des Evangeliums sehen. Mit Entschiedenheit vertreten wird sie von allen, die mittelbar oder unmittelbar den Methoden von Bengel folgen, so z. B. von dem großen Erlanger Schrifttheologen Johannes von Hofmann. Auch Wilhelm Löhe hat sich selbst als „Chiliast“ bezeichnet. Von den neueren ist es besonders Karl Barth, der an diesem Lehrstück festhält. So verschieden die Begründung im einzelnen ist, so liegt die Gemeinschaft dieser chiliastischen Exegeten, die sich an einen Schriftbeweis gebunden fühlt, der das Ganze der Schriftaussagen bedenkt, darin, daß sie im Gegensatz zu jedem Spiritualismus, Idealismus und Rationalismus realistisch lehren. Sie er­hoffen das Reich Christi als ein Ereignis der Ge­schichte, unterscheiden darum das Tausendjährige Reich als eine Epoche dieser Geschichte von der Wiederkunft Christi in seiner Herrlichkeit als dem Ende aller Geschichte. In der Aussage von Offenbarung 20 und in den auf dieses Kapitel sich beziehenden Aussagen der Schriften Alten und Neuen Testaments sehen sie ein unüberhörbares Zeugnis für die Realität der dieser Erde zugesagten Hoffnung. Darum stehen sie gleichzeitig im Gegen­satz zu allen „jüdischen Hoffnungen“, die das Reich nach den Sehnsüchten der menschlichen Sinnlichkeit und nach den Utopien der politischen Heilslehre aus­malen. Im Gegensatz dazu betonen sie den geistlichen Charakter der Aussagen, vor allem die Hervor­hebung des priesterlichen Waltens der mit Christus herrschenden Frommen.

Quelle: Biblisch-Theologisches Handwörterbuch zur Lutherbibel und zu neueren Überset­zungen, hrsg. v. Edo Osterloh und Hans Engelland, 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, S. 593f.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar