Kornelis Heiko Miskotte, Flucht aus Babel (Vlucht uit Babel, 1956): „Tragisch wird es erst, wenn auch die Kirche in derselben Sprachzersetzung ihr Leben fristen müsste. Wenn sie keine Synthese zwischen Tradition und Innovation fände, zwischen der stets wirksamen Gleichnisrede und dem kreativen Bild. Wenn auch dort keine Jahrhunderte überspannende, Völker verbindende, die Philosophien überragende Einheit und Einfachheit der Sprache gefunden würde.“

Flucht aus Babel (Vlucht uit Babel, 1956)

Von Kornelis Heiko Miskotte

Ganz ruhig sprechen wir es aus: Wir verstehen einander nicht – im Laufe der Jahre immer weniger. Vage wundern wir uns darüber, mit einem Rest von naivem Empfinden, wie es dazu kommen konnte, obwohl wir in vielen Zusammenhängen miteinander verbunden sind und diese immer weitere Kreise in der Gesellschaft ziehen und tatsächlich zu immer breiterer Zusammenarbeit führen. Man könnte denken, dass, wie das Kosmopolitismus-Ideal der Aufklärung die Gegenbewegung der Romantik ertrug – die alles Eigene, Heimische, das Organische, die historische Tradition betonte –, auch wir uns, müde vom ständigen Streben nach Gemeinschaft und Darstellung, zurückziehen in unsere Kirche, Nation, Gruppe, Sippe, unseren Kreis, Klub oder unsere Sekte. Dort suchen wir einen Rand individueller Freiheit, ein Leben mit mehr Profil, einen Kontakt zu tieferen Schichten, zu spontaneren Gaben und unmittelbarer, warmer Mitteilungsfreude mit Verwandten, die uns erlauben, ja ermutigen, wir selbst zu sein.

Darin liegt gewiss etwas Wahres! Doch der Prozess der Entfremdung, die Kettenreaktion automatischer Missverständnisse, setzt sich auch im Vertrauteren fort: ob Zuhause, in der Halle, der Blockhütte, Loge, dem Laden oder Zelt, wo wir mit Landsleuten, Parteigenossen, Haus- oder Klubmitgliedern zusammenkommen. Aber im Grunde sind wir auf der Flucht – auch von dort! Denn die Menschen sind zwar nett miteinander, aber ihre Sprache lässt sich nicht mit unserer vereinbaren. Ihr „allgemein Gebildetes“ ist nicht unser „allgemein Gebildetes“, ihr Alphabet ist so fern von unserem, dass wir nur zufällig, nach dem Klang, manchmal dasselbe Wort formen.

Wir, sagt man, leben in einer polyvalenten Welt, unsere Vorstellungen sind ambivalent. Das Eigene, das für uns wahr ist, lässt sich nur in Paradoxien ausdrücken. Und sobald die Paradoxien auch im kleineren Kreis nicht mehr ankommen, ergreifen wir den Wanderstab und ziehen weiter – Flüchtlinge, Pilger, Pfadfinder, hinaus aus diesem Babylon, aus dieser babylonischen Sprachverwirrung. Diese Verwirrung rührt nicht daher, dass wir, sagen wir seit der Aufklärung, alle oder mehrheitlich so originell geworden wären.

Im Gegenteil! Das ist gerade das Verrückte: Die Uniformierung schreitet voran, bis in die Falten unseres Gewissens. Wir werden immer mehr durch das System, die Propaganda, die Werbung versklavt. Wir verstehen einander auf Meilen Entfernung, wir durchschauen die Sophismen immer besser, und doch, in immer entschlossenerem Misstrauen, schließen wir zeitweise einen stillschweigenden Pakt, den Aufstand gegen dieses Babylon in uns zu unterdrücken. Es entwickelt sich eine Art Esperanto der allgemeinen Verständlichkeit im Kollektiv – und doch fliehen wir aus diesem Babel, wegen seiner grenzenlosen Verwirrung, sobald die Sprache etwas tiefer die Grundlagen unseres Menschseins berührt.

Ja, ja, die Theologie, einst das Fundament der Universität, ist abgeschafft. Ihr Nachfolger, die Philosophie, hat sich in unzählige Schulen zersplittert, und deren Nachfolger, die Naturwissenschaft, hat eine vorläufige Sprache geschaffen, die sich selbst als unrein empfindet. Denn das Reine, wonach sie strebt, ist die Zahl und das Maß – jene sterile Klarheit, die von allem menschlichen Denken befreit ist.

