Modus moriendi der Kirche. Zur Theologie einer sterbenden Kirche (1977)1
Von Oto Mádr
Die folgenden Gedanken sind das Zeugnis eines Priesters und Theologen, der seit Jahrzehnten in seiner Kirche und in seiner eigenen Existenz erfahren hat, wie vielfältig die äußeren und inneren Bedrohungen des Lebens und Wirkens dieser Kirche sein können, wie sehr eine Kirche dem Sterben nahe sein, plötzlich aufblühen und ebenso rasch wieder auf die Spur der nordafrikanischen oder kleinasiatischen Kirchen geraten kann. Das Memento mori ist aber für jede Kirche und Gemeinde ein notwendiger Teil der eigenen Besinnung und Buße.
„Das erste Land ohne Religion“?
Nehmen wir an, daß auch die Kirche stirbt. Es soll keine bloße Übungshypothese sein, auch wenn wir glauben, daß die Kirche bis zum Ende der Zeiten bleibt. Albanien ist das erste Land ohne Religion, so lautet die offizielle These. Die Wirklichkeit wird jedoch nicht zu weit davon entfernt sein, besonders was die Zukunftsaussichten betrifft. Wie lange halten die Überreste der kirchlichen Struktur noch durch? Wie lange können Gläubige dem Druck der Macht widerstehen? Und – wann kommen weitere „Albanien“ hinzu?
Es ist nicht gerade etwas Ermunterndes, an gequälte Brüder und Schwestern zu denken, aber: ist es sicher, daß wir nie in eine Situation der sterbenden Kirche gelangen? Sind wir nicht schon in ihr, an der Schwelle vielleicht? Man kann nicht nur an tödlichen Verletzungen, sondern auch an schleichenden Krankheiten sterben.
In der Kirche verläuft ein dreifacher Prozeß:
ein Prozeß des Entstehens – der Blüte – des Unterganges. Alles dauernd und gleichzeitig.
Die aufkeimende Kirche …
ist nicht bloß Anliegen der apostolischen Zeit und der missionarischen plantatio ecclesiae. Die Kirche entsteht in jeder neuen Gemeinde, auch in jedem einzelnen, der getauft wird oder der zum Glauben zurückkehrt. Auch in jeder neuen Generation der Gläubigen (K. Rahner).
Der Eifer des Aufbruchs inspiriert, öffnet Horizonte, gibt Elan. Wie der Frühling, wie die Jugendzeit.
Die blühende Kirche …
ist ein erwachsener, voll im Leben stehender Organismus. Ein reiches Angebot von geistlichen Werten. Eine Fülle von Zeichen des inneren wie des äußeren Lebens. Wachsende Aufgaben, großer Aktionsbedarf. – Schon im ersten Stadium gibt es einzelne, die eigentlich zu diesem zweiten gehören.
Dieses Stadium befriedigt aktive wie passive Teilnehmer maximal. Hoffnungen werden in hohem Maße erfüllt, die aufgewendete Energie bleibt selten erfolglos. Die Masse der Mitglieder und das reiche und blühende Leben geben ein Gefühl der Sicherheit: die Realität bestätigt ja den Glauben. Man wohnt in einem vollendeten und gut eingerichteten Hause. So erscheint dieses Stadium als Norm, und Abnahme in irgendeiner Richtung gilt als Niedergang.
Die untergehende Kirche …
ist nicht identisch mit einer verfolgten oder innerlich erschütterten Kirche; eine solche kann eine starke, sogar steigende Lebensfähigkeit besitzen. Eine Kirche beginnt zu sterben, wenn sie quantitativ ständig abnimmt, besonders aber, wenn die Intensität des Lebens aus dem Glauben erlahmt. Keine Rolle spielt, ob die Kirche als Ganzes von der öffentlichen Szene verschwindet oder einzelne physisch oder geistlich verliert. Die Kirche wird getötet in jedem Märtyrer, mehr in einem, der sich selbst verkauft, am schmerzlichsten in jedem Kind, in dessen Seele jemand den guten Samen zertritt. Auch in historischen Umbrüchen, ja mit jeder alten Generation geht die Kirche, die bis jetzt hier lebte, weg.
