Wie praktisch ist die Praktische Theologie?
Von Joachim Matthes (1.6.1930 – 3.5.2009)
So habe ich mich schon des öfteren gefragt, – zumeist eher beiläufig und gelegentlich verwundert. In langjähriger Mitarbeit in der Vikarsausbildung ist mir immer wieder aufgefallen, wie unzureichend die jungen Theologen auf die Praxis ihrer künftigen Tätigkeit in Gemeinden vorbereitet sind, wenn sie das Universitätsstudium abschließen, – sei es, daß sie während ihres Studiums der Praktischen Theologie zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet haben oder widmen konnten, – sei es, daß die Praktische Theologie ihnen auch dann wenig Rüstzeug zu vermitteln verstand, wenn sie sich ihr ausgiebiger gewidmet hatten. In der Vikarsausbildung ergibt sich dann – zumindest für den an ihr beteiligten Nichttheologen – die eher verwirrende und mühsame Aufgabe, Praxisorientierung nicht nur überhaupt einzuführen, sondern sie auch womöglich erst gegen ein akademisch verbildetes Praxisverständnis als Notwendigkeit und Erfordernis durchsetzen zu müssen. In der Begegnung mit akademischen Vertretern des theologischen Faches Praktische Theologie wiederum sind mir beide eben genannten Umstände hin und wieder einsichtiger und verständlicher geworden; doch die Erkenntnis, daß die Vertreter dieses Faches in der akademischen Ausbildung von jungen Theologen eine eher marginale Rolle zu spielen und zudem, aus der Perspektive des interessierten Sozialwissenschaftlers, eher ,un-praktisch‘ zu sein scheinen im Traktieren dessen, was ihnen als Aufgabe zugeschrieben wird, läßt neben dem ,Aha‘-Ef- fekt im Blick auf die in der Vikarsausbildung zutagetretenden Mängel in der akademischen Praxisvorbereitung künftiger Pfarrer ja die hier formulierte Titelfrage nur umso eindringlicher sich stellen. Die Anfrage, zu diesem Jubiläumsheft der THEOLOGIA PRACTICA einen Beitrag zu schreiben, gibt mir nun Gelegenheit, einige Überlegungen zu dieser Frage zur Diskussion zu stellen.
Innerhalb des Gefüges der theologischen Wissenschaft ist unmittelbar einsichtig, worauf die Praktische Theologie als einer ihrer Hauptzweige angelegt ist: sie soll sich befassen mit den Regeln, die das Handeln der Kirche in der Welt anzuleiten haben auf der Grundlage ihrer Ziele und Aufgaben, wie sie in der theologischen Reflexion insgesamt ständig bedacht und geklärt werden vor dem Hintergrund des ihr letztlich nicht verfügbaren Auftrags der Kirche in dieser Welt. Von außen betrachtet, knüpfen sich nun freilich an eine solche Bestimmung, die den Handlungsbezug und damit das Moment des Praktischen an der Praktischen Theologie einleuchtend festlegt, sofort einige folgenreiche Fragen. Zunächst: Im Geschäft der akademischen Forschung und Lehre, an das eine solche Bestimmung und ihre Realisierungen ja erst einmal gebunden bleiben, kann sie ihrerseits kaum eine andere als eine theoretische Bestimmung sein, oder genauer: eine begründete Handlungsanleitung innerhalb einer Praxis, die ihrerseits Theoriebildung zum Inhalt und Gegenstand hat, – ein in der akademischen Praxis der theoretischen Reflexion angelegter Verweis auf außerakademische Praxis, der seinerseits nur im Medium der theoretischen Reflexion auf diese außer-akademische Praxis ausgearbeitet werden kann. Dieses Problem teilt die akademische Theologie im Grunde mit allen anderen akademischen Disziplinen; es ist unausweichlich mit der arbeitsteiligen Ausdifferenzierung akademischer Forschung und Lehre zu einer Wirklichkeitssphäre und Lebenswelt eigener Art verbunden und erzeugt eine Fülle von Folgeproblemen für die akademische Praxis, die in den verschiedenen etablierten akademischen Disziplinen unterschiedliche Ausprägung und unterschiedliches Gewicht annehmen. Die Wahrnehmung und Bearbeitung dieses Grundproblems wie seiner Folgeprobleme wird nicht zuletzt dadurch immer wieder behindert, daß wir uns daran gewöhnt haben, sie nicht aus der Differenz von akademischer und außerakademischer Praxis heraus zu definieren, sondern als ‚Theorie-Praxis-Problem‘schlechthin. Insoweit sich dieser Problemzusammenhang nun auch der Praktischen Theologie stellt, ist er weit mehr als nur ihr Problem und kann wohl auch von ihr allein nicht angemessen gelöst werden. Wohl aber könnte er weit mehr als üblich (sofern überhaupt üblich) in seiner spezifischen Ausprägung und seinem spezifischen Gewicht für die Theologie bewußt gehalten werden.
