Erich Bryner über Nikolaj Berdjajew (1874-1948): „Sein Denken ist durch Freiheit und Schöpfertum, durch Schau und Intuition, durch das Mystische und das Irrationale geprägt. Spontaneität und Dynamik sind für ihn typisch, nicht ein durchkonstruiertes, widerspruchsloses System. Sein Denken läßt sich nicht systematisieren. Doch gerade wegen dieser uner­müdlichen Kreativität und den stets neuen Ansätzen zu Neuem, Anderem und Besserem geht von Berdjajews Schriften eine große Anziehungskraft aus.“

Nikolaj Berdjajew

Von Erich Bryner

In der Theologiegeschichte unseres Jahrhunderts nimmt der Russe Nikolaj Berdjajew (1874-1948) mit seinem umfangreichen und vielbeachteten religions­philosophischen Schrifttum eine eigentümliche Stellung ein. Das »religiöse Thema« war, wie er in seiner postum erschienenen Autobiographie »Selbster­kenntnis« schreibt, in seinem Leben »stets das Überwiegende« (185). Doch läßt sich sein eigenwilliges Denken nicht in die gängigen philosophie- und theologie­geschichtlichen Kategorien einordnen.

Von Herkunft und Bildung her gehörte Berdjajew der russischen Aristokratie an; er verspürte aber bereits als junger Mann eine heftige Abneigung gegen Adel, Militär und Staatsdienst. Eine Zeitlang war er Marxist, ja ideologischer Führer einer revolutionären Studentengruppe, doch distanzierte er sich bald wieder davon. Er fand darauf zum Humanismus und Idealismus, stieß aber auch da rasch auf Grenzen. Schließlich wurde er Christ, stand aber den historisch vorfindlichen Formen von Christentum und Kirche stets kritisch gegenüber. Nach der Ausweisung aus seiner Heimat hatte er auch zum Westen, zum westlichen Bürgertum, aber ebenso zur russischen Emigration ein kritisches Verhältnis.

Sein Denken ist durch Freiheit und Schöpfertum, durch Schau und Intuition, durch das Mystische und das Irrationale geprägt. Spontaneität und Dynamik sind für ihn typisch, nicht ein durchkonstruiertes, widerspruchsloses System. Sein Denken läßt sich nicht systematisieren. Doch gerade wegen dieser uner­müdlichen Kreativität und den stets neuen Ansätzen zu Neuem, Anderem und Besserem geht von Berdjajews Schriften eine große Anziehungskraft aus. Viele von ihnen wurden in verschiedene europäische Sprachen übersetzt, sind weit verbreitet und werden bis auf den heutigen Tag sehr geschätzt. Berdjajew kann als der bedeutendste russische Religionsphilosoph der ersten Hälfte des 20. Jahr­hunderts angesprochen werden.

»Ein Mensch, der in den geistigen Welten weit herumgepilgert ist, der im Laufe seiner Verirrungen und seines Suchens viel erfahren hat, wird von anderer geistiger Formation sein, als ein Mensch, der in seinem geistigen Leben seßhaft ist, der auf seinem Lebenswege nicht verschiedene Welten gesehen hat.« So schreibt Berdjajew in einem seiner Hauptwerke, der »Philosophie des freien Geistes« (3f.). Dieser Satz gilt, wenn er auch hier sehr allgemein formuliert worden ist, von Berdjajews Leben ganz besonders.

Nikolaj Alexandrowitsch Berdjajew wurde 1874 als Sohn einer traditionsreichen Offiziersfamilie in Obuchowo bei Kiew geboren. Sein Vater, der in jungen Jahren in einem Kavallerie-Garderegiment gedient hatte und während eines Vierteljahrhunderts Präsident einer Agrarbank war, stand geistig der Aufklärung im Sinne Voltaires nahe; in der zweiten Lebenshälfte sympathisierte er mit den religiösen Ideen Tolstois. Seine Mutter, eine geborene Prinzessin Kudaschew, stammte mütterlicherseits aus dem französischen Adel, hatte eine französische Erziehung erhalten und fühlte sich eher als Katholikin, obschon sie von Geburt an orthodox war. Nikolaj Berdjajew wuchs in einer ausgesprochen aristokrati­schen Umwelt auf. Der Familientradition entsprechend wurde er zur Schulung in das Kiewer Kadettenkorps gegeben. Er konnte sich aber in der militärischen Lehranstalt geistig nicht zurechtfinden, brach den Lehrgang ab und begann an der Universität Kiew mit dem Studium der Naturwissenschaften (1894).

