Kardinal Jean-Marc Aveline, Erzbischof von Marseille, ist im Frühjahr zum Vorsitzenden der französischen Bischofskonferenz gewählt worden. Wofür er missionstheologisch steht, wird in folgender Predigt sichtbar:
Predigt
von Kardinal Jean-Marc Aveline, Erzbischof von Marseille
Sondergesandter des Heiligen Vaters anlässlich der Feierlichkeiten zum 350-jährigen Jubiläum der Gründung des Bistums Québec
Basilika-Kathedrale Notre-Dame de Québec
Québec, Sonntag, 22. September 2024
Liebe Freunde,
Als Papst Franziskus mich bat, sein Vertreter bei der Feier des 350. Jahrestags der Gründung eures Bistums zu sein, verstand ich, dass ihm dieses Ereignis besonders am Herzen liegt. Denn seit vielen Jahren – und besonders seit seiner unvergesslichen apostolischen Reise zu euch vor zwei Jahren – hat er große Wertschätzung für eure Kirche gezeigt. Er möchte sie mit Fürsorge begleiten, ihr helfen, die Stürme mutig zu durchqueren, gemeinsam mit ihr einen Bußweg im Hinblick auf die indigenen Völker zu gehen und sie gleichzeitig ermutigen, hoffnungsvoll in die Zukunft zu schauen, mit noch größerer Hinwendung zu Christus und der Hoffnung, die aus seiner Berufung erwächst.
Was mich betrifft, so habe ich euer Volk bereits lieben gelernt, da ich mehrere Jahre lang im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Universität Laval für meine Doktorarbeit geforscht habe. An den Sonntagen half ich in der Pfarrei Sainte-Ursule in Sainte-Foy aus. Während dieser wiederholten Aufenthalte konnte ich die Reize eures Landes entdecken – zugleich prachtvoll und rau, herzlich in seiner Gastfreundschaft, stolz auf seine Weite und dennoch sich der eigenen Zerbrechlichkeit bewusst. Im Laufe der Jahre habe ich wunderbare und dauerhafte Freundschaften mit Menschen aus eurer Mitte geschlossen, die mir nicht nur geholfen haben, diese „schöne Provinz“ zu entdecken und zu lieben, sondern die mir auch helfen – bis heute – auf meinem Lebensweg weiterzugehen. Wegen dieser Freunde bin ich dir zu Dank verpflichtet, Kirche von Québec, und ich möchte zu deinem heutigen Dankgebet mein schlichtes Zeugnis der Dankbarkeit hinzufügen.
In diesem Geist des Respekts und der Dankbarkeit erlaubt mir, euch – sozusagen als Geburtstagsgeschenk – einige Überlegungen und Ratschläge mitzugeben, ausgehend von meiner eigenen Erfahrung in Marseille.
Zunächst scheint mir wichtig, dass wir uns daran erinnern, dass der Grundauftrag der Kirche darin besteht, dem Liebesdienst Gottes an der Welt zu dienen. „Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt“, schreibt der heilige Johannes, „dass er seinen einzigen Sohn hingab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht zugrunde geht, sondern ewiges Leben hat“ (Joh 3,16). Eine solche Weise, die Mission zu leben, rückt die Kirche aus ihrer Selbstbezogenheit heraus. Sie darf nicht von der Sorge um das eigene Überleben absorbiert sein, sondern soll Jesus in sich lebendig halten – ihn, der „der Weg, die Wahrheit und das Leben“ ist (Joh 14,6), der sie stets zu erneuern vermag und den sie zu verkünden hat – nicht so sehr durch spektakuläre Aktionen, sondern durch Präsenz, Nähe, und Aufmerksamkeit für jeden Einzelnen, besonders die Geringsten. Wir stehen nicht im Zentrum, sondern im Dienst einer Liebesbeziehung, die uns übersteigt und zugleich beansprucht.
„Mission bedeutet für uns vor allem Nachbarschaftsbeziehungen“, sagten mir die beiden überlebenden Brüder von Tibhirine, als ich sie im Trappistenkloster von Midelt in Marokko besuchte. Und sie wussten, wie weit sie diese einfache Treue um Christi willen geführt hatte.
