Von Hellmut Traub
Das Wort ist von Luther übersetzt mit Widerchrist (anti — entgegen), vielleicht wegen der Unklarheit des in der Reformationszeit üblichen „Ent(d)christ“. Es kommt nur in den Joh.-Briefen vor: 1.Joh. 2,18.22; 4,3; 2.Joh. 7, an erster Stelle auch im Plural. In 2.Thess. 2,3-12 wird er bezeichnet als Mensch der Sünde, Kind des Verderbens, Widersacher, Boshafter (Geheimnis der Bosheit), der sich, sich selbst als Gott ausgebend, in den Tempel setzt, entsprechend Mk. 13,14; Mt. 24,15: Greuel der Verwüstung, der an heiliger Stätte steht; wahrscheinlich ist auch Joh. 5,43 der, der im eigenen Namen aufzutreten wagt, auf den Antichrist zu beziehen. Im prophetischen Bild ist von ihm als dem Tier aus dem Abgrund die Rede (Offb. 11,7; 13,1-10; 14,11; 16,2.10.13; 17,8-14; 19,19-20; dagegen nicht Kap. 12 und 20). Zweifelhaft ist, ob Belial 2. Kor. 6,15 auf den Antichrist angewandt werden kann. Im AT gelten Behemot und Leviathan (Hi. 40 u. 41) wie Gog und Magog (Ez. 38) als Vorbilder für Antichrist und seinen falschen Propheten, ebenso der „Gott der Festungen“ (Dan. 11,36-39).
Der Antichrist hat keine selbständige theologische Bedeutung, sondern nur als Zeichen der Wiederkehr Jesu Christi. Christus, der Erlöser, allein kennt ihn in seiner den Menschen unerträglichen Macht und wird ihn durch die Erscheinung seiner Zukunft zugleich offenbaren und vernichten (2.Thess. 2,8). Deshalb ist den Christen geboten, in der letzten Stunde, die jetzt ist, allein auf Christus zu schauen und nicht zeitverlierend zu fragen, wer der Antichrist sei; solche Spekulation gehört zur Verführung des Antichristen. Er ist der Widersacher schlechthin. Alle Sünde, Verderben, Boshaftigkeit finden in ihm ihre Konzentration, und zwar finden sie ihren Ausdruck in seiner Leugnung, daß Jesus der Christus und Gott der Vater sei (2.Thess. 2,2; 1.Joh. 2,22). Dadurch wird er der Verführer, indem er den Menschen zu seiner Rettung auf sich selbst, aus Eigenhilfe oder Selbsterlösung weist. Zwang und Macht, deren Gestalt totale Staatlichkeit und wirtschaftlicher Boykott sein kann (Offb. 13), erdichtete Religion (Mt. 24,15; Offb. 13,4.12), Uniformierung von Menschen (13,16) und Meinung (17,14), Militär und Krieg (19,19; 17,14) sind seine Mittel. Er hat kein selbständiges Wesen, sondern alles an ihm ist Nachahmung des wahren Christus: „Er ist gewesen, ist nicht und wird wiederkommen“ (17,8); er empfing „die tödliche Wunde und ist wieder lebendig geworden“ (13,3.14); ja, eine Art satanischer Trinität: Drache — Tier — falscher Prophet, ist angedeutet (13,4.11). Luther kann ihn deshalb als „Affen Gottes“ bezeichnen. Deshalb ist sein versuchlichster und entscheidender Kunstgriff das anzubetende Bild (13,14 f). Nicht Wirklichkeit, sondern Lüge und Schein ist seine Herrschaft. Dennoch hat er Macht, und zwar über das ganze Erdreich, alle Könige und Völker (13,7); aber es ist nicht die eigene, sondern sie ist ihm gegeben und wird ihm genommen.
Die Bedeutung der Verkündigung vom Antichrist ist der Trost für die Gemeinde, daß das Leiden, das durch den Antichrist über sie kommt, Gottes Wille ist und ihre Bewährung und Reinigung bedeutet, vor allem ihr aber die Teilhabe an Christi Leiden und damit ihre Vollendung schenkt. Deshalb heißt es in der Mitte der Beschreibung des antichristlichen Reiches: hier ist Geduld und Glaube der Heiligen (13,10).
Da die letzte Stunde jetzt ist, erkennt die Gemeinde, daß schon jetzt der Geist des Antichristen, ja, Antichristen wirken (1.Joh. 2,18; 2.Joh. 7). Diese gehen gerade aus dem Schoß der Gemeinde hervor. Ihr Kennzeichen ist die Leugnung nicht einer Lehre, sondern der Wirklichkeit, daß die einzige alle Menschen rettende Gottesoffenbarung in Jesus Christus schon geschehen ist.
Quelle: Biblisch-theologisches Handwörterbuch zur Lutherbibel und zu neueren Übersetzungen, hrsg. v. Edo Osterloh und Hans Engelland, 2. Auflage, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1959, 29.