Hier begegnete Berdjajew marxistischen Kreisen. Der Marxismus war in den 1890er Jahren in Rußland eine außerordentlich attraktive Bewegung, die beson­ders in der intellektuellen Jugend viele Anhänger fand. Berdjajew spielte dank seiner umfassenden philosophischen Bildung und dank seines intensiven Enga­gements für die sozialen Fragen bald eine führende Rolle in diesen Zirkeln. Wegen seiner propagandistischen Aktivitäten wurde er aber 1899 aus der Univer­sität ausgeschlossen und ins Gouvernement Vologda, tief im Norden des euro­päischen Rußland, verbannt. Weitere philosophische Reflexionen führten ihn immer mehr an die Grenzen des Marxismus. Er habe sich dem Marxismus niemals einfügen können, bekannte er später einmal (Selbsterkenntnis, 130). Es fehlte ihm die Freiheit, und außerdem hielt er die Verbindung der sozialistischen Ideen, die er, der »reuige Adlige«, bejahte, mit der positivistisch-materialisti­schen Weltanschauung, die er ablehnte, für unannehmbar. Berdjajew wurde zum kritischen Marxisten, zum marxistischen Freidenker. Seine erste größere philo­sophische Untersuchung »Subjektivismus und Individualismus in der Gesell­schaftsphilosophie« (1901 in Vologda geschrieben) legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Es ging ihm darum, in Auseinandersetzung mit dem Soziologen N. K. Michajlowski (1842-1904) eine Synthese zwischen materialistischen und idealistischen Gedanken, zwischen Marx und einem kritisch interpretierten Kant zu finden.

Nach der Entlassung aus der Verbannung studierte Berdjajew kurze Zeit an der Universität Heidelberg, die damals ein Zentrum des Neukantianismus war. Im Herbst 1904 zog er nach Petersburg und verkehrte dort mit den führenden Köpfen der philosophischen, literarischen und religiösen Erneuerungsbewe­gung, der russischen Kulturrenaissance. Für die 1901 gegründeten und bereits 1903 verbotenen »religiös-philosophischen Versammlungen«, in denen Intellek­tuelle und Vertreter der Kirche in ein intensives Gespräch gekommen waren, hatte sich Berdjajew schon vor seiner Petersburger Zeit lebhaft interessiert. Jetzt arbeitete er an der aus dieser Bewegung hervorgegangenen Zeitschrift »Der neue Weg« mit und gründete 1905 zusammen mit Freunden, die ebenfalls vom Marxismus herkamen und zu einer idealistischen Weltanschauung gefunden hatten, die Zeitschrift »Lebensfragen«; zu ihnen gehörte als Mitredaktor der spätere orthodoxe Priester S.N. Bulgakow (1871-1944), als Mitarbeiter die Dichter und Philosophen D. S. Mereschkowski (1865-1941), W.W. Rosanow (1856-1919), Wjatscheslaw Iwanow (1866-1949), A. A. Blok (1880-1921), A. Belyj (1880-1934), S.L. Frank (1877-1950), P.B. Struwe (1870-1944) und viele andere mehr. Die geistige Regsamkeit der russischen Intelligenz dieser Zeit kann man sich nicht lebendig genug vorstellen. Es war »eine Epoche des Erwachens, selbständigen philosophischen Denkens, eine Blüte der Dichtung, eine Steigerung des ästhetischen Empfindens, der religiösen Unruhe und des religiösen Suchens, des Interesses für Mystik und Okkultismus« (Selbsterkennt­nis, 153). Berdjajew empfing hier viele und auch für sein späteres Schaffen wesentliche Anregungen, doch konnte er sich mit dieser idealistischen Kulturre­naissance ebensowenig voll identifizieren wie wenige Jahre zuvor mit dem Marxismus. Die neue geistige Strömung war ihm – bei aller Dynamik und Regsamkeit – zu elitär, in vielem auch zu fremd. Die drängenden Probleme des sozialen und politischen Lebens, für die Berdjajew das Auge nicht verloren hatte, blieben zu sehr am Rande oder ganz ausgeklammert, und dies in der Zeit der Revolution von 1905. Die ethische Frage wurde von Ästhetik und Erotik verdrängt, und außerdem gab es in dieser Kulturrenaissance für Berdjajews Empfinden zu viel Heidnisches und wiederum zuwenig schöpferische Freiheit für die Persönlichkeitsentfaltung.

