Über das Doppelgebot der Liebe
Von Karl Barth
Man darf und muß hier, um zu verstehen, an das sog. «Doppelgebot der Liebe» — der Liebe zu Gott und zum Nächsten (Mark. 12, 29—31 Par.) — denken. Es ist kein Zufall, daß gerade Jesus «das Gesetz und die Propheten» gerade so zusammengefaßt hat. Er hat damit zuerst und entscheidend auch von dem Gesetz seiner eigenen Menschlichkeit, von ihrer doppelten, aber nicht entgegengesetzten, sondern in sich übereinstimmenden Orientierung geredet. Er hat damit sich selbst und also die in ihm erschienene Gnade Gottes als die Summe des Gesetzes erklärt. Die beiden Gebote stehen nicht absolut nebeneinander: es ist klar, daß Jesus die Liebe zu Gott und die zum Nächsten gerade nicht geschieden, sondern verbunden sehen wollte. Sie sind aber auch nicht identisch: es wird ja das Gebot der Gottesliebe, Matth. 22, 38, ausdrücklich «das große und erste» Gebot genannt; es wird ihm das Gebot der Nächstenliebe ja ausdrücklich als das «zweite» zur Seite gestellt; der Nächste ist nicht Gott und Gott ist nicht der Nächste. So kann auch die Liebe zu Gott nicht einfach und direkt die Liebe zum Nächsten sein. Das Gebot der Nächstenliebe ist aber auch nicht ein dem Gebot der Gottesliebe bloß angehängtes, ihm gegenüber untergeordnetes und unselbständiges Gebot. Ist es auch das zweite, so wird es doch Matth. 22, 39 ausdrücklich «dem ersten gleich» genannt. Die richtige Auslegung wird vielmehr vor einem wirklich doppelten, d. h. zugleich streng unterschiedenen und streng verbundenen Raum und Sinn des einen, dem Menschen gebotenen Liebens reden müssen. Es bezieht sich auf Gott, und es bezieht sich eben darum auf den Nächsten. Es hat jene und es hat eben darum auch diese Dimension. Es erkennt im Schöpfer den, der es auf dieses Geschöpf, den Mitmenschen, hinweist. Und es erkennt in diesem Geschöpf, im Mitmenschen den Hinweis auf den Schöpfer. Indem es diese beiden Hinweise, jeden in seiner Art und in seiner Richtung empfangen und ernst genommen hat, ist es Liebe zu Gott und Liebe zum Nächsten. So ist es wirklich die Struktur der Menschlichkeit Jesu selber, die sich in diesem Doppelgebot enthüllt: eine Wiederholung der ohne Vermischung und Verwandlung, aber auch ohne Trennung und Abgrenzung vollzogenen und bestehenden Einheit seiner Gottheit und Menschheit.
Quelle: Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Band III/2, Zollikon-Zürich, Evangelischer Verlag, 1948, S. 258.