Paul Althaus über Werner Elerts theologisches Werk (1955): „Wir danken Gott dafür, dass wir, die Fakultät, die Universität, Werner Elert durch mehr als ein Menschenalter gehabt haben. Wir sind stolz darauf, dass dieser große Theologe und Lehrer der unsere war, dass sein Name mit dem unseres Erlangen für immer verbunden ist. Sein Werk wird seinen Dienst in Wissenschaft und Kirche auf lange hinaus weiter tun. Gott der Herr wolle es dazu segnen! Er schenke unserer Fakultät und Universität, der theologischen Wissenschaft und der Christenheit auch hinfort immer wieder Forscher und Lehrer voll Geist und Kraft!“

Werner Elerts theologisches Werk

Von Paul Althaus

Eine Gedenkfeier wie diese, zu der die Theologische Fakultät eingeladen hat, ist in der Geschichte unserer Universität, mindestens der letzten Jahrzehnte, etwas durchaus Un­gewöhnliches. Wenn wir uns zu ihr entschlossen haben, dann deswegen, weil der Mann, dem sie gilt, selber eine ungewöhnlich große Gestalt in der Geschichte der Fakultät und auch der Gesamtuniversität war. Durch die klassische Erlanger Theologie des 19. Jahr­hunderts, die vor gerade 100 Jahren einen Höhepunkt ihrer Geltung und Wirkung erreichte, hat der Name Erlangen einen besonderen Glanz in allen lutherischen Kirchen der Welt und über die Grenzen des Luthertums hinaus bekommen. Wenn der alte Ruf und das alte Vertrauen zur Erlanger Fakultät sich in unseren Jahrzehnten gutenteils wieder erneuert hat, so kommt der theologischen Leistung Werner Elerts, des Forschers und Lehrers, ein wesentlicher Anteil daran zu. Es geziemt sich, ihm zu Dank und Ehren sein Lebenswerk und dessen Bedeutung zu bedenken. Dem will diese Stunde zu dienen versuchen. Wir danken Ihnen allen, daß Sie gekommen sind, das mit uns zu tun.

Dabei mag uns zunächst die wissenschaftliche Persönlichkeit als solche vor Augen treten. Mancher ihrer bezeichnenden Züge zeigt schon der Student Elert, der 1906 in Breslau anfing und später unsere Universität und die Leipziger bezog. Er war von Anfang an und ohne Schwanken Theologe. Aber er blickte auch von Anfang an weit über die Grenzen der Theologie hinaus und studierte zugleich nicht nur Philosophie, sondern auch allgemeine Geschichte, deutsche Literaturgeschichte, Psychologie, zuletzt auch Rechtswissenschaft. Ja noch mehr: in dem Lebenslaufe, den er in das Album unserer Universität eingetragen hat, lesen wir über seine erste Studienzeit die erstaunlichen Sätze: „Die reichliche Hälfte meiner Interessen, in manchem Semester auch wohl neun Zehntel, galt in diesen Jahren freilich anderen Dingen. Im ersten Semester studierte ich alle preußischen Generalstabswerke seit dem Siebenjährigen Kriege durch, so daß ich die Geschichte der preußischen Regimenter weit besser kannte als diejenige der alttestamentlichen Heerscharen“. Diese Liebe zur Heeres- und Kriegsgeschichte und ihr genaues Studium hat ihn durch sein ganzes Leben begleitet.[1] Der Schlacht bei Smolensk 1812 widmete er eine aus den Quellen und in Auseinandersetzung mit der Literatur gearbei­tete Schrift, die druckfertig in seinem Nachlaß liegt — während des zweiten Weltkrie­ges gab er in Vorträgen Proben von ihr. Solche Studien, die er nicht dilettantisch, son­dern mit vollem wissenschaftlichen Ernste trieb, waren die noble Passion, in der er sich von seinen großen theologischen Arbeiten erholte.