In seiner Aufsatzsammlung »Sub specie aeternitatis«, die 1907 erschienen war, hatte Berdjajew eine Reihe von kürzeren literarischen Arbeiten aus der idealisti­schen Phase seiner geistigen Entwicklung publiziert. Der letzte dieser Aufsätze »Vom neuen religiösen Bewußtsein« weist bereits auf etwas Neues in seinem Denken, auf eine Wendung zum Christentum hin. Die Enttäuschung von den literarischen Zirkeln Petersburgs und ein immer größer werdender religiöser Ernst bewegten Berdjajew 1907, die russische Hauptstadt zu verlassen und – nach einem kurzen Aufenthalt in Paris – nach Moskau zu übersiedeln, denn hier konnte er die östlich-orthodoxe Welt gründlicher kennenlernen als es im tradi­tionell nach Westeuropa ausgerichteten Petersburg möglich war. So begegnete er »den bedeutendsten orthodoxen Kreisen«, die ihm, der aus einer aufgeklärten, freidenkerischen Familie aus der Hocharistokratie stammte, bisher völlig fremd gewesen waren; er traf auf das »eigentliche Herzstück der russischen Orthodo­xie« (Selbsterkenntnis, 204). Vom großen Ernst, von der Strenge der Askese, von der Tiefe der Spiritualität war er beeindruckt, ebenso von mehreren charismati­schen Persönlichkeiten, denen er begegnete, unter ihnen dem Priester Alexej Metschew. Doch stieß der weltgewandte, hochgebildete und literarisch tätige

Philosoph bald auch auf Grenzen, die ihn zutiefst abstießen: eine geistige Schlichtheit, ja Primitivität, eine ihm unverständliche Feindschaft gegen Kultur und Wissenschaft und gegen die nicht-orthodoxen Philosophien und Religionen. Außerdem machte sich sein »angeborener Antiklerikalismus« (Selbsterkenntnis, 206) bemerkbar. Die historische Gestalt der orthodoxen Kirche, auch das Starzentum, empfand er als eng und sektiererisch, das russisch-orthodoxe Staatskirchentum als leblos und erstarrt. Er griff es kurz vor dem I. Weltkrieg in einem Zeitungsartikel mit dem Titel »… die den Geist auslöschen« mit aller Schärfe an; die Nummer dieser Zeitung wurde sofort konfisziert, der Autor angeklagt, und es hätte ihm eine langjährige Verbannung nach Sibirien gedroht, hätten nicht die Revolutionen von 1917 dem Prozeß ein Ende gesetzt.

Im Jahrzehnt zwischen seiner Wende zum Christentum und den russischen Revolutionen von 1917 schrieb Berdjajew mehrere philosophische Werke. In seinem Buch »Neues religiöses Bewußtsein und Gesellschaftlichkeit« (1907) wurden die Ansätze des letzten Aufsatzes von »Sub specie aeternitatis« weiterge­führt. Angeregt vom russischen Religionsphilosophen Wladimir Solowjew (1853-1900) verband der Verfasser seine Sicht der sozialen Probleme mit dem Gedanken einer freien Theokratie und forderte eine neue schöpferische und religiöse Epoche. Im 1911 publizierten Werk »Philosophie der Freiheit« wandte sich der Autor zunächst erkenntnistheoretischen Fragen zu, darunter dem Verhältnis von Philosophie und Religion, Glauben und Wissen; dann den Fragen nach dem Ursprung des Bösen, der menschlichen Freiheit und dem Sinn der Geschichte; es waren dies alles Themen, die ihn noch jahrzehntelang beschäfti­gen sollten.