Sodann: es fällt in der Außenbetrachtung auf, daß die Bestimmung des ‚Praktischen‘ an der Praktischen Theologie angelegt ist auf die geregelten Tätigkeiten jener (außerakademischen) Organisation, als die die Kirche in solcher Außenbetrachtung erst einmal erscheint. Praxis wird verstanden als das Handlungssystem einer etablierten Einrichtung, – als der Vollzug von einer Einrichtung inhärenten Aufgaben in methodisch geregelter Weise. Eine solche ‚einrichtungszentrierte‘ Bestimmung rückt nun aber an den Rand der Aufmerksamkeit, daß die tagtägliche ‚Praxis‘ des sein Amt in der Gemeinde ausübenden Pfarrers in solchem Vollzug keineswegs aufgeht. Vielmehr ist diese tagtägliche pfarramtliche Praxis ständig konfrontiert mit einer Fülle von Aufgaben, die nicht Vollzug institutionell gesetzter Ziele und Zwecke, sondern Herausforderung durch außer-institutionelle (im Sinne von außerkirchlichen) Erwartungen und Ereignissen darstellen. Diese Doppelstruktur pfarramtlicher Praxis wird, so scheint mir, in der akademisch betriebenen Praktischen Theologie nicht angemessen wahrgenommen und mitgeteilt, – ja, so ist man manchmal versucht zu denken, gleichsam systematisch ausgeblendet und ignoriert. Es fehlt der Praktischen Theologie die zureichende Antizipation der Praxis pfarramtlichen Handelns, und es fehlt ihr schließlich, im Gefolge dessen, das Sensorium und Instrumentarium dafür, in der Antizipation der Praxis pfarramtlichen Handelns ein Verständnis und die Fähigkeit dafür auszubilden, jene Vielfalt von ‚Praxen‘ in ihren Grundzügen wahrzunehmen und zu rekonstruieren, aus der jene Ereignisse und Erwartungen stammen, von denen eben als der anderen Seite der Doppelstruktur pfarramtlichen Handelns über den Vollzug kirchlich vordefinierter Aufgaben hinaus die Rede war. Um diesen Gedanken nun zuzuspitzen: die Praktische Theologie ist praktisch im Hinblick auf ihre theoretisch gefaßte Bestimmung innerhalb der akademischen Praxis von Theologie; sie ist un-praktisch in der asymmetrischen Antizipation pfarramtlicher Praxis als bloßem Vollzug kirchlich vordefinierten Handelns; sie ist a-praktisch in ihrer Ausblendung der gegenüber der Kirche erwartungsgeladenen außer-kirchlichen Lebenswelten, – im Versäumnis, den Blick für sie und die Fähigkeit einer angemessenen Rekonstruktion dieser Lebenswelten im pfarramtlichen Handlungsrahmen auszubilden.
Bleiben wir zunächst bei dem, was eben das ‚Un-Praktische‘ an der Praktischen Theologie genannt wurde! Es liegt im Kern darin, daß in der Forschung, vor allem aber in der Lehre alle Aufmerksamkeit und Energie konzentriert wird auf eine angemessene Übersetzung theologischer Reflexion in das Regelsystem pfarramtlichen Handelns als Vollzug der inhärenten Aufgaben der Organisation Kirche. Es wird gelehrt und gelernt, wie angemessen (‚richtig‘) getauft, konfirmiert, getraut, bestattet, gepredigt, gelehrt, Seelsorge betrieben, das Pfarramt verwaltet wird. Das Maß solcher Angemessenheit bietet die theologische Reflexion selber, wie sie als akademische Praxis betrieben und in die Zielsetzungs- und Legitimationsstruktur der Organisation Kirche investiert wird. Weit in den Hintergrund tritt jedoch die andere Seite des tagtäglichen pfarramtlichen Handelns: der Umgang mit den sozialstrukturellen Besonderheiten der jeweiligen Pfarrgemeinde, der Umgang mit den Erwartungshorizonten der Menschen, mit