Schreiben Rudolf Stählins an Landesbischof Hans Meiser in Sache Wehrdienst als Pfarrer vom Juni 1940
Nachdem der Thüngener Pfarrer (und spätere Psychoanalytiker) Rudolf Stählin (1911-2006) am 25. Mai 1940 dem Wehrbezirkskommando Würzburg mitgeteilt hatte, dass er entgegen der Intention des Landeskirchenrats eine uk-Stellung über den 30. Juni 1940 hinaus ablehne, rechtfertigte er seine Haltung gegenüber dem bayerischen Landesbischof Hans Meiser wie folgt:
Thüngen, 8. Juni 1940
Betreff: Wehrdienstverhältnis von Geistlichen (zu Nr. 5562 vom 31. Mai 1940)
Hochwürdiger Herr Landesbischof!
Unter dem 31. Mai bin ich vom Landeskirchenrat aufgefordert worden, mein Schreiben an das Wehrbezirkskommando Würzburg vom 25. Mai, das damals gleichzeitig an den Landeskirchenrat im Abdruck ging, zu begründen. Zum Formalen möchte ich auf Folgendes hinweisen:
1. Am 28. März war mir durch Herrn Dekan Lindner in Würzburg kurz mitgeteilt worden, dass ich auf 1 Jahr zurückgestellt sei. Als ich dann am 30. April eine zweite Mitteilung erhielt, die besagte, ich sei bis zum 30. Juni unabkömmlich gestellt, musste ich die erste Mitteilung für hinfällig halten und damit rechnen, nach dem 30. Juni eingezogen zu werden.
2. Soweit mir bekannt ist, werden Staatsbeamte von ihrer vorgesetzten Behörde gefragt, ob sie mit einer eventuellen Reklamation einverstanden wären. Da ich keine Gelegenheit gehabt hatte, mich in dieser so einschneidenden Frage zu äussern, sondern über meine Person verfügt war, unternahm ich meinerseits den Schritt, den mich mein Gewissen gehen hiess. Ich würde es aufrichtig bedauern, damit den schuldigen Gehorsam gegen meine vorgesetzte Kirchenbehörde verletzt zu haben.
3. Andere Geistliche, für die ein Unabkömmlichkeits-Antrag des Landeskirchenrats vorlag, wurden bei der Musterung vom Wehrbezirkskommandeur gefragt, ob sie lieber zum Heeresdienst eingezogen würden. Mit meinem Schreiben an das Wehrbezirkskommando nahm ich auch für mich das Recht in Anspruch, mich in dieser Weise zu äussern, wozu mir bei der Musterung zufällig nicht die Gelegenheit geboten worden war.
Alle diese Gründe waren aber nicht bestimmend für mein Tun. Ich führe sie nur darum an, weil ich danach gefragt bin. Die Erwägungen, die mich in reiflicher Prüfung vor meinem Gewissen als Christ und als ordinierter Geistlicher leiteten, sind anderer Art. Und ich bitte, sie Ihnen, hochverehrter Herr Landesbischof, noch kurz vortragen zu dürfen, damit sie seelsorgerlich geprüft und kirchlich beurteilt werden.
Denn es war ausschliesslich die Verantwortung für die Kirche, die mich trieb, an das Wehrbezirks-Kommando zu schreiben. Der Krieg, in dem ich den gewaltigen Eingriff der Hand Gottes in unser gewohntes Leben spüre, macht vor keinem Lebensbereich Halt. Eine alte Weltgestalt wird durch ihn zerbrochen mit allen ihren Institutionen und Formen. Auch die Gestalten des inneren, des geistigen und des geistigen Lebens [sic!] werden durch ein läuterndes Feuer hindurchgeführt. Diese Seele unseres Volkes erfährt durch den Krieg ein Sterben, das Verheissung hat auf ein neues Leben hin. Dieses Geschehen von übergeschichtlicher, apokalyptischer Bedeutung brennt uns heiss in der eigenen Seele. Es macht auch nicht Halt vor meinem kirchlichen Dienst, der mich mit verantwortlich macht für das Heil der Seele meines Volkes. Ich stehe unter dem beunruhigenden Eindruck, dass auch die uns überkommenen Formen des kirchlichen Dienstes weithin nicht mehr die Kraft in sich tragen, die lebendige Generation unserer Zeit zu Gott zu führen. Mit vielen Freunden und Brüdern weiss ich mich eins in der sehnsüchtigen Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass sich uns im Erleben dieses Krieges die rechten Wege erschliessen, auf denen wir die Menschen unseres Volkes, die bisher in der Kirche nicht den lebendigen Gott fanden, mit dem Evangelium, das uns anvertraut ist, erreichen. Um denen nahe und in der Erfahrung des Krieges, seines Gerichts und seiner heilsamen Läuterung verbunden zu sein, denen ich später ein Bote Christi sein soll, habe ich den Wunsch, nicht ausserhalb des Kriegsgeschehens zu stehen.