Das bekannteste Buch aus dieser Periode ist jedoch das Werk »Der Sinn des Schaffens« (1911). In diesem Buch sah Berdjajew rückwärtsblickend zwar nicht sein vollkommenstes, jedoch sein inspiriertestes Werk. Er habe es nahezu in einem Zustand der Ekstase geschrieben. Es geht ihm in dieser Arbeit um die »Rechtfertigung des Menschen« (so der Untertitel). Gott hat den Menschen zum schöpferischen Handeln, zur schöpferischen Antwort auf seine Liebe berufen. Gott leidet, ja er kann gar nicht leben, wenn der Mensch ihm nicht antwortet. Philosophie ist schöpferisches Tun und nicht Wissenschaft, auch keine passive Spiegelung des Seins und der Welt. Philosophie »muß aktive, schöpferische Überwindung der Wirklichkeit und Umgestaltung der Welt sein« (35), ebenso die Liebe, die Kunst, die Moral, die Gesellschaftspolitik und die Mystik. Während von Gott, dem Vater, das Gesetz geoffenbart und die Sünde aufgezeigt und von Gott, dem Sohn, die Erlösung und das neue Sein gebracht wurde, führt Gott, der Geist, den nach Gottes Ebenbild geschaffenen Menschen dazu, »das Werk der Schöpfung Gottes fortzusetzen« (141), zu bereichern, zu vervollstän­digen. »Der Weltenprozess ist der achte Schöpfungstag, ist fortgesetzte Schöp­fung« (142). Das Schöpferische war in der bisherigen Geschichte nur bei einzelnen Erwählten durchgebrochen; sonst war das Christentum mehr eine Religion des Gehorsams als der Liebe, mehr eine Religion der negativen Tugen­den, wie Verzicht und Enthaltsamkeit, als der positiven Tugenden, wie der Tapferkeit. Doch der Mensch hat die Aufgabe, seine Gottebenbildlichkeit schöpferisch weiter zu gestalten, die Inkarnation Christi fortzusetzen, mit Gott weiter zu schaffen. »Die ganze Würde des Menschen beruht auf seinem Teilha­ben an Gott und am göttlichen Leben« (277).

Berdjajew empfing viele Anregungen zu diesen Gedanken aus der deutschen Mystik, besonders von Angelus Silesius und Jakob Böhme, aber auch von den Kirchenvätern und Theologen der östlichen Tradition, vor allem Gregor von Nyssa und Symeon dem neuen Theologen; sie alle werden reichlich zitiert. Für Berdjajew ist das Werk »Der Sinn des Schaffens« in vielerlei Hinsicht sehr typisch; in ihm fand, seinen eigenen Worten nach, sein originales philosophi­sches Denken zum erstenmal seinen Ausdruck (Selbsterkenntnis, 235).

In der Beurteilung der russischen Revolutionen von 1917 unterschied sich Berdjajew von den meisten seiner Zeitgenossen. Er hatte die revolutionären Ereignisse schon längst als unvermeidlich vorausgesehen, und sie kamen seiner Meinung nach nicht zu früh, sondern eher zu spät. Es war ihm auch von Anfang an klar, daß sie nicht bei der unblutigen Februarrevolution, durch die die Zarenherrschaft beseitigt und eine parlamentarische Demokratie errichtet wurde, stehen bleiben würden; was unblutig begonnen hatte, mußte blutig enden. Sozialistische Gedanken standen Berdjajew noch immer sehr nahe. Allerdings hätte das Wahre an ihnen vom Christentum verwirklicht werden müssen, und nur weil die Christen im Laufe ihrer Geschichte versagten, kam es zu Sieg und Triumph des Bolschewismus im Oktober 1917.

Auf die Oktoberrevolution folgten für Berdjajew äußerst intensive arbeits- und erlebnisreiche Jahre. Er glaubte und hoffte zunächst auf eine freie, schöpferische Entwicklung des Kommunismus, mußte aber sehr bald einsehen, daß dieser unweigerlich zum Tod der Freiheit, zu Diktatur und Despotie führte. 1918 gründete er die »Freie Akademie der geistigen Kultur« in Moskau; 1920 wurde er zum Professor der Universität Moskau ernannt. Durch unendlich viele Vorle­sungen, Vorträge, Diskussionen und Debatten, die sehr stark besucht waren, sogar von Rotarmisten, kämpfte er offen und entschieden für die Freiheit und gegen die stumpfe Geistfeindschaft von Partei und Regierung. Er kämpfte gegen den Bolschewismus, nicht um eine alte Gesellschaftsordnung wiederherzustel­len, sondern aus progressiven Motiven. Dabei war er revolutionärer als viele Bolschewisten. Schließlich wurde er für die neue Regierung untragbar. Sie verwies ihn 1922, zusammen mit anderen unbequemen Intellektuellen, aus dem Land. Für Berdjajew begannen die Jahre der Verbannung im Westen.

