Gunda Schneider-Flume, Die Identität des Sünders: „Die dem Menschen zuvorkommende und ihn begründende Liebe gibt seinem Leben Sinn vor allem Versuch menschlicher Sinnschaffung; da­durch wird die Sünde des Menschen aufgedeckt, der unter dem Zwang steht, allein aus sich selbst Sinn schaffen zu müssen. Der sich selbst als Ganzheit konstituierende Mensch lebt in der Meinung, der Sinn seines Lebens sei ihm verfügbar und er selbst könne und müsse diesen Sinn schaffen. Die Liebe Gottes bringt menschliches Sinnschaffen allererst auf ein menschliches Maß.“

Die Identität des Sünders

Von Gunda Schneider-Flume

Die Beschreibung der Identität des Sünders ist der Versuch konkreter Theologie, die im Glauben erfahrene Situationsbeschreibung des Men­schen vor Gott an dem Konzept der psychosozialen Identität aufzuzeigen. Dabei ist Sünde nicht allgemein im Blick, vielmehr konkret die Erschei­nungsform von Sünde, die sich im Bemühen des Menschen um die Herstellung seiner psychosozialen Identität zeigt. Sündenerkenntnis ist inso­fern eine Kritik des Konzeptes der psychosozialen Identität. Sie deckt eine Dimension der Wirklichkeit auf, der sich das Konzept der psychosozialen Identität verschließt.

Das Vorgehen konkreter Theologie unterscheidet sich grundlegend von der Korrelationstheorie in der Nachfolge Paul Tillichs. Während die Korrelationstheologie darum bemüht ist, Antworten zu geben auf Fra­gen, die zuvor von der existentiellen oder humanwissenschaftlichen Si­tuationsanalyse gestellt worden sind, sieht konkrete Theologie in der Sündenerkenntnis die Situationsanalyse des Menschen, die die Not seiner Gottlosigkeit aufdeckt und die nur erkannt wird, weil sie schon im vorhinein in der Geschichte Gottes mit den Menschen die Antwort „Ver­gebung“ erhalten hat.

Von der Identität des Sünders ist mit allem Vorbehalt zu reden, inso­fern es sich bei dieser Identität erstens um eine überindividuelle, univer­sale Identität handelt, die den einzelnen machtvoll ergreift und in der er sich immer schon vorfindet, und insofern es sich zweitens um eine zuge­sprochene Identität handelt, für die der Mensch zwar selbst verantwort­lich ist, ohne jedoch zu wissen, daß es sich um Sünde handelt, bzw. was es mit dieser Wirklichkeit Sünde auf sich hat.

Die Notwendigkeit und die Möglichkeit, von der Identität des Sünders zu reden, ergibt sich ausschließlich aus der Geschichte Gottes mit den Menschen. Die Wirklichkeit dieser Geschichte ist umschrieben durch die Begriffe: Vergebung, Stellvertretung, Neuschöpfung, Freiheit, Liebe, Gotteskindschaft. Alle diese Begriffe umschreiben eine Realität, die im Konzept der psychosozialen Identität keinen Raum hat, insofern kann am Leitfaden dieser Begriffe die Identität des Sünders, der sich der Geschichte Gottes verschließt, aufgedeckt werden. Freilich kann das im Rahmen der vorliegenden Arbeit jeweils nur kurz angedeutet werden.

Gottes Vergebung deckt die Not des Menschen, der allein vor dem Forum seiner selbst steht, als Sünde auf. „Deine Sünden sind dir verge­ben“, erhält der sich um Leben, Gesundheit, Heil zu Jesus Drängende zur Antwort und wird dadurch geheilt. Vergebung deckt die Sünde des Men­schen auf, der ausschließlich vor dem Forum seiner selbst steht. „Selber aber zum Tribunal für sich selbst zu werden, das heißt wahrlich, sich selbst entfremdet zu sein.“[1] Der sich selbst konstituierende Mensch muß sich selbst vor sich selbst und den anderen rechtfertigen. Der sich selbst konstituierende Mensch kann sich nichts abnehmen lassen und ihm wird nichts abgenommen, denn er kann sich nicht selbst vergeben. Vergebung ist die Realität des Himmelreiches (Mt 18,23ff), die die Sünde des sich selbst konstituierenden Menschen überwindet, indem sie ihn von dem Forum seiner selbst befreit. Vergebung transzendiert das Überich und das Überich-Gewissen und gibt teil an der Geschichte Gottes. Deshalb wird der, dem vergeben ist, auch aufgefordert, selbst zu vergeben, deshalb vermag der, dem vergeben ist, auch Vergebung weiterzugeben.