Von dort aus stürzen wir in unser Triebleben und tauchen mit dadaistischen Wortgesten wieder auf, nur um, schwindelig vor Hitze, uns zu neuen Pathosen aufzuschwingen oder, zitternd vor Kälte, in den Bunker einer neuen Sachlichkeit zurückzuziehen. Schienbar fest in der Hand, im Grunde ratlos und ohne Kraft zur Entscheidung.

Wir fliehen aus der Sprachverwirrung, aus diesem sublimen und perfiden Leiden, das an unserem Leben nagt. Denn im Wort blüht unser Leben, in der Sprache liegt unsere Gemeinschaft. Wer wirklich eine Sprache spricht, ist auch wirklich eins. Wir fliehen aus diesem Babel, und ein Ende unserer Flucht ist nicht abzusehen.

Tragisch wird es erst, wenn auch die Kirche in derselben Sprachzersetzung ihr Leben fristen müsste. Wenn sie keine Synthese zwischen Tradition und Innovation fände, zwischen der stets wirksamen Gleichnisrede und dem kreativen Bild. Wenn auch dort keine Jahrhunderte überspannende, Völker verbindende, die Philosophien überragende Einheit und Einfachheit der Sprache gefunden würde.

Oder tragisch? Nein, bewahren wir dieses Wort für etwas noch Schlimmeres und nahezu Undenkbares: dass die Kirche, entmutigt, getrieben, nervös, die Flucht aus Babel in ihrer Mitte stoppen und erstarren ließe. Dass die Sprachverwirrung plötzlich geweiht würde – sakral, unantastbar. Aus den besten Absichten heraus, um der Menschen von heute willen, die in ihrem stecken gebliebenen Denken nur noch auf die einfachsten (und dennoch zweideutigen) Parolen reagieren. Aus den besten Absichten heraus, um den vielfältigen Reichtum des Kircheseins glanzvoll darzustellen. Und dennoch: Diese festgehaltene Flucht aus Babel wäre die babylonische Gefangenschaft, die Bindung an das, was Barth einmal „das babylonische Ungeheuer“ nannte.

Gott gebe, dass es dazu nie kommen möge. Lieber sollen wir experimentell sein, vorwärts tastend in Sprachabenteuern, als uns von den erstarrten Formen widersprechender Bekenntnisse, sich kreuzender Idiome und sich ausschließender „Wahrheiten“ umgeben zu lassen – ein Kraterrand, ein Relikt vergangener Eruptionen, das die kommenden Jahrhunderte nur noch als raues, ruhmvolles Gebirgsmassiv am Horizont überdauert.

Das wäre die Aussicht, wenn die ökumenische Bewegung aus Angst vor der Flucht aus Babel sesshaft würde in einem Babylon, in dem die Eruptionen verstummt sind. Persönlich glaube ich nicht an dieses furchtbare Szenario. Wenn sich so etwas abzeichnet, sollten wir lieber in unserer eigenen Sprache wohnen oder aus der doppeldeutigen Sprache unserer Umgebung fliehen und als Emigranten, Hebräer, „displaced persons“ weiterziehen, als uns müde der Tyrannei einer wohlmeinenden Allumfassendheit auszuliefern.

Bei einer solchen Bedrohung gibt es einiges zu tun:

  1. Grenzen setzen in der Interpretation unseres Glaubensbekenntnisses,
  2. Widerstand leisten gegen Allegorisierungen, die sich der historischen Kritik entziehen,
  3. Enthüllung der koketten Unkenntnis unserer „Väter“,
  4. Förderung notwendiger Entmythologisierungen,
  5. Treue zur Sprache unserer Mutter und Pflege des Kontakts mit verwandten Sprachen,
  6. Verständnis für die Flucht aus unserem Klein-Babel,
  7. Alarm schlagen gegen die Einweihung des großen Babel – dieses erstarrten Amalgams aller Sprachen, das, wie in einem totalitären Staat, in „Feier der Freiheit“ zu einem letzten Sinn führen könnte, der sich endgültig von dem Logos entfernt, der im Anfang war, vom Wort, das in die Mitte trat, vom Geist, der in vielen Sprachen sprechen kann – jedoch nie zur Vermehrung oder Sakralisierung menschlicher Sprachverwirrung.

Quelle: In de Waagschaal (12) 1956-1957 nr. 28.

Hier der Text als pdf.

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