Während seines Aufenthaltes in Berlin, das die russischen Emigranten großzügig aufnahm, gründete Berdjajew die »Religionsphilosophische Akademie« und verfaßte mehrere Bücher, durch die er im Westen sehr bald bekannt wurde. In seinem Werk »Der Sinn der Geschichte« und in seiner schmalen Schrift »Das Neue Mittelalter« versuchte er, die Ereignisse seiner Zeit geschichtsphiloso­phisch zu deuten und seine Gegenwart als eine Übergangszeit zu einer neuen Epoche zu bestimmen. Das Zeitalter, das in der Geschichtsschreibung die »Neuzeit« genannt wird, aber bereits »greisenhaft hinfällig« geworden ist, verfällt und sieht dem Ende entgegen, »und eine neue, noch unbekannte Welt ist im Entstehen … Unsere Zeit möchte ich als das Ende der neuen Geschichte und als Beginn eines Neuen Mittelalters bezeichnen« (13). Diese Übergangszeit erinnert nach Berdjajew stark an die Übergangszeit von der Antike zum Mittelal­ter. Die antike Kultur war dabei noch viel größer als die neuzeitliche mit ihrem Rationalismus, Humanismus, Individualismus und Liberalismus, mit ihrer Technik, Seelenlosigkeit und Gottlosigkeit. Die Epoche, die auf die Umwälzun­gen der Gegenwart folgen werde, werde viel mit dem Mittelalter gemeinsam haben, wobei Berdjajew das Klischee vom »finsteren Mittelalter« entschieden zurückweist und das Mittelalter, auch das »Neue Mittelalter«, positiv bewertet als eine Zeit, in der das Irrationale und Überrationale eine große Rolle spielen. Die Kirche werde sich in diesem »Neuen Mittelalter« schöpferisch entfalten und das geistige Zentrum werden, der Kosmos werde verchristlicht werden, und anstelle des abgestorbenen neuzeitlichen Fortschrittsglaubens werde das Leben selbst mit einer entschiedenen Hinwendung zu Gott – oder zum Teufel – treten. – Diese Schrift, die 1924 erschienen war, wurde innerhalb weniger Jahre in 14 Sprachen übersetzt und machte ihren Verfasser zu einer europäischen Berühmt­heit.

Weitere und sehr heftige Reaktionen auf die Oktoberrevolution in Rußland und Reflexionen über den Sinn dieses Geschehens finden sich im Buch »Philosophie der Ungleichheit«, das Berdjajew bereits 1918 in Rußland geschrieben hatte, aber erst 1923 in Berlin publizieren konnte. In 14 fiktiven Briefen an die Feinde der Sozialphilosophie griff er die für die revolutionären Ereignisse verantwortlichen Sozialisten und Anarchisten an, aber auch die seiner Meinung nach dafür mitverantwortlichen Liberalen und Demokraten. Die von ihnen allen erstrebte Gleichheit aller Menschen beurteilte er als etwas sehr Problematisches, da sie dem Schöpfertum widerspreche; vielmehr sei das Prinzip der Ungleichheit für das menschliche Leben, den Staat, die Völkerwelt, die Wirtschaft und die Kultur konstitutiv und notwendig. – Diese sehr kühnen und ungewöhnlichen Thesen widerrief Berdjajew später wieder, da sie doch zu viele Ungerechtigkeiten enthielten und ihrem Verfasser den nicht unberechtigten Vorwurf des Reaktio­nären eingetragen hatten.

Ein für Berdjajews religionsphilosophisches Denken sehr typisches Werk ist das Buch »Die Weltanschauung Dostojewskis«, das aus seinem Moskauer Dosto­jewski-Seminar vom Winter 1920/21 hervorging, aber ebenfalls erst in Berlin 1923 veröffentlicht werden konnte. Mit Dostojewski hatte Berdjajew schon seit seiner Jugend gelebt und stets eine besondere Geistesverwandtschaft mit ihm gefühlt. Er sah in diesem Dichter sowohl den Inbegriff des Russentums als auch den Inbegriff des Christentums. Die Legende vom Großinquisitor im Roman »Die Brüder Karamasow« stellt für Berdjajew den Höhepunkt von Dostojewskis Schaffen dar, denn in ihr wird das Problem der Freiheit des Menschen in unüberbietbarer Klarheit und Schärfe gestellt: »Das Schicksal des Menschen führt ihn unentrinnbar entweder dem Großinquisitor oder Christus zu … Der Mensch wird vor das Dilemma gestellt: Freiheit oder Glück … Freiheit mit Leid oder Glück ohne Freiheit« (169-171). Berdjajew, zu dessen philosophischen Grundanliegen das Problem der Freiheit gehört, war ein entschiedener Kämpfer gegen den »Geist des Großinquisitors«, wo immer er ihn antraf, sei es in einer Kirche oder sei es in einem totalitären Staatswesen.