Das Leben mit der Perspektive des Endes deprimiert und demobilisiert. Dies ist ganz natürlich; der Tod kann das Leben nicht stimulieren – insofern man im Bann des Biologischen bleibt. Dann gibt es, wie bekannt, die üblichen Reaktionen; illusiver Optimismus – verzweifelter Trotz – bitterer Pessimismus – psychische Emigration – reale Flucht aus der Situation. Doch ist das eine wie das andere notwendig? menschlich? christlich? Nehmen wir doch zur Kenntnis, daß das Sterben zum Leben der Kirche gehört, gleichwie die Geburt und die reife Fülle. Alle Stadien sind wertvoll vor Gott, alle sind von ihm geplant. So gilt, daß in jedem von ihnen, das letzte nicht ausgenommen, etwas von uns Christen erwartet wird, und zwar auch, etwas ganz Besonderes.
Nun, jede historische und persönliche Variante stellt Fragen.
Das Sterben von Teilkirchen – theologisch kaum reflektiert …
Uns interessiert jetzt das Sterben von Teilkirchen. Keiner von ihnen ist irdische Unsterblichkeit zugesichert. Ganze große Territorien liegen „in partibus infidelium“, auch Jerusalem und Konstantinopel. Könnte nicht dasselbe auch Rom und ganz Europa einmal treffen? Die Kirche Christi würde zweifellos in jedem Fall weiterleben.
Es gibt eine Theologie der entstehenden Kirche, von den Anfängen in der Apostelzeit, besonders in der Missiologie aufgearbeitet. Man hat auch eine ganz großartige Theologie der entwickelten Kirche, etwa in der Pastoraltheologie, die von historischen und zeitgenössischen Erfahrungen profitiert. Wo aber findet man eine Theologie der sterbenden Kirche? Es existiert bei uns keine. Wohl deshalb, weil sie kein anziehendes Thema darstellt. Wohl deshalb, weil sie nicht notwendig schien. Wir konnten mit einer „Hoffnung wider die Hoffnung“ leben, mit. naivem irdischen Optimismus, worin wir Gottes Allmacht hineinzukomponieren wußten. Wir sagten mit Petrus „Herr, das darf nicht sein, nie darf dir so etwas zustoßen“ und überhörten Christi „Du denkst nicht, wie Gott denkt, sondern wie Menschen denken“ (Mt 16,23).
… außer bei den Böhmischen Brüdern
Doch gab es bereits eine Theologie der sterbenden Kirche – und zwar in Mitteleuropa. Im Jahre 1650, als nach dem Westfälischen Frieden den Böhmischen Brüdern alle Hoffnung auf die Rückkehr und Wiedererrichtung ihrer Gemeinschaft die in der Emigration langsam zerfiel, erloschen war, verfaßte ihr letzter Bischof Jan Amos Komensky (Comenius) eine kleine Schrift „Das Vermächtnis der sterbenden Mutter – der Brüderunität“.
Komensky sieht das Ende der Brüderunität als das allen Menschen, Königreichen und auch Kirchen gemeinsame Los. In unserer Zeit, sagt er, ändert sich vieles, es beginnt eine andere Epoche, Gott will das Antlitz der Erde erneuern. Die Unität diente dem Willen Gottes, Gott ließ ihre Vertreibung aus der Heimat ihrer Sünden wegen zu. Vor ihrem Tode beabsichtigt die Mutter Kirche, ihre geistlichen Reichtümer und Erfahrungen an ihre Kinder und Freunde zu verteilen: Treuen Kindern Hoffnung auf ewiges Königreich, untreuen Buße und Weinen. Nach dem Zerfall der kirchlichen Struktur rät sie den Predigern: „Dient Christo, wo ihr könnt, in einer der evangelischen Kirchen, die eure Dienste wünscht.“ Die Gläubigen sollen sich „einer Unität, in der sie die Wahrheit des Evangeliums Christi erblicken, anschließen, für ihren Frieden beten und ihre Erbauung im Guten suchen, durch gutes Beispiel und aufrichtige Gebete anderen leuchtend, damit so Gottes Zorn gegen die Christen versöhnt wird“. Den einzelnen Kirchen hinterläßt er die eigenen geistlichen Erfahrungen, aber auch Kritik und Rat. Dem tschechischen Volk vermacht er sein geistliches Erbe, das die Söhne dieses Volkes über schwere Zeiten bewahrten und vermehrten. Hier spricht er eine ganz bestimmte Hoffnung schon für dieses Leben aus: Wiedergewinnung der Selbständigkeit des Volkes in der Zukunft. – Als Christ resigniert Komensky im Glauben an die Zukunft seiner Kirche, als Patriot glaubt er emphatisch an die Zukunft seines Volkes.