Gottes Stellvertretung deckt die Not des Menschen, der allein für sich selber eintritt, als Sünde auf. „Er hat den, der von keiner Sünde wußte, für uns zur Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.“ (2Kor 5,21). Vergebung geschieht, weil Gott für die Menschen eintritt. Das Eintreten Gottes für die Menschen, die Stellvertre­tung Jesu Christi, deckt die Sünde des sich ausschließlich selbst leistenden und gewährleistenden Menschen auf. Der sich selbst konstituierende Mensch steht unter dem Zwang, sich selbst darzustellen, unter dem Gesetz, sich selbst verwirklichen zu müssen. Das Eintreten Gottes für den Menschen befreit von diesem Zwang und diesem Gesetz, indem es teilgibt an der Geschichte Gottes, in der der Mensch leben darf, in der ihm Leben geschenkt wird. Stellvertretung überwindet das Gesetz der Leistung, nach dem der Mensch leben muß, und eröffnet die Dimension des Leben-Dürfens.

Gottes Eintreten für den Mensch deckt die Sünde des Menschen auf, der meint, er müsse für sich selbst eintreten. Damit ist Selbstverwirkli­chung nicht moralisch angegriffen wegen ihres möglichen (nicht zwingen­den!) Egoismus, noch auch ist Selbstverwirklichung psychologisch kriti­siert, vielmehr geht es darum, festzustellen, daß das Gesetz des Sich-Selber-Leistens, mit dem der einzelne ja Leben und Heil bewirken will, faktisch in die Isolation und Lebenswidrigkeit treibt, weil der Mensch, ausschließlich ausgerichtet auf sich selbst, niemanden für sich eintreten lassen kann. Das ist das Verhängnis der Sünde und der unter der Sünde erfolgenden Perversion des Gesetzes. Insofern gilt von der Identität des Sünders, was E. Käsemann im Blick auf Röm 7 feststellt: „Es geht um jenen Menschen, der aus der Illusion lebt, sich selber helfen zu können und zu sollen und der damit Adams Geschichte wiederholt, gerade wenn er fromm und ethisch handelt.“[2]

Gottes Neuschaffen deckt die Not des Menschen, der nicht neu zu werden vermag, als Sünde auf. „Darum, ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, es ist alles neu geworden. Aber das alles von Gott …“ (2Kor 5,17f). Vergebung durch das Eintre­ten Gottes macht den Menschen neu. Dieses Neuwerden ist nicht selbst geleistete Entwicklung oder Entfaltung des Menschen, sondern schlech­terdings das anthropologische Wunder, von dem der Glaube erzählt. Der Glaube an die neue Kreatur deckt die Sünde des Menschen auf, der, weil er an sich selbst haftet, nicht neu zu werden vermag.

Die Bemühung um Erneuerung und die Sehnsucht nach dem neuen Menschen ist konstitutiv auch für den sich selbst begründenden Menschen, so daß sich die Frage nach den Kräften der Erneuerung geradezu als Schnittpunkt von Theologie und Psychoanalyse darstellen kann. Der um seine Identität bemühte Mensch muß neue Kräftekonstellatio­nen zu neuer Einheit ausbalancieren und integrieren, er muß Konflikte der Vergangenheit bewußtmachen, aufarbeiten, bewältigen, um so die Entwicklung zur Zukunft zu gewährleisten. Diese Arbeit ist notwendig, und sie ist schwer; Wirkung und Möglichkeiten einer so erreichten Er­neuerung lassen sich meist an der Gesamterscheinung der Persönlich­keit ablesen. Wenn der Mensch sich allerdings ausschließlich fixiert auf diese Erneuerungsleistung, fällt er immer wieder auf sich und seine Konflikte zurück und wird bei aller Bemühung um Erneuerung nicht neu, weil er sich nicht von sich lösen kann und sich der Neuschaffung Gottes verschließt. Gott macht neu durch die andere Geschichte, in der statt der Leistung die Gnade steht: „Aber von Gottes Gnade bin ich, was ich bin.“ (1Kor 15,10). Bestimmend für das Verständnis der Neu­schaffung Gottes ist nicht der Gedanke der Kontinuität der sich entfal­tenden menschlichen Persönlichkeit, sondern das Wunder des Neuwer­dens.

