Von Karl Barth
Wer sich in der Bibel ein wenig auskennt, dem mag bei dieser Frage: Was ist der Mensch? ein Wort aus einem der Psalmen einfallen: «Was ist der Mensch, daß du (gemeint ist: Gott) seiner gedenkst?» Ein maßloses Erstaunen spricht aus diesem Wort: Was mag es mit dem Menschen auf sich haben, daß Gott etwas an ihm findet, sich für ihn interessiert, sich gerade mit ihm abgeben mag? Wo doch das Weltall so groß, die Erde aber und auf der Erde der Mensch so klein ist! Wo es doch neben und über und unter ihm so manches viel eindrucksvollere Wesen gibt! Wo der Mensch es übrigens durch sein Verhalten offenkundig von ferne nicht verdient, daß Gott gerade seiner gedenke! Welche von den Taten und Leistungen des Menschen sprächen denn dafür, daß der Mensch seinerseits Gottes gedächte? Spricht nicht ungefähr alles, was wir von ihm wissen, dafür, daß ihm nichts selbstverständlicher ist, als gerade Gott zu vergessen und mit Gott dann gleich auch noch viel anderes, was er eigentlich durchaus nicht vergessen, dessen er ernstlich gedenken sollte? Es wäre begreiflich, wenn Gott des Menschen nicht — oder eben nur zornig oder, was noch schlimmer wäre, nur gleichgültig und verächtlich — gedenken würde. Es ist höchst unbegreiflich, daß dem nicht so ist: Gott gedenkt des Menschen.
Und nun ist merkwürdigerweise gerade das das einzig ganz Klare und Gewisse, was man auf jene Frage antworten kann: das macht den Menschen zum Menschen, das bestimmt und charakterisiert sein Wesen und sein Dasein, daß Gott unverdienterweise gerade seiner gedenkt, gerade ihm zugewendet ist, gerade an ihm höchsten unmittelbaren Anteil nimmt. Er tut es unabhängig davon, wie der Mensch sich dazu stelle: ohne Rücksicht auf des Menschen Größe oder Kleinheit, Schönheit oder Häßlichkeit, ohne durch die Würdigkeit seines Verhaltens, seines Glaubens etwa, dazu angeregt oder durch seine Unwürdigkeit, durch des Menschen Unglauben etwa, davon abgeschreckt zu sein. Er gedenkt seiner, und daß er das in vollkommener Freiheit tut, das ist es, was den Menschen zum Menschen macht.
Der Mensch trägt daneben auch allerlei Kleider: Unterwäsche, ein Arbeitskleid, ein Sonntagskleid und wohl auch ein Narrenkleid — seltsamerweise alle zugleich und übereinander! Keines dieser Kleider ist der Mensch selber.
Ein solches Kleid ist z. B. jedes von den mythologischen Bildern, in denen man den Menschen anschauen mag, aber auch jedes von den wissenschaftlichen (biologischen, soziologischen, psychologischen) Bildern, in denen man ihn im allgemeinen und dann auch im einzelnen begreifen muß. Man tue es, nur meine man nicht, das sei der Mensch, was man da zu sehen bekommt.
Ein solches Kleid ist auch das, was der Mensch in Kraft oder Schwachheit, Licht oder Dunkel um sich verbreitend, zu seinem eigenen Heil oder Unheil, aus sich selber zu machen weiß. Er tue, was er kann und darf, und bezahle, was ihn das Unternehmen auf alle Fälle kosten wird! Das ist aber auf keinen Fall der Mensch, was dabei herauskommt.
Ein solches Kleid ist auch das gute oder weniger gute Ansehen, in welchem er bei seinen Mitmenschen steht, das gerechte oder ungerechte Urteil, mit dem sie ihn einschätzen, ihn für bedeutend oder unbedeutend, recht oder schlecht halten — die Rolle, die sie ihn in ihrem Leben, vielleicht sogar in der Weltgeschichte spielen lassen. Das alles ist nicht der Mensch.
Und so ist doch auch das, wofür der Mensch sich selbst hält — wie erschrocken oder unerschrocken, wie demütig oder hochmütig er sich selbst sehe und verstehe — nur ein solches Kleid, nicht der Mensch selber. Niemand, keiner kennt sich selber. Der Mensch sieht auch im gründlichsten Selbstverständnis, was vor Augen, nicht, was er in Wahrheit ist.
Man hat zu allen Zeiten nicht mit Unrecht viel von der Verborgenheit Gottes geredet. Nur daß man dabei oft genug übersehen hat. daß es eine nicht minder große Verborgenheit des Menschen gibt, und wie eine theoretische und praktische Leugnung des wahren Gottes, so auch — und, wenn nicht alles täuscht, immer mit dieser zusammen — eine theoretische und praktische Verleugnung des wahren Menschen.
Was ist der Mensch? Er ist der, der in seiner Verborgenheit ebenso wenig ernstlich und wirklich geleugnet werden kann wie der wahre Gott in seiner Verborgenheit. Und er ist darin wahrer Mensch, daß der wahre Gott seiner gedenkt, und zwar tätig und wirksam gedenkt: trotz der Pracht und Schande seiner vielen Kleider, aber auch in der ganzen Pracht und Schande, die sein Teil ist. Er ist darin wahrer Mensch, daß der wahre Gott sein Gott ist: der Gott, der es auf ihn abgesehen hat, der für ihn Gott ist, der tatsächlich gerade ihn geliebt hat, liebt und lieben wird. Er ist es darin, daß bei dem wahren Gott sein neues, alle anderen bedeckendes, aber auch durchstrahlendes und umstrahlendes Kleid schon bereit ist und auf ihn wartet. Er ist es darin, daß Gott ihn dazu bestimmt und geschaffen hat und noch und noch erhält, dieses neue Kleid zu tragen, und daß er ihn durch alle seine alten Kleider hindurch jetzt schon als Träger dieses neuen Kleides sieht und kennt.
Das ist der Mensch. Den Lesern soll jetzt auch das vor Augen stehen, was im Glaubensbekenntnis der christlichen Kirche am Anfang von Gott dem Vater und Schöpfer, am Ende vom Heiligen Geist, in seiner Mitte aber und entscheidend von Jesus Christus, Gottes einzigem Sohn, unserem Herrn, gesagt ist. Siehe, das ist unser Gott! (Jes. 25, 9). Siehe da der Mensch! (Joh. 19, 5).
Quelle: Zwingli-Kalender 1961, hrsg. von einem Kreis zürcherischer Pfarrer, Basel: Friedrich Reinhardt, S. 34f.