Allzu große Unterschiede in der historischen Situation und in der Ekklesiologie erlauben uns nicht ohne weiteres eine grundsätzlich positive Annahme dieser bis jetzt einzigen (?) Theologie der sterbenden Kirche. Aber es ist klar, daß auch katholische Christen, die nicht „ihre Kniee vor dem Baal beugen wollten“, sich mehrmals in der Vergangenheit und Gegenwart über den Sinn und die Norm ihres Lebens in einer sterbenden Kirche klarwerden mußten. Es wäre interessant zu wissen, wie eine konkrete Theologie unserer Brüder in Nordafrika, Nordeuropa, Japan u. a. aussah, als diese Kirchen sich durch feindliche Wellen überflutet sahen.
Leben mit dem Blick auf den Tod
Eine Grenzsituation nötigt uns, die Augen aufzumachen. Ist es aber klug, so lange zu warten? Aufgeschlossensein gegenüber dem Tode gibt dem Leben eine Tiefe, das kennen wir von den Existentialisten und lange vorher von unseren verschiedenartigen Übungen des Memento mori. Es lohnt sich, in die Situation einer sterbenden Kirche einzutreten und Gott zu fragen, zum ersten: war für ein Sinn darin zu finden ist, zum anderen: was Gott denn von den Seinigen erwartet.
Welchen Sinn haben tote Kirchen?
Was für ein Sinn liegt in der Tatsache, daß die Kirchen von Paulus, Cyprian, Basilius, Augustinus absterben mußten? Als die Kirche des Alten Testamentes ganz nahe vor dem Untergang stand, hatten die Propheten eine Erklärung: Gott straft das untreue, ungehorsame Volk. Zweifellos, Gott kann strafen, zum Erwachen rufen, die Betroffenen wie auch andere. Der Untergang einer Kirche alarmiert zur Erforschung auch des eigenen Gewissens, zur Buße.
Heldentum der Märtyrer, Treue der Letzten in Verlassenheit, Stärke der Unterdrückten, das sind unter anderen Bedingungen schwer erreichbare Werte. Es ist das höchste Zeugnis für Gott. Er wird ja bis zum Tode geliebt. Es kommt ans Licht die Macht seiner Gnade, die schwache Menschen mit soviel innerer Kraft erfüllt.
Das Buch Ijob kann uns wohl auch eine Antwort geben, denn die tödliche Heimsuchung des Gerechten wie der gläubigen Gemeinde ruft gleichermaßen nach Sinnerklärung. Ijob kannte keine andere – da er in seinem Falle die Theorie der Strafe ablehnte – als die absolute Herrschaft Gottes. Gott darf schwere Aufgaben auferlegen, ohne sie uns zuvor logisch zu erklären. Gott gebührt Gehorsam, dadurch wird Gott als der Herr anerkannt und geehrt. Nicht nur Gottes Ehre, sondern auch der geistliche Nutzen von Menschen wird durch Leiden und Tod gefördert. Wenn irgendwo Brüder und Schwestern schwer unterdrückt werden, wird die ganze Kirche stimuliert, sie bemüht sich zu helfen, zu beten, besser zu leben. Es kommt zum Austausch der Gaben, auch die bedrohte Teilkirche hat etwas zu geben: so etwa das Beispiel der außerordentlichen Treue, Gebete – mit Christus gekreuzigt, betet sie für die ganze Kirche, für Nahe, für Unbekannte, für Feinde, für alle. Außerdem: echte christliche Nächstenliebe unter extrem gefährlichen Bedingungen gibt ein glaubwürdiges Zeugnis für das Evangelium der Liebe (vgl. 1 Petr 3,2).