Durch Gottes Neuschaffen verändert sich das Verhältnis des Menschen zur Zeit: Das Alte ist vergangen, Vergangenes ist abgetan, jetzt und hier ist Leben, die Geschichte Gottes mit den Menschen, die hoff­nungsvoll in die Zukunft führt. Der auf seine Selbstbegründung ausge­richtete Mensch bleibt einerseits gebunden an die Vergangenheit, er muß in Kontinuität mit den Konflikten seiner Vergangenheit leben, im besten Falle kann er diese Konflikte seiner gegenwärtigen Identität inte­grieren. Die Entwicklung des seine Identität herstellenden Menschen stellt sich dar als Ausgehen von den Konflikten der Vergangenheit über die Bewältigung der Gegenwart in eine zu leistende bessere Zukunft. Die starke Betonung des Entwicklungsgedankens vermittelt anderer­seits den Eindruck von Flüchtigkeit, insofern der seine Identität leisten­de Mensch von Krise zu Krise zur nächsten Entwicklungsstufe eilt. Ge­gen diese Lebensbewegung steht das befreiende: „Siehe, es ist alles neu geworden.“ Gottes Neuschaffen deckt die Sünde des Menschen auf, der das Vergangene nicht abtun kann und im Gegenwärtigen nicht prä­sent ist, weil er seine kontinuierliche Entwicklung gewährleisten muß. Das Wunder der Neuschaffung begründet Präsenz und Fülle: Hier und jetzt darf sich der Mensch dem Leben in der Geschichte mit Gott hingeben.

Gottes Befreiung deckt die Not des Menschen, der nicht frei zu wer­den vermag, als Sünde auf. „Denn das mit dem Geist gegebene Gesetz des Lebens in Christus Jesus hat dich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit.“ (Röm 8,2)[3]. Befreit von der Sünde, der Gottlosigkeit, der Lebenswidrigkeit, dem Tod, ist der Mensch frei, in der Geschichte Gottes zu leben. Paulus nennt das: „Ihr seid Knechte geworden der Gerechtig­keit.“ (Röm 6,18). Es gibt nach christlichem Verständnis nicht die Frei­heit an sich im herrschaftsfreien Raum. Freiheit ist Freiheit von einem Herrschaftsbereich und Freiheit für einen neuen Herrschaftsbereich. Frei­heit ist nicht ein Absolutes, ein Vakuum zwischen Bereichen, vielmehr ist der Mensch entweder beherrscht von Sünde, Gottlosigkeit und Lebenswi­drigkeit, oder er steht, von diesen Mächten befreit, unter der Macht Gottes, des Lebens, in der Geschichte Gottes.

Gottes Befreiung deckt die Sünde des Menschen auf, der nicht frei zu werden vermag, weil er allenfalls die Freiheit zu sich selbst erstrebt. Der sich selbst konstituierende Mensch bemüht sich, durch Aufarbeitung eigener unbewußter Konflikte und Abhängigkeiten, sich zu sich selbst zu befreien. Diese Arbeit kann lebensnotwendig sein, aber die dadurch erlangte Freiheit ist eine allzu enge und begrenzte, sie gibt keinen Lebens­raum, wenn der Mensch auf sie allein beschränkt bleibt. Die Freiheit, zu der die Geschichte Gottes befreit, führt den Menschen von seinem kleinen begrenzten Selbst weg und stellt ihn in den Dienst der Geschichte Gottes. Es gibt die Befreiung von der Gottlosigkeit nur durch die Hingabe an die Geschichte Gottes, es gibt die Befreiung von der Lebenswidrigkeit nur durch die Hingabe an das Leben, es gibt Freiheit von der Enge und Beschränktheit des eigenen Selbst, von den Mächten, die den Menschen in sich selbst binden, nur durch Bindung in größeres Leben, in das Leben in der Geschichte Gottes.