Kirche von Québec, vergiss nicht: Deine Aufgabe ist nicht, ein Museum zu werden, das ein Erbe bewahrt! Auch wenn es dir zusteht, der Taten der Apostel zu gedenken, die dir auf diesem Boden vorangegangen sind – und sie sind zahlreich und oft bewundernswert, wie ich bei der Entdeckung deiner Geschichte feststellen konnte –, so ist deine Sendung heute, dich wie sie senden zu lassen – offen für jede Begegnung. Sei präsent an den Bruchlinien, die die quebecische Gesellschaft heute durchziehen – ob wirtschaftlich, kulturell oder religiös. Lasse die Gräben nicht weiter wachsen, die so viele Arme am Wegesrand zurücklassen, Opfer des Fanatismus der Gleichgültigkeit. Nimm deinen Teil am Kampf gegen das Unrecht. Sei nah bei denen, die sich verlassen, unverstanden, abgelehnt und verachtet fühlen. Erinnere dich, wie der heilige Jakobus in seinem Brief sagte, dass Kriege und Konflikte zumeist aus Gier und Eifersucht entstehen.
Kirche von Québec, denke an das Beispiel deines ersten Bischofs, des heiligen François de Laval, der unermüdlich pastorale Besuche in seiner riesigen Diözese unternahm, um all diesen verschiedenen Völkern nahe zu sein, besonders den indigenen, die ihm der Herr anvertraute. „Wir müssen diesen Völkern mit Sanftmut und Geduld begegnen, ihnen das christliche Leben vorleben, noch bevor wir ihnen seine Gebote lehren“, sagte er.
Euch, Brüder und Schwestern, ist es aufgetragen, die Männer und Frauen des heutigen Québec zu lieben – nicht ein erträumtes Québec, sondern das wirkliche Québec. Euch ist es aufgetragen, Christus durch euer Leben zu zeigen, bevor ihr ihn mit Worten verkündet. Lebt so, dass man beim Anblick eures Lebens neugierig wird auf Denjenigen, der euch lebendig macht. Viele Quebecker von heute kennen Christus nicht – oder, schlimmer noch, sie kennen nur Karikaturen von ihm. Hört geduldig auf ihre Freuden und Sorgen, ihre Hoffnungen und Ängste, tragt sie im Gebet, und bietet ihnen jene Kraft an, die aus Christus kommt und die ihr bei jeder Eucharistie empfangt. Auch wenn sie nicht benennen können, wonach sie sich in der Tiefe sehnen – zweifelt nicht daran, dass diese Männer und Frauen, diese Jugendlichen und Kinder, im Verborgenen ihrer oft ausgedörrten oder betäubten Herzen, dennoch wie die Frau von Samaria auf der Suche nach „lebendigem Wasser“ sind, nach einer Antwort auf ihre existenziellen Fragen, nach einem Sinn für ihr Leben, nach einer Rettung für ihre Zukunft.
Kirche von Québec, es ist gut, missionarische Projekte zu entwickeln, aber verharre nicht in deinen internen organisatorischen Problemen. Verlass deinen Mittelpunkt! Stelle Christus und die Armen in den Mittelpunkt – dann bist du auf dem richtigen Weg! Vergiss nicht das Wesentliche der Botschaft, die dir anvertraut wurde: die Liebe, mit der Gott die Welt liebt – bis hin zur Hingabe seines Sohnes für unser Heil. Biete Gott die Gastfreundschaft deines Herzens an, damit du deinen Brüdern und Schwestern ein Gesicht dieser Botschaft zeigen kannst. Sei wahrhaftig, damit jene, „die das Böse ersinnen“, wie es im Buch der Weisheit heißt, keinen Zugriff auf dich finden, wenn sie deine Geduld prüfen und deine Sanftheit auf die Probe stellen! Und vergiss nicht: Begegnungen, die Gott schenkt, verändern – wenn sie wahrhaft gelebt werden – sowohl den, der das Evangelium empfängt, als auch den, der es verkündet.