Nachdem Paris die Rolle Berlins als geistiger Mittelpunkt der russischen Emigra­tion übernommen hatte, zog Berdjajew in die französische Hauptstadt um, führte dort die religionsphilosophische Akademie in erweiterter Form fort und gab während 14 Jahren die Zeitschrift »Putj« (Der Weg) heraus. In dieser Zeit verfaßte er mehrere umfangreiche philosophische Werke und viele kürzere Abhandlungen und Aufsätze. Zu den bekanntesten Büchern dieser Schaffenspe­riode gehört die zweibändige »Philosophie des freien Geistes« (1927). Absicht des Buches ist nach Berdjajews eigenen Worten, die innere Problematik des Christentums aufzuzeigen und es zu verteidigen. Dies geschieht nicht durch Schulphilosophie oder Schul­theologie, sondern durch eine freie religiöse Phi­losophie, durch eine religiöse Gnosis in der Tradition von Klemens von Alexan­dria, Origenes, Gregor von Nyssa, Nikolaus Cusanus, Jakob Böhme, St. Martin, Franz von Baader und Wladimir Solowjew. Unter Freiheit, einem der Zentralbegriffe des Buches und seines Denkens überhaupt, versteht Berdjajew nicht eine »erstarrte, statische Kategorie«, sondern »innere Dynamik des Gei­stes« (145). Freiheit ist für das Christentum konstitutiv. Christus wünscht die freie Liebe des Menschen (so sagt es Dostojew­skis Großinquisitor), und selbst das kirchliche Dogma ist, recht verstanden, nicht etwas Statisches, sondern etwas Dynamisches, Leben und Erfahrung, Weg und Geist (48). Die christlichen Wahrheiten von Schöpfung, Sündenfall und Erlösung, aber auch die Worte Christi sind ohne den Geist der Freiheit überhaupt nicht erfaßbar.

Berdjajew unterscheidet dabei mehrere Ebenen von Freiheit: als erstes eine irrationale, menschliche Freiheit, die der ungeschaffenen, »mäontischen« Frei­heit bei Jakob Böhme entspricht, dem Nichtsein zugehört und für sich allein, ohne die anderen Ebenen von Freiheit, zu Chaos und Anarchie wird. Die zweite Freiheit ist die rationale oder göttliche Freiheit, die Freiheit Gottes oder der Weltvernunft, die ohne die erste Freiheit ebenfalls in ihr Gegenteil verkehrt wird, in das Gute, das nicht freiwillig, sondern erzwungen ist, in eine Tyrannis Gottes. Die eigentliche Freiheit ist die dritte Ebene, die gottmenschliche, in der die ersten beiden Freiheiten vereinigt werden. Der Christus-Gott-Mensch und das Gott­menschentum gehören zu den grundlegenden Begriffen in Berdjajews »Philoso­phie des freien Geistes«, denn sie beinhalten sozusagen das Urphänomen des religiösen Lebens und des Christentums: die Bewegungen von Gott zum Men­schen und vom Menschen zu Gott hin. »Der grundlegende Mythos des Christen­tums ist das Drama von Liebe und Freiheit, das sich zwischen Gott und dem Menschen abgespielt hat, die Geburt Gottes im Menschen und die Geburt des Menschen in Gott. Die Erscheinung Christi, des Gottmenschen, ist eben die vollkommene Vereinigung zweier Bewegungen, von Gott zum Menschen und vom Menschen zu Gott, die endgültige Geburt Gottes im Menschen und des Menschen in Gott, die Verwirklichung des Mysteriums der Zweieinigkeit, des Mysteriums der Gottmenschlichkeit« (223).

Berdjajew greift die Trinitäts- und die Zweinaturenlehre aus der alten Kirche auf, wirft den Kirchenvätern aber vor, sie hätten die christliche Wahrheit nur einseitig und nicht vollständig erschlossen, vor allem hinsichtlich der menschlichen Natur nicht. Der Synergismus von Gott und Mensch ist Berdjajew besonders wichtig: göttliche Gnade und menschliche Freiheit sollen Zusammenwirken; der Mensch ist Teilhaber am göttlichen Werk. Der Mensch soll in seinem Leben nicht nur Gott um seine Hilfe bitten, sondern Gott auch bei der Verwirklichung der Schöpfung, die noch unvollendet ist, behilflich sein. »Gott hilft dem Menschen, aber auch der Mensch soll Gott helfen« (246). In diesem Prozess kommt der Kirche eine wichtige Aufgabe zu, denn sie verkörpert das Gottmenschentum; sie ist der Ort der wahren Freiheit.