denen man es in ihr zu tun hat. Das damit gesetzte Maß der Angemessenheit pfarramtlichen Handelns bleibt weithin unbeachtet und ungeklärt, und so wächst der ‚un-praktische‘ Pfarrer heran, der später ratlos und hilflos vor der Komplexität dieser Seite seiner Tätigkeit steht, – aus solcher Rat- und Hilflosigkeit in der Regel – und verständlicherweise – mit Rückzug auf das ihm zu Gebote stehende kirchlich bestimmte Maß für die Angemessenheit seines Handelns reagiert, – und damit verstärkt, was er beklagt und aufheben möchte: die Kluft zwischen seinen Handlungserwartungen und denen derer, an die ersieh wendet. Dieser verhängnisvolle Mechanismus (man verzeihe das häßliche Wort: doch hier liegt etwas vor, für das es treffend steht), über den das kirchlich zentrierte pfarramtliche Handeln den Bestand des volkskirchlichen Systems ständig selber gefährdet, mag nun nicht einfach auf ein Versagen nur der Praktischen Theologie zurückzuführen sein; sie aber wäre (neben der Vikarsausbildung) eine, wenn nicht die zentrale Instanz, über die dieser Mechanismus unter Kontrolle gebracht, möglicherweise korrigiert, ja: überhaupt erst einmal erkennbar gemacht werden könnte, – und das wäre schon viel. Nun ist nicht zu verkennen, daß es immer wieder vielfältige Bemühungen in der Praktischen Theologie gegeben hat und gibt, solches auch zu tun. Doch setzen solche Versuche, in der Außenbetrachtung, in aller Regel eine Stufe zu tief an: sie behandeln, getreu der Bestimmung der Praktischen Theologie als Methodenlehre, als ein methodisches Problem, was eigentlich ein konzeptuelles ist, und zwar ein durchgreifendes. Denn die Doppelstruktur pfarramtlichen Handelns ins rechte Licht zu rücken, ihrer Kirchenzentriertheit zu wehren und den Erwartungshorizont der Adressaten kirchlichen Handelns ins Gleichgewicht zur Kirchenorientiertheit zu rücken, – das erfordert mehr, ja: anderes als die Adaptation von Techniken des Umgangs mit Menschen, wie sie von manchen ‚angewandten‘ Humanwissenschaften entlehnbar sind. Zudem handelt sich die Praktische Theologie, wenn sie sich auf solche methodisierend angelegte Strategien einläßt, unversehens ihr eigenes Problem gleich noch einmal ein, – denn auch die ‚angewandten‘ Humanwissenschaften haben sich ja je für sich mit jenem (eigentlich unzutreffend so bezeichneten) ‚Theorie-Praxis-Problem‘ herumzuschlagen, das für die Theologie in seiner Aporetik bereits beschrieben wurde, und es kann leider nicht davon ausgegangen werden, daß die Humanwissenschaften bei der Bestimmung und Bearbeitung dieses Problems per se erfolgreicher wären als die Theologie. Wenn nun in der Praktischen Theologie im Hinblick auf den außer-kirchlichen (schon eine verräterische Kennzeichnung!) Erwartungshorizont des pfarramtlichen Handelns derart methodisierend angesetzt wird, geschieht nichts anderes, als daß seine bestehende Kirchenzentriertheit unter der Hand bekräftigt und mit einem zusätzlichen Schein praktischer Angemessenheit umgeben wird. Eine wirklichkeitsgerechte Antizipation der Doppelstruktur des pfarramtlichen Handelns in der Praktischen Theologie wird durch diesen Schein eher noch erschwert, und der von einer so dennoch ‚un-praktisch‘ bleibenden Praktischen Theologie geprägte Pfarrer droht einer zweiten Selbsttäuschung zu verfallen: der Selbsttäuschung durch die scheinbare Modernisierung seiner Handlungsformen.