Die wissenschaftliche Arbeit bedeutete ihm Lebenselement. Elert steckte seine Ziele hoch und weit und sammelte seine Kraft mit bewußter Zucht auf wenige Werke, von denen dann auch jedes ein großer Wurf wurde. Wohl hat er auch Broschüren und kleinere Schriften erscheinen lassen, auch manchen Aufsatz geschrieben, aber im Verhältnis zu anderen doch nicht viele. Er sparte seine Kraft für die Bücher. Natürlich hat er auch manchen Vortrag gehalten, aber auch hier wieder gilt: relativ wenige. Er stellte auch hier an sich die strengsten Anforderungen, schüttelte niemals einen Vortrag aus dem Ärmel, sondern setzte Wochen intensiver Arbeit daran und hielt fast durchweg jeden nur einmal.

Seine wissenschaftliche Begabung war in mehrfachem Sinne ungewöhnlich. Werner Elert ist in gleichem Maße Forscher und Denker, historischer und systematischer Theologe gewesen. Seine historischen Leistungen sind zugleich systematische, und seine Bücher über Dogmatik und Ethik sind gesättigt mit kirchen- und dogmengeschichtlichem Stoff. Mit echter Forscherleidenschaft drang er in die Quellen ein, in einer bewundernswerten Extensität und Intensität. Hier konnte ihm auch das Kleinste wichtig werden. Es reizte und beglückte ihn, ganz Entlegenes und Vergessenes aufzusuchen und aufzudecken — erstaunlich, wie er z. B. in der Festschrift für Bischof Meiser 1951 die Lage der Kirche im Sinaigebiet im 6. und 7. Jahrhundert mit genauester Kenntnis und Auswertung der Quellen ins Licht setzte. Aber alles, auch das Kleinste, fügte sich ihm doch zu einem großen Bilde, und überall wurde der historische Stoff durchdrungen von dem Verstehen und Urteilen eines der Sache hingegebenen Theologen klaren Profils.

Dieses Forscherleben war durch eine starke Dynamik bewegt. Bezeichnend, daß Elert außer einem kleineren Werke, der „Lehre des Luthertums im Abriß“ (1924, 2. verb. u. erweiterte Aufl. 1926) keins seiner Bücher, wenn die Auflage vergriffen war, in neuer Bearbeitung herausbrachte. Er war dann längst bei anderen großen Aufgaben, an der Vorbereitung eines neu­en Buches und nahm sich nicht die Zeit, die älteren, die er doch nicht unverändert abdrucken lassen wollte, — nur bei der Morphologie hat er hier eine Ausnahme gemacht —, neu zu bearbeiten.

Die Bedeutung seiner Bücher ist in erster Linie naturgemäß in ihrem sachlichen Schwer­gewichte begründet, von dem hernach noch einiges Konkrete zu sagen sein wird; aber daneben auch in hohem Maße in ihrer Gestalt und Sprache, in der Durchsichtigkeit des Aufbaus, in der Strenge des Gedankenganges, in der Konsequenz, die durch alles hin­durchgeht. Elert war dazu ein Schriftsteller von hohen Graden. Wie er in seinem Den­ken Realist war, so ist auch sein Stil und seine Sprache nie abstrakt oder langatmig, sondern lebensnah, knapp, oft bildhaft. Ihm gelang manche neue Begriffsprägung, die dann Schule machte. Wie Elert als Theologe überhaupt eine kämpferische Natur war, so blitzen auch in seinen Büchern immer wieder polemische Lichter. Wo er die Wahr­heit, für die er eintritt, verkannt sieht, da kann er zornig Feuer geben und die Waffen des Sarkasmus und der Ironie gebrauchen. Durch alles das ist keine Seite seiner Bücher langweilig oder trocken. Man wird durch den ausgeprägten theologischen Willen, der hinter allem steht, in Atem gehalten. Diese Eigenschaften machten auch den hohen Reiz der Vorlesungen und Vorträge Elerts aus. Und die Dynamik seines eigenen wissen­schaftlichen Arbeitens zog die Begabten unter seinen Schülern in ihren Bann. Sein For­scherblick sah überall neue ungelöste Probleme und Aufgaben, und er verstand es, den Schülern lohnende Themen zu stellen und sie zu begeistern für die Aufgabe theolo­gischer Forschung.