Das übrige reichhaltige und vielseitige religionsphilosophische Schrifttum Berd­jajews der letzten drei Jahrzehnte seines Lebens kann nur noch ganz knapp charakterisiert werden. Das Buch »Das Ich und die Welt der Objekte« (1934) legt ein beredtes Zeugnis der Begegnung seines Autors mit dem westeuropäischen Existentialismus (Kierkegaard, Heidegger, Jaspers, u. a.) ab. Auch hier verwirft er eine »Philosophie des Allgemeinen und Objektivierten« und vertritt eine »Philosophie des Schicksals«, des »Innerlich-Individuellen« und des »Konkret- Universalen« (79). In »Geist und Wirklichkeit« (1937) entwirft Berdjajew auf derselben Linie eine Philosophie des Geistes und eine Theologie des heiligen Geistes, wobei er den Geist als »Freiheit, Sinn, schöpferische Aktivität, Ganzheit und Liebe« bezeichnet und von den Bestimmungen durch Natur und Gesell­schaft abhebt.

Ethische Fragen beschäftigten Berdjajew in seiner Pariser Zeit wieder besonders stark, wie auch das Werk »Von der Bestimmung des Menschen« (1931) zeigt, in dem er eine Ethik des Gesetzes, eine Ethik der Erlösung und eine Ethik des Schaffens unterscheidet. Die Ethik der Erlösung hat in Jesus Christus und seinem Gebot der Nächstenliebe ihren Ursprung, aber erst die Ethik des Schaffens bringt die schöpferische Verwirklichung des Guten. Berdjajews Denken gewinnt eine eschatologische Ausrichtung, die in seinem Spätwerk »Versuch einer escha- tologischen Metaphysik« (1946) noch grundsätzlicher reflektiert wird.

Geschichtsphilosophische Fragen spielen weiterhin eine große Rolle in Berdja­jews Schriften. Seine tiefgreifende Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Kommunismus ist hierbei besonders bekannt geworden; der Kommunismus enthält seiner Meinung nach sehr wichtige Wahrheitsmomente, weil er Postulate im wirtschaftlichen und sozialen Bereich verwirklichen will, die genuin christlich sind. Nur ist die dahinter steckende Ideologie grundfalsch, weil sie den Geist leugnet, Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit erzeugt und damit die Teilwahr­heiten wieder aufhebt (»Wahrheit und Lüge des Kommunismus«, 1931). Berdja­jew hofft auf eine christliche Renaissance in Rußland, die den Kommunismus überwindet (»Sinn und Schicksal des russischen Kommunismus«, 1937) und der Welt die wahre Freiheit des Geistes vermittelt (»Die russische Idee«, 1946). Er ist nicht müde geworden, die zeitlose Größe des Christentums, eines prophetischen Christentums, herauszuarbeiten und zu verteidigen und sie den konkret vorfindlichen Formen christlichen und kirchlichen Lebens entgegenzustellen (»Von der Würde des Christentums und von der Unwürde der Christen«, 1926).

Schon zu seinen Lebzeiten, aber mehr noch nach seinem Tode (1948) wurde Berdjajews religionsphilosophisches Schrifttum von einer breiteren Leserschaft zur Kenntnis genommen und geschätzt. Seine sehr anregende, aber eben auch intuitive, unsystematische und aphoristische Denkweise brachte es allerdings mit sich, »daß die Faszination immer sehr viel größer war als sein Einfluß«, daß er zwar viele Verehrer, aber kaum bedeutende Schüler hatte (Stepun, 108); und weil er sich gegen alle Methoden der Schulphilosophie und Schultheologie gestellt, aber auch keine eigene Schule begründet hatte, gab man ihm gerne die etwas allgemeine Bezeichnung »Denker«. Für die orthodoxe Theologie und Kirche kann Berdjajews Religionsphilosophie nicht als typisch angesehen werden, wie man im Westen schon geglaubt hat; für sie ist Berdjajew allenfalls ein »gläubiger Freidenker« (Archimandrit Kiprian).

Während in den 1920er Jahren seine geschichtsphilosophischen Schriften großes Aufsehen erregten und in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre seine Theosophie und Gnosis auf starke Beachtung stieß, las man ihn in den 1950er Jahren vor allem als christlichen oder christlich-sozialen Existentialisten. Aus dem Nachlaß herausgegebene Schriften, vor allem sein »Versuch einer philosophischen Auto­biographie« mit dem Titel »Selbsterkenntnis« (1949) und das Buch »Wahrheit und Offenbarung« (1954) bereicherten dabei die Kenntnisse von Berdjajews Person und Werk sehr stark. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurden mehrere Gesamtinterpretationen und zahlreiche Einzeluntersuchungen zu Berd­jajews Werk geschrieben; es sind aber auch weitere Originalschriften bekannt geworden. Die 1978 erschienene Bibliographie von Tamara Klépinine enthält nicht weniger als 483 Titel, von denen viele noch wenig bekannt und nur schwer zugänglich sind.