Das Neue Testament ist voll von eschatologischer Hoffnung. Die ersten Christen fühlten sich gleichzeitig als die letzten Christen. Sie lebten aus dem Bewußtsein: „Die künftige Herrlichkeit, die Gott für uns bereithält, ist so groß, daß alles, was wir jetzt erleiden müssen, in gar keinem Verhältnis dazu steht“ (Röm 8,18). Was immer Böses geschieht, soll als Prüfung verstanden werden. Man muß bestehen, um an Gottes Herrlichkeit Anteil zu bekommen (vgl. 1 Petr 4,12 bis 13). Obwohl wir wissen, daß die Belohnung durch Gott seine göttliche Antwort auf das Begehren unseres Herzens bedeutet – heutiges Denken (Demut oder Stolz?) hört das Wort nicht gerne. Umgekehrt ist es mit einer schlichten Erklärung, die unser heutiges Wissen über die Natur einbezieht, wie Teilhards Philosophie des Übels als notwendiger Teil des natürlichen, allgemeinen Prozesses der Entwicklung sie vermittelt. Die Theologie kann damit keine ernsten Schwierigkeiten haben. Denn das Gotteswort ist Mensch geworden, in natürliche Prozesse eingegliedert, durch Geburt, keife und auch Tod gegangen. Soll dann seine Kirche das Privileg haben, aus dem riesigen Prozeß des natürlichen und menschlichen Lebens, der ja von Gott in Gang gesetzt wurde, herausgenommen zu werden? Lebt sie auf Erden, so muß sie sich menschlich, freiwillig der natürlichen Notwendigkeit des Todes fügen und so Gott als den Urheber und Herrscher des Alls anerkennen.
Aber doch ein unermeßlicher Verlust?
Was den Schaden betrifft, der aus dem Nichtexistieren einer Kirche folgt, so sollten wir uns selbst nicht überschätzen und Gottes sorgende Liebe nicht unterschätzen. Hier, mehr als anderswo, sind wir Gott die absolute Zuversicht schuldig, und so ehren wir ihn. „Was geht dich das an? Du aber folge mir nach!“ (Joh 21,23)
Ist damit alles gesagt? Ist damit schon alles klar? Nein, Gott sei Dank. Weiterhin bleiben Gottes Entscheidungen unerforschlich und seine Wege unaufspürbar, so daß man sich „unter Gottes starke Hand“ beugen kann und muß. Etwas mehr, und zwar ganz persönlich wird der Sinn nur denen aufgehen, die sich mit ihrem ganzen Wesen entscheiden für die angebotene kostbare Gelegenheit, die letzten Tage einer Kirche mitzuerleben, mit dem Gekreuzigten bis zum letzten Atemzug auszuharren – wenn es Gottes Wille ist.
Was erwartet Gott von den Seinen im Stadium der sterbenden Kirche?
Im Grunde dasselbe, was er in jedem Stadium erwartet: den vollen Dienst. Bemühen wir uns jetzt, das Spezifische zu entdecken.
1. Den Tod annehmen!
Man denke etwa an einen Pfarrer, dessen Gemeinde fast zu einem Nichts zusammengeschrumpft ist. Man muß auch diese Situation als Aufgabe begreifen – damit verbundene Werte suchen. Männlich der Zukunft entgegenschauen. Nicht sich selbst und andere mit falschen Tröstungen täuschen. Nicht in Ersatzvergnügen flüchten. Nur eine Art des Todes der Kirche absolut ablehnen: die des eigenen Verrates. Würdig, ohne Panik und Hysterie weggehen. „Wenn wir leben, leben wir für den Herrn, und auch wenn wir sterben, geschieht es für den Herrn“ (Röm 14,8).
2. Intensiv leben!
Die geistliche Energie in den Kern zusammenziehen. Armut der Peripherie, den Mangel der äußeren Lebensmerkmale nicht bedauern, sie eher als Vorteil nützen. Alfa und Omega: persönlicher lebendiger Glaube plus lebendige Gemeinschaft(en). Reifen zur höchsten Lauterkeit des Dienstes ohne falsche Hoffnung, ohne persönliche Interessen. Treue in echtester Form, allein Gottes wegen, gemäß dem Bilde der kenosis Christi. Verlassenheit als Gelegenheit, sich als „vollkommenes und stetes Opfer“ darzubringen. Nicht sich in sich selbst verkapseln, sondern in den Kreislauf des mystischen Leibes eintauchen wollen. Für das Heil der Welt beten und opfern. Nicht als trauriger Heiliger unter anderen leben, sondern vielmehr mit dem Licht und der Wärme seiner Gegenwart alle beschenken. Aus eigenen tiefen Gründen und Einsichten eine starke, widerstandsfähige Spiritualität bauen: „Gott lieben durch Zerstörung von Troja und Karthago hindurch und ohne Tröstung … Liebt man Gott durch das Böse als solches (und durch den Schmerz) hindurch, dann ist es wahrhaft Gott, den man liebt“ (Simone Weil).