Paulus faßt die neue Freiheit, das neue Leben, den neuen Dienst zusam­men in der Formulierung: „Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingege­ben.“ (Gal 2,20). Von dem neuen Leben in Christus her zeigt sich die Sünde des Menschen, der auf sich selbst und seine Identität fixiert, nur bei sich selbst zu bleiben vermag. Mit der reziproken Formel „Christus in mir“ oder „ich in Christus“ wird Leben beschrieben, in dem der Mensch nicht aus sich selbst lebt, in dem er vielmehr von der Begrenztheit seines Selbst befreit ist, weil er unter der Herrschaft Christi steht. Im Glauben, in Christus, ist Leben nicht aufgrund von Leistung, sondern aufgrund von Liebe, nicht aufgrund von Selbstdarstellung, sondern aufgrund von Stell­vertretung, in diesem Leben steht Gnade an Stelle der Leistung des Ich. Dieses neue Leben lediglich als Identitätszuwachs zu bezeichnen[4], hieße Christus im Dienste der Identitätsentwicklung der Persönlichkeit inte­grieren. Dieses neue Leben als Übergang von einer Überich- zu einer Ich- Moral oder von Heteronomie zu Autonomie zu beschreiben, hieße Gott verkennen, die Sünde verkennen und den Menschen verkennen. Gott ist nicht Hilfsfunktion für vermeintliche menschliche Unfähigkeiten. Es be­darf wahrhaftig nicht des Kreuzes, um von einer Überich-Moral zu einer Ich-Moral zu kommen. Der Mensch vermag sehr wohl, seine Identität herzustellen, und er braucht nicht Christus, um autonom zu werden. Aber der Mensch vermag sich nicht von sich selbst zu befreien.

Das neue Leben in Christus transzendiert die Identitätsproblematik[5], indem es die Sünde des um sich selbst und seine Identität besorgten Menschen aufdeckt und ihn befreit von seiner Selbstbezogenheit da­durch, daß es ihn in Dienst nimmt für das Leben in der Geschichte Gottes. Dabei geht es nicht um Ich-Stärke oder Identitätszuwachs – die mag man haben oder nicht haben – sondern darum, daß der Mensch, gepackt von dem Leben in der Geschichte Gottes, sich dem Anspruch dieses Lebens öffnet.

Gottes Liebe deckt die Not des Menschen, der sich Gottes Liebe nicht zukommen zu lassen vermag, als Sünde auf. Erst in der Offenheit für die Geschichte Gottes wird der Mensch der das Leben begründenden Liebe gewahr. Gottes Liebe deckt die Sünde des Menschen auf, der so isoliert ist, daß er sich Gottes Liebe nicht zukommen lassen kann. Gottes Liebe überwindet die Isolation, indem sie den, der sich zuvor selbst isoliert hat, annimmt. So erzählt es die Geschichte vom verlorenen Sohn. Das für die Psychoanalyse so bedrängende Problem der Selbstannahme wird durch die zuvor schon geschehene Annahme durch die Liebe Gottes allererst auf ein menschliches Maß gebracht: Selbstannahme an sich führt in die Isolation, angenommen von Gott vermag der Mensch zu leben und der Annahme Gottes zuzustimmen.

Die Liebe Gottes ist die heilschaffende Macht der Transzendenz, die die Sünde des Menschen aufdeckt, der sich selbst als Ganzheit, als geschlosse­nes System konstituiert und sich so von dem Leben in der Geschichte Gottes ausschließt. Die Liebe Gottes überwindet die Verschlossenheit des Menschen und nimmt ihn hinein in das Leben. Vom Verständnis der Liebe Gottes her ist die Kritik der theologischen Anthropologie an dem Begriff der Ganzheit der Persönlichkeit, der Integrität und der vom Men­schen zu leistenden Transzendenz begründet. Die Liebe Gottes begründet Leben vor aller Leistung als Leben-Dürfen, und sie konstituiert den Menschen in der Geschichte Gottes vor aller Selbstkonstitution als ge­schlossener Ganzheit. Die Selbstkonstitution als geschlossene Ganzheit bedeutet Lebensverlust, Verlust der Dimension des Dürfens, Einschrän­kung des Lebens auf Leistung, auf Leben-Müssen. Die Liebe Gottes überwindet die Angst des Menschen um sich selbst und seine Identität, die Angst, sich als Ganzheit leisten zu müssen. Aufgrund der Liebe Gottes vermag der Mensch selbst zu lieben, weil er sich nicht selbst festhalten und sich nicht selbst gewährleisten muß.