Eine Gesamtausgabe der Werke Berdjajews gibt es nicht. Obschon viele Bücher und Artikel ins Deutsche übersetzt wurden, sind zur Zeit (Sommer 1984) im deutschsprachigen Buchhandel leider nur sehr wenige Titel, meist kleinere Arbeiten, erhältlich. Demgegenüber ist das Interesse an Berdjajew in den Kreisen der religiösen Renaissance in der Sowjetunion sehr groß; Berdjajew wird öfter im gleichen Atemzug mit Dostojewski, Tolstoi und Solowjew genannt und intensiv studiert. Es ist dies ein Zeichen dafür, daß von diesem eigenwilligen christlichen Religionsphilosophen auch heute wesentliche Impulse ausgehen können.

Werke (Auswahl)

Bibliographie
T. Klépinine: Bibliographie des oeuvres de Nicolas Berdiaeff. Paris 1978.

Smysl tvorčestva. Opyt opravdanija čeloveka. Moskva 1916. (Deutsch: Der Sinn des Schaffens. Versuch einer Rechtfertigung des Menschen. Tübingen 1927).

Mirosozercanie Dostoevskogo. Praga 1923. (Deutsch: Die Weltanschauung Dostojewskis. München 1925).

Smysl istorii. Opyt filosofii čelovečeskoj sud’by. Berlin 1923. (Deutsch: Der Sinn der Geschichte. Versuch einer Philosophie des Menschengeschickes. Darmstadt 1925).

Novoe srednevekov’e. Razmyslenie o sud’be Rossii i Evropy. Berlin 1924. (Deutsch: Das neue Mittelalter. Betrachtungen über das Schicksal Russlands und Europas. Darmstadt 1927).

Filosofija svobodnogo ducha. Problematika i apologija christianstva, 2 t., Paris 1927/28. (Deutsch: Die Philosophie des freien Geistes. Problematik und Apologie des Christentums. Tübingen 1930).

O naznacenii čeloveka. Opyt paradoksal’noj étiki. Paris 1931. (Deutsch: Von der Bestimmung des Menschen. Versuch einer paradoxalen Ethik. Bern 1935).

Ja i mir ob’ektov. Opyt filosofii odinocestva i obščenija. Paris 1934. (Deutsch: Das Ich und die Welt der Objekte. Darmstadt 1951).

Duch i real’nost’. Osnovy bogočelovečeskoj duchovnosti. Paris o.J. (1937). (Deutsch: Geist und Wirklichkeit. Lüneburg 1949).

Russkaja ideja. Osnovye problemy russkoj mysli XIX veka i načala XX veka. Paris 1946. (Englisch: The Russian Idea. London 1947).

Samopoznanie. Opyt filosofskoj avtobiografii. Paris 1949. (Deutsch: Selbsterkenntnis. Versuch einer philosophischen Autobiographie. Darmstadt 1953).

Darstellungen

Dietrich, W.: Provokation der Person. Nikolaj Berdjajew in den Impulsen seines Denkens. Bde. 1-3,5, Gelnhausen – Berlin 1975-1979.

Dietrich, W.: Berdjajew, Nikolai Alexandrowitsch (1874-1948). In: TRE 5, 595-598.

Murdoch, P. C.: Der Sakramentalphilosophische Aspekt im Denken Nikolaj Aleksandrovitsch Berdjaevs. Erlangen 1981.

Poltoratzky, N. P.: Berdjaev i Rossija. New York 1967.

Poltoratzky, N. P. (Hsg.): Russkaja religiozno-filosofskaja mysl’ XX veka. Pittsburg 1975.

Porret, E.: Nikolaj Berdjajew und die christliche Philosophie in Russland. Heidelberg 1950.

Rössler, R.: Das Weltbild Nikolaj Berdjajews. Existenz und Objektivation. Göttingen 1956.

Stepun, F.: Mystische Weltschau. Fünf Gestalten des russischen Symbolismus: Solowjew, Berdjajew, Iwanow, Belyj, Blok. München 1964.

Quelle: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte, Bd. 10,1: Die neueste Zeit III, Stuttgart: Kohlhammer, 21994, S. 247-256.

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