Dazu kommt noch eine persönliche Not, die ich Ihnen, meinem Bischof auch nicht verschweigen möchte, weil sie die Not vieler junger Theologen ist. Ich weiss, dass ich durch das Studium der Theologie, der meine ganze Liebe galt und gilt, allein noch nicht recht vorbereitet bin zum heiligen Dienst. Jeder, der es unternimmt, Zeuge Gottes sein zu wollen, hat eine harte und strenge menschliche Schulung nötig. So ertrage ich es schwer, meinen Dienst an den 3 Gemeinden und an den Rückwanderern, die mir anvertraut sind, zu tun aus einer bürgerlichen Gesichertheit und Behaglichkeit heraus, während ungezählte Männer aus allen Sicherungen des Lebens und aus allen gewohnten Institutionen herausgeführt sind in Gefahr und in den Tod. Gewiss kann es sich niemand selber wählen, wann und wie er in das Angesicht des Todes gestellt wird um da das Geheimnis des Kreuzes als der Gotteskraft zu erfahren. Aber nun fährt der Krieg durch die wachen Herzen in unserem Volk und bereitet sie für Gottes zukünftiges Reich. Da ich mein Leben restlos in den Dienst der Kirche geben will, die dies Reich bringen soll, darum erstrebe und erbitte ich mir auch für mein persönliches Leben die beste und höchste Form. Sie wird geprägt im Angesicht des Todes.
Die mir anvertrauten Gemeinden verlassen zu müssen, würde mir schwer. Ich kenne und bedenke die Verantwortung des Seelsorgers in der Heimat. Dieser Verantwortung dürfte auch nichts vorangestellt werden ausser der hingebenden Liebe zur Kirche als Ganzer und dem Einsatz für die Zukunft unserer Gemeinden. Im Blick auf die unter Umständen verwaisten Gemeinden tröstet mich die Erfahrung der Missionsgemeinden, die in Zeiten, wo sie das Amt und seine Führung entbehren mussten, innerlich reiften und erstarkten. Was wäre es für ein Segen, wenn nun Gemeindeglieder lernten, das geistliche Leben ihrer Gemeinde zu überwachen und zu leiten! Die Not, keinen Pfarrer zu haben, könnte einer Gemeinde eindrücklicher als irgendwelche Worte zeigen, dass wir „nackt“ vor Gott gestellt sind und dass es auch an der inneren, geistlichen Front den Einsatz jedes einzelnen und seine Bewährung gilt.
Hochverehrter Herr Landesbischof! Ich habe mir die Freiheit genommen, einem heissen Herzen Luft zu machen und mit meinen Worten das seelsorgerliche Verständnis meines Bischofs zu suchen. Wenn ich mit meinem Brief gegen die Ordnung der Kirche Christi verstossen und „nach eigener Wahl“ gehandelt habe, bitte ich um Verzeihung und um Zurechtweisung. Ich werde mich ihr gehorsam unterwerfen.
In aller Ehrerbietung Ihr Ihnen Herr Landesbischof ganz ergebener
gez. Rudolf Stählin.
BayStA Würzburg, Gestapo Würzburg 14286
Quelle: Zustimmung – Anpassung – Widerspruch. Quellen zur Geschichte des bayerischen Protestantismus in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft, zusammengestellt von Karl-Heinz Fix, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2021, S. 1337-1339.