Die dem Menschen zuvorkommende und ihn begründende Liebe gibt seinem Leben Sinn vor allem Versuch menschlicher Sinnschaffung; da­durch wird die Sünde des Menschen aufgedeckt, der unter dem Zwang steht, allein aus sich selbst Sinn schaffen zu müssen. Der sich selbst als Ganzheit konstituierende Mensch lebt in der Meinung, der Sinn seines Lebens sei ihm verfügbar und er selbst könne und müsse diesen Sinn schaffen. Die Liebe Gottes bringt menschliches Sinnschaffen allererst auf ein menschliches Maß: „Denn wer sein Leben erhalten will, der wird’s verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der wird’s erhalten.“ (Mk 8,35). Wer sich reduziert und fixiert auf sich selbst, findet nicht Sinn, nicht Leben. Sinn und Leben findet der Mensch in der Hingabe an die Geschichte Gottes.

Gotteskindschaft deckt die Not des Menschen, dem Wirklichkeit nur als Selbstbehauptung heischende Wirklichkeit widerfährt, als Sünde auf. „Denn welche von Gottes Geist getrieben werden, die sind Gottes Söhne. Ihr habt doch nicht knechtischen Geist empfangen, (der) wieder in Furcht (stellt). Vielmehr habt ihr den Geist der Sohnschaft empfangen, in wel­chem wir rufen: Abba, Vater! Der Geist selbst bezeugt unserm Geist, daß wir Gottes Kinder sind.“ (Röm 8,14-16)[6]. Die Gotteskindschaft um­schreibt das neue Leben, in dem dem Menschen die Wirklichkeit vertrau­ensvoll widerfährt, weil er Gott als liebenden Vater zu glauben vermag. Die Gotteskindschaft deckt die Sünde des Menschen auf, dem die Wirk­lichkeit nur als fordernde, feindliche gegenübertritt, weil er Gott nur als Leistung heischende Zorneswirklichkeit, mit Luther zu sprechen als deus iratus, kennt. Der Leistung fordernden Wirklichkeit gegenüber muß man sich behaupten, man muß ihr standhalten als „reifer“, „erwachsener“, „autonomer“ Mensch. Jede Lebensanschauung, die die Wirklichkeit auf die Leistung fordernde Wirklichkeit beschränkt, kann deshalb den Begriff Gotteskindschaft oder Kinder Gottes nicht verstehen oder nur als Regres­sion auf eine infantile Entwicklungsstufe einordnen. Deshalb hat die Psychoanalyse solche Schwierigkeiten mit dem Begriff Kinder Gottes. Den Kindern Gottes verwandelt sich die Wirklichkeit, und sie verwandeln sich selbst, weil sich ihnen Gott durch die Geschichte Christi verwandelt hat. Der Begriff der Gotteskindschaft transzendiert allerdings infantile Entwicklungsstufen ebenso wie die Vorstellung Gottes als Vater infantile Wunschphantasien transzendiert[7].

Wenn wir noch einmal nach der Bedeutung des Glaubens für den Identitätsprozeß fragen, so ist davon auszugehen, daß der Glaube die Offenheit für die Geschichte mit Gott beschreibt, während der Begriff der psychosozialen Identität auf die Einheit und Ganzheit der Persönlichkeit zielt. Der Glaubende lebt in dem Geschehenszusammenhang einer Ge­schichte, während der seine Identität erlangende Mensch in Gefahr steht, sich im Bilde einer geschlossenen Ganzheit zu verfestigen. Glaube wirkt ikonoklastisch, da er als Hingabe an die Geschichte Gottes gegen den Seinsmodus der Selbsthabe, des Mit-sich-selbst-identisch-Seins steht. Der Glaube stellt der Aufforderung, Selbst zu werden, in der der Identitätsprozeß zusammengefaßt werden kann, die Aufforderung entgegen, Sün­der zu werden, denn der Mensch, der sich als Sünder erkennt, vermag das angstvolle Festhalten an sich selbst preiszugeben und sich Vergebung zukommen zu lassen. In der Hingabe an die Geschichte mit Gott erfährt der Glaubende die Liebe Gottes, die ihn begründet vor aller Leistung, vor aller Selbstkonstitution. Die Begründung durch die Vorgabe der Liebe Gottes macht die Gewißheit im Leben des Glaubenden aus. Die einzige Gewißheit für den seine Identität konstituierenden Menschen ist seine Ich-Stärke. Aufgrund seiner Ich-Stärke weiß der sich selbst begründende Mensch vermeintlich, wer er ist; der sich selbst im Glauben vor Gott als Sünder erkennende Mensch dagegen weiß, daß er nicht zu wissen braucht, wer er ist, weil er wissen kann, daß Gott eine heilvolle Geschich­te mit ihm führt:

„Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!“[8]

Glaube und psychosoziale Identität können nicht harmonisch einander integriert werden, Glaube fügt sich nicht geradlinig in den Prozeß der psychosozialen Identität ein, vielmehr reißt der Glaube diese Identität auf. Glaube transzendiert die geschlossene Ganzheit der Persönlichkeit und befreit von der Selbstbezogenheit. Dadurch überwindet der Glaube die Identitätsangst, die Angst, sich selbst leisten und gewährleisten zu müssen. Der Glaube steht nicht im Dienste der Herstellung der psychosozialen Identität, vielmehr begründet der Glaube Freiheit.

Durch die Befreiung des Menschen von der Beschränktheit seines Selbst zum Leben in der Geschichte Gottes wird das Problem der psychosozialen Identität nicht aufgehoben, aber es erhält einen anderen Stellenwert im Leben. Erlangung der Identität ist nicht mehr letztes Problem. Durch die Befreiung von dem Gesetz, sich selbst leisten zu müssen, ist der Glaubende nun in der Tat freigesetzt – auch zur Leistung. Es geht bei der Kritik an dem Konzept der psychosozialen Identität keineswegs um eine grundsätz­liche Kritik menschlicher Leistung. Es geht vielmehr um die richtige Rangordnung der Leistung in der Wirklichkeit. Ebensowenig geht es darum, die Möglichkeit und die Problematik der Identitätsbildung zu verharmlosen. Theologische Anthropologie hat davon auszugehen, daß die Erlangung der psychosozialen Identität heute allgemein als zentrales Problem empfunden wird. Allerdings ist diesem Problem nicht so zu begegnen, daß der Glaube kurzerhand auf die Funktion der Herstellung der psychosozialen Identität reduziert und festgelegt wird.

Der Glaubende vermag das Problem der Identität als vorletztes Pro­blem anzugehen, weil er zuvor schon die Identität des Sünders ergriffen hat. Der Mut dessen, der aus Vergebung lebt, ermöglicht den freien Umgang mit Gott, den Menschen und der Welt, nicht im Dienste der Selbstverwirklichung, der Persönlichkeitsentfaltung oder der Herstellung der Identität, sondern im Dienste des Lebens in der Geschichte Gottes mit den Menschen. In dieses Leben gehören alle Menschen, die eine Identität erlangen, und ebenso alle, die keine Identität erlangen oder die nicht in der Lage sind, eine Identität herzustellen.

Quelle: Gunda Schneider-Flume, Die Identität des Sünders. Eine Auseinandersetzung theologischer Anthropologie mit dem Konzept der psychosozialen Identität Erich H. Eriksons, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1985, S. 125-133.


[1] P. Ricoeur, Symbolik des Bösen. Phänomenologie der Schuld II, 1971, 167.

[2] E. Käsemann, An die Römer, 200.

[3] Übersetzung: E. Käsemann, An die Römer, 203.

[4] So D. Stollberg, Tiefenpsychologie oder historisch-kritische Exegese? Identität und der Tod des Ich (Gal 2,19-20), in: Y. Spiegel (Hg.) Doppeldeutlich. Tiefendimensionen biblischer Texte, 1978, 215-226, vgl. besonders 216.

[5] Gegen Stollberg, aaO, 223: „Wenn Paulus sagt ‚Nicht ich, sondern Christus in mir‘, dann spricht also das Kindheits-Ich, das noch nicht losgelassen hat, in seiner Hoffnung auf das Erwachsenen-Ich, das als Noch-nicht-Ich erlebt wird. Der Text legt daher m.E. – wie andere paulinische Texte auch – Zeugnis ab von einem Identitätskonflikt, weniger von einer abgeklärten, sich am Ziel (Augustin: in der Ruhe in Gott) erfahrenden Identität, die den Identitätskampf überwunden hat.“

[6] Übersetzung: E. Käsemann, An die Römer, 215.

[7] Vgl. dazu P. Ricoeur, Die Vatergestalt – vom Phantasiebild zum Symbol, in: Herme­neutik und Psychoanalyse, 315-353.

[8] D. Bonhoeffer, Widerstand und Ergebung, 1951, 243.

Hier der Text als pdf.

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