Damit sind wir nun eigentlich beim Kern dessen, worum es geht: ‚praktisch‘ kann die Praktische Theologie erst dann richtig werden, wenn sie nicht nur die Kirchenzentriertheit ihrer Lehre vom pfarramtlichen Handeln korrigiert und so eine angemessene Antizipation dieses Handelns in der akademischen Ausbildung ermöglicht, sondern auch und gerade diese Korrektur vollzieht als und durch eine Hinwendung zur Rekonstruktion der vernachlässigten Seite der Doppelstruktur des pfarramtlichen Handelns aus sich selbst heraus. Erst wenn es der Praktischen Theologie gelingt, sich selber den Blick zu öffnen für die inhärenten Bestimmungen jener Lebenswelten, an die sich das pfarramtliche Handeln richtet, wird sie auch das abstreifen können, was als das Moment des ‚A-Praktischen‘ an ihr beschrieben wurde. Dazu freilich wird es einer allgemeinen theologischen Vorgabe bedürfen. Die Theologen werden sich wieder – und neu – mit dem Gedanken vertraut machen müssen, daß es nicht nur eine kirchliche, sondern auch eine gesellschaftliche Wirklichkeit von christlicher Religion (oder, wer das Wort ‚Religion‘ in diesem Zusammenhang nicht mag: von Christentum) gibt, – ein Gedanke, der Theologen früherer Zeiten keineswegs fremd war, eine Zeitlang eher bei den aufkommenden Sozialwissenschaften ernst genommen wurde und neuerlich auch diesen weithin abhanden gekommen ist; die Säkularisierungsidee in ihrer einfachsten denkbaren Form hat mittlerweile die gefressen, die sie hervorgebracht haben. Diese andere Wirklichkeit christlicher Religion als solche wahrzunehmen, haben sich die Theologen (und in ihrem Gefolge manche prominente Religions- und Kirchensoziologen und -psychologen) dadurch unmöglich gemacht, daß sie sie aufzuspüren versucht haben nach den Indikatoren, die ihnen die kirchliche Wirklichkeit christlicher Religion an die Hand gab. Daß diese Suche dann weithin vergeblich blieb, sagt nichts, aber auch gar nichts über die Existenz, geschweige denn über die Formen dieser anderen Wirklichkeit christlicher Religion aus. Sie wird erst dann sichtbar, wenn man sich darauf einstellt, daß sie sich nach anderen Regeln herstellt und versteht als denen, die dem kirchenzentrierten Denken und Handeln zu Gebote stehen; die vermeintliche ‚Wirklichkeit‘ der Säkularisierung als Entchristlichung ist weithin ein methodisch erzeugtes ‚Phänomen‘. Man könnte die Problemlage, um die es geht, auch anders zu beschreiben versuchen: es gibt eine tief in die kulturelle Infrastruktur des gesellschaftlichen Lebens investierte Wirklichkeit christlicher Religion, die anders ist als die kirchlich organisierte und organisierbare Wirklichkeit christlicher Religion – und dieser prinzipiell fremd. Umgekehrt aber ist letztere der ersteren durchaus bekannt, aufdringlich bekannt sozusagen, und zwar gerade mit der ihr innewohnenden Blindheit gegenüber der ersteren. Die Aufarbeitung dieser eigentümlichen Fremdheitsrelation zwischen den Wirklichkeiten christlicher Religion hat ihr Defizit eindeutig auf Seiten der kirchlich verfaßten und ihrer Theologie; die andere Seite vollzieht diese Aufarbeitung schon immer mit großer Mühsal und Geduld und nach ihren Kräften, indem sie ‚bei der Stange‘ ihrer Kirche bleibt, an der sie doch immer nur den arroganten Gestus dessen erfährt, der seine Blindheit gegenüber dem anderen für höhere Sehkraft hält. Die Praktische Theologie hätte sich in dieser Lage dem schwierigen Habitus des Kulturanthropologen zu stellen: die so gar nicht den Erwartungen der Kirchlichkeit entsprechende breite volkskirchliche Wirklichkeit nicht als defizitär, sondern als different wahrzunehmen, – als eine christliche Wirklichkeit eigener Art, deren Fremdheit es nicht zu beurteilen, sondern vorab zu erkunden und auszumachen gilt. Neuere Forschungen bieten dafür mancherlei Anhaltspunkte, wenn man sie nur richtig liest, – etwa die beiden sogenannten ‚Mitgliedschaftsstudien‘ der EKD von 1972 und 1982, aus deren Materialien sich z.B. die Differenz von ‚Gottesdienstzentriertheit‘ pfarramtlichen Handelns und ‚Amtshandlungszentriertheit‘ volkskirchlicher Erwartung als ein Tatbestand herauspräparieren läßt, der gründlicher systematisch-theologischer wie praktisch-theologischer Reflexion noch harrt. Könnte man sich nicht eine Praktische Theologie denken, die diese Differenz zum Anlaß einer sorgfältigen Rekonstruktion der Bezugsrahmen nähme, die sich in diesen beiden Zentriertheiten ausdrücken, um daraus dann Folgerungen für eine Korrektur pfarramtlichen Handelns zu ziehen, durch die die ‚Praxis‘ der anderen Seite auch wirklich getroffen wird? Denn deren eigentümliche Zentriertheit ist ja nicht einfach Ausdruck von Bequemlichkeit, Distanziertheit oder gar Verweigerung, (– eher schon von Verlegenheit gegenüber einer nur schwer nachvollziehbaren Form professionalistischer Erwartungen an ‚rechte‘ Kirchlichkeit). Vielmehr ist sie tief eingelassen in ein Welt- und Selbstverständnis, das seinerseits Produkt der Christentumsgeschichte ist, und das in konkreten Lebenszügen festhält, was christliche Orientierung außerhalb ihrer kirchlichen Manifestation besagt.