Und noch etwas, Kirche von Québec: Vergiss nicht, dass jede Kultur fähig ist, gemäß ihrem eigenen Genius die Botschaft des Evangeliums auszudrücken. Verwechsle missionarische Ausbreitung nicht mit kulturellem Imperialismus, wie es leider durch zu enge Verbindungen zwischen Mission und Kolonisation oft den Anschein hatte – so sehr hat eine Bildung, die vorgab, die „einzige wahre Zivilisation“ zu vermitteln, unseren Blick für die Schönheit anderer Kulturen verschlossen. Die Bußwallfahrt von Papst Franziskus hat dich ermutigt, die Spuren des göttlichen Verlangens in der kulturellen und religiösen Geschichte der Menschheit zu entdecken – besonders bei den indigenen Völkern. Setze diese Arbeit fort – nicht in lähmender Schuld, sondern mit dem Mut, nach eingestandenen Fehlern mit Freude zu entdecken, wie das Wirken des Geistes in Kulturen sichtbar wird, die vielleicht keine christlichen Zeichen tragen, aber dir – und der ganzen Kirche – helfen können zu entdecken, dass das Geheimnis Gottes noch viel größer ist, als wir bisher zu wissen glaubten. Das bedeutet, katholisch zu werden!
Denn die Katholizität der Kirche – sie ist zugleich Gabe und Auftrag, der alle Christen betrifft, gleich welcher Konfession – misst sich nicht an der sozialen Ausbreitung, sondern am Salz der Erde, am Licht auf dem Leuchter, an der Fruchtbarkeit des Sauerteigs. Die Kirche war bereits am Morgen von Pfingsten katholisch – als all ihre Glieder noch in einem einzigen kleinen Raum im Abendmahlssaal Platz fanden! Denn erst durch die Annahme des österlichen Geheimnisses – das Geheimnis von Tod und Auferstehung – hat die Kirche ihre Sendung empfangen. Genau das versucht Jesus zum zweiten Mal seinen Jüngern zu erklären – im Evangelium, das uns die Liturgie heute Morgen als Geschenk dargeboten hat. Doch die Jünger verstehen es immer noch nicht. Sie erinnern sich daran, was Jesus nach der ersten Ankündigung seines Leidens sagte: „Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach.“ Und diesmal fügt er hinzu: „Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener aller sein.“
Kirche von Québec, hab keine Angst, dich zu entäußern von dem, was dich beschwert, und dich ganz Christus hinzugeben – im Geheimnis seines Todes und seiner Auferstehung zum Heil der Welt. Vergiss nicht, dass dieses Heilsmysterium dich übersteigt, denn „der Heilige Geist bietet allen Menschen auf eine Weise, die Gott kennt, die Möglichkeit, am österlichen Geheimnis teilzuhaben“, wie es unsere Väter auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil (Gaudium et Spes, 22,5) formulierten. Aber vergiss auch nicht, dass dieses Geheimnis dich in die Pflicht nimmt: Mit deinen Schwächen und deinem Versagen, mit deinen Irrwegen und sogar deinen Abwegen, hat Gott dich doch berufen, in diesem Land das „Sakrament des Heils“ zu sein – das heißt in Christus: „Zeichen und Werkzeug der innigsten Vereinigung mit Gott wie der Einheit der ganzen Menschheit“ (Lumen Gentium, 1).
Liebe Kirche von Québec, danke für das schöne Zeugnis, das du dem Evangelium Jesu Christi schon gegeben hast. So viel Heiligkeit hat bereits an den Ufern deines Stromes erblüht! Setze deine Pilgerreise fort, lerne, gemeinsam zu gehen – mit allen, die dir als Weggefährten geschenkt sind, wie Papst Franziskus dich in seinem schönen Brief eingeladen hat.
Alles Gute zum Geburtstag, Kirche von Québec!
Und der Gott, der dich liebt, segne und behüte dich!
Amen!