3. Das Beste aus sich herausgeben!
Große Gedanken und Taten überleben lange ihre Urheber. Die Brüderunität existierte kaum zwei Jahrhunderte, nie erreichte sie mehr als zehn Prozent der Bevölkerung, und trotzdem lebt vieles von ihrem geistlichen Erbe im tschechischen Volke noch in unserer Zeit. Stimulierende Fragen: Was bleibt nach uns für Außenstehende, wie wird für sie das Wort „christlich“, „katholisch“ klingen? An was für ein Erbe werden jene anknüpfen können, die – wohl nach einer langen Zeit – die Kirche in diesem Raum wieder gründen werden? Ist „die Zeit kurz“, dann ist es angebracht, sich zum Maximum für Geschichte und Ewigkeit aufzuraffen.
4. Nicht tatsächlich sterben!
Nicht die Kirche sterben lassen wollen! Wer im Sterben liegt, der lebt noch! Auch ein ganz schwach glimmendes Leben kann wieder aufflammen. Nichts berechtigt dazu, durch eigene Resignation mit dem Tode mitzuspielen. Passiver Selbstmord ist kein Martyrium. Je dünner der sprichwörtlich seidene Faden ist, desto größer ist seine Verantwortung, das Leben in die Zukunft zu übertragen.
„Den Tod annehmen“ und „Nicht sterben“ – wie geht das zusammen? Als Antwort hören wir Worte der bekannten Freundin der sterbenden Menschen: „Viele Patienten, die fähig waren, ihre Angst vor dem Tod zu überwinden, und die ihre eigene Endlichkeit annahmen, waren danach imstande, alle inneren Kräfte und Hilfsquellen zu mobilisieren und um ihre Genesung und ihre Rückkehr zu kämpfen“ (Elisabeth Kübler-Ross).2
Oto Mádr (1917-2011) war römisch-katholischer Priester und Herausgeber von Teologické texty sowie langjähriger politischer Häftling in der ČSSR.
Quelle: Oto Mádr, Wie Kirche nicht stirbt. Zeugnis aus bedrängten Zeiten der tschechischen Kirche, aus dem Tschechischen übersetzt von Gerhart Streiche, Leipzig: St. Benno, 1993, S. 30-38.
1 Der Text wurde ursprünglich unter dem Pseudonym Franz Markus in der Zeitschrift Diakonia (Jahrgang 8, Heft 2, 1977, S. 115–119) veröffentlicht.
2 „Es scheint, daß gerade in diesem letzten Satz ein ‚Kryptogramm‘, der eigentliche Schlüssel zur Interpretation dieses ganzen bewunderungswürdigen Traktats verborgen ist. Der Autor will keine ‚Leichenrede‘ halten. Er will alle Kräfte mobilisieren, und zwar nicht durch billigen Trost, sondern durch den Willen zur Wahrheit, durch befreienden, mannhaften Blick – Auge in Auge mit den denkbar boshaftesten Mächten. Es geht um den Glauben Abrahams auf dem Berge Morija, um den Glauben Ijobs, dem bewußt ist, daß Gott uns keine Rechenschaft geben muß, sich nicht an unsere Erwartungen und Kriterien halten muß, um den Glauben und den Gehorsam des Gottessohnes, der aus der Hand des Vaters den Kelch des Leidens empfängt.
Man kann meinen, daß Mádr dieses Opusculum nicht erst in den schweren 70er Jalaren durchdacht hat. Dieser Zug seiner Theologie und Spiritualität ist wohl schon in den 50er Jahren im Kerker gereift, als er sein Todesurteil erwartete. Deshalb erinnern die radikalen Gedanken dieser kleinen Schrift in manchem an die Eindringlichkeit der letzten Texte von Bonhoeffer und Delp. In der tschechischen theologischen Literatur – und in der tschechischen Spiritualität – ist diese Position, so meinen wir, ein Sonderfall. Und sie ist selten und kostbar zugleich.“ (Tomáš Halík, Glaube und Kultur in der gegenwärtigen tschechischen Gesellschaft – Vira a kultura v soudobé ceské spolecnosti, Manuskript S. 130).