Aus einer Gruppendiskussion mit Jugendlichen, die in ganz anderem thematischen Zusammenhang durchgeführt wurde, klingt mir noch die spontane Äußerung eines vor zwei Jahren konfirmierten Jungen im Ohr, er könne mit all dem ‚Scheiß‘, den er da im Konfirmandenunterricht lernen mußte, wenig anfangen, aber wenn es ihm mal richtig dreckig gehe, – ja, dann bete er. Ist es dem akademisch-theologischen Denken, der Wahrnehmung des pfarramtlichen Handelns, vorab: dem praktisch-theologischen Denken wirklich nicht möglich, eine solche Äußerung, stellvertretend für zahllose andere, anders zu hören denn als Beleg für eine fehlgeschlagene religiöse Sozialisation oder als Beleg für eine defizitär bleibende kirchliche Einstellung, womöglich gar als ein ‚magisches‘ Relikt? Kann sie nicht gehört werden als (tatsächlich!) Bekundung eines vom Sprecher selbst wahrgenommenen Defizits gegenüber kirchlicher Erwartung, der aber noch in der Bekundung des Defizitären zugleich ein Bekenntnis zu einer christlichen Dimension des eigenen Lebens innewohnt, die sich in dessen Bezügen sehr wohl zu äußern vermag, aber scheitert an den Maßen, die durch kirchliche Praxis und ihre Wirkung dafür außerhalb dieser Lebensbezüge gesetzt sind? Und müßte nicht, gelänge eine solche Wahrnehmung, die Rückfrage an die Praktische Theologie sich stellen, ob und wie sie in ihrer gegenwärtigen Verfassung solcher ‚Praxis‘ christlicher Orientierung, ihren Implizitheiten und ihren Schwierigkeiten mit ihrer Explikation gerecht wird? Das hier gewählte Beispiel mag banal erscheinen im Verhältnis zu den daran aufgeworfenen Fragen, – doch schon solche Charakterisierung steht wiederum als Beleg für deren Berechtigung.
Es ist Beunruhigung über die vielfältige Realität gesellschaftlich verteilter Christlichkeit, an der das kirchenzentrierte pfarramtliche Handeln, ‚praktisch‘-theologisch angeleitet, ständig und systematisch vorbeigeht, das zu solchen Fragen zwingt: denn es ist ja gar nicht ausgemacht, daß diese Realität in sich bestehen kann, wenn sie auf Dauer einer Herausforderung durch kirchlich manifestierte Christlichkeit entraten muß. Und genau dies geschieht, – nicht weil es an Herausforderungen mangelte, sondern weil sie nicht treffen. Die Praktische Theologie muß (wieder?) ‚praktisch‘ werden in dem Sinne, daß in ihrer Praxis die Praxis der anderen, auf die sie sich richtet, wahrnehmbar und nachvollziehbar wird – als Bedingung der Möglichkeit dafür, daß der praktisch-theologisch angeleitete Pfarrer in seinen tagtäglichem Handeln den anderen auch da trifft, wo er ist. Nur so kann der dann auch in seiner Praxis beeinflußt werden, nicht im Sinne der allmählichen Hinführung zu der Praxis, die die theologische oder pfarrerische ist, sondern in der wechselseitigen Verständigung und Veränderung beider als Medium, in dem sich die Christentumsgeschichte fortbewegt. Eine kirchenzentrierte Praktische Theologie geht, ob sie das wahrhaben will oder nicht, davon aus, eine andere Praxis als die ihre nach ihrem Bilde penetrieren zu sollen; sie darf sich dann nicht darüber wundern, daß sie in ihren verästelten Wirkungen in der Praxis pfarramtlichen Handelns auch als penetrant wahrgenommen wird. Erstaunlich und erfreulich bleibt die Penetranz der breiten volkskirchlichen Mitgliedschaft, die die Penetranz der Amtskirche ihr gegenüber nicht einfach mit Entzug beantwortet, sondern im Festhalten an ihr nach wie vor beharrlich versucht, ihre Orientierung zur Geltung zu bringen. Wie lange noch? Die Kirchenaustrittszahlen der letzten beiden Jahrzehnte geben zu denken. Die Praktische Theologie steht, an der Nahtstelle von akademischer Theologie und kirchlicher Praxis, vor einer schweren Bewährungsprobe.
Theologia Practica, 20. Jg,. Heft 2 (1985), S. 149-155.