Aus allem, was Elert veröffentlicht hat, ragen — so bedeutend auch einige der kleineren Arbeiten sind — vier große Bücher heraus. Sie erschienen in einem Abstand von jeweils 9—10 Jahren, zwischen 1921 und 1949. Das erste in der Reihe, „Der Kampf um das Christentum, Geschichte der Beziehungen zwischen dem evangelischen Christentum in Deutschland und dem allgemeinen Denken seit Schleiermacher und Hegel“, erwuchs unmittelbar aus der Problematik, die für Elert durch die beiden Räume, in denen er studierte, den theologischen und den allgemein geistig-kulturellen, gegeben war. In sei­nem schon erwähnten Lebenslaufe schreibt er von der letzten Zeit seines Studiums: „Beide Sphären, die spezifisch christliche meines Theologiestudiums und die allge­mein kulturelle, die Denken und Empfinden dauernd beanspruchte, ins Verhältnis zueinander zu setzen, war mir von nun an für ein Jahrzehnt wichtigstes Anliegen.“ Und im Vorworte zu dem Buche heißt es: „Die Vorarbeiten zu diesem Buche ent­standen aus der tief empfundenen Notwendigkeit heraus, Klarheit zu gewinnen über die Stellung des Christentums im allgemeinen Denken der Gegenwart. Ohne diese Klarheit kann es nicht sehr aussichtsvoll sein, im Namen des Christentums zu seiner Zeit zu sprechen, ja nicht einmal, im Namen des Christentums zu andern Christen zu sprechen, denn sie alle haben … doch auch teil am allgemeinen Denken ihrer Zeit“. Diese Klarheit zu gewinnen, durch­leuchtet Elert nun die ganze Geschichte der Beziehungen von Christentum und allgemeinem Geistesleben im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20.: wohlgemerkt nicht nur die theologische Entwicklung, sondern auch die geistigen Bewegungen, die das Christentum kritisierten und ihm absagten, und die Reaktion der Theologen darauf. Ein riesiger Stoff ist dargeboten und verarbeitet — in dieser Hinsicht kommt keine der vorhandenen Theologiegeschichten der Elerts gleich, mit alleiniger Ausnahme des neuen großen Werkes von Emanuel Hirsch, das aber etwa 1870 abbricht. Die Fülle des Stoffes ist geordnet nach sehr bestimmten Gesichtspunkten. Elert sieht im 19. Jahrhundert auf lange Strecken eine Geschichte des Verfalls und der Zersetzung des reformatorischen Christentums, aber auch eine Gegenbewegung, in der die Hoheit und Gewißheit des Christentums wiedergewonnen wurde. Dabei ergibt sich die Diagnose: „Der Protestantismus wurde überall da an den Rand des Untergangs ge­führt, wo man ihn mit der nichtchristlichen Umwelt zu einer Einheit verschmelzen wollte — diese Tendenz kann nur mit dem Verlust der Selbständigkeit des Christen­tums endigen. Die Selbständigkeit und Selbstgewißheit dagegen wurde immer dann zurückgewonnen, wenn man den Abstand von der Umwelt erkannte und, wo es sein mußte, vertiefte.“ Jenes nennt er die Synthese, dieses die Diastase. Nun steht es nicht so, daß hier ein einfaches Entweder-Oder gälte, daß man also durchweg von der christ­lichen Kirche die Haltung der Diastase zu fordern hätte. Vielmehr sind die beiden Haltungen jeweils lebensnotwendig für die Christenheit, als Rhythmus ihres Ein- und Ausatmens der sie umgebenden geistigen Luft. „Diese Pendelbewegung von Pol zu Pol“ — so heißt es mit einem anderen Bilde —, „von der Synthese zur Diastase und umgekehrt macht den charakteristischen Rhythmus aller christlichen Geschichte aus“ (Kampf um das Christentum, 1921 S. 3f.). Aber heute, nach einem Jahrhundert von soviel Synthese, mit einer entchristlichten Umwelt, die das Christentum an den Rand des Unterganges gebracht hat, kann nicht Synthese, sondern muß Diastase die Losung der Stunde sein (a. a. O. S. 6 f.). Die zeitgenössische Kultur — so erklärt Elert, auch unter Berufung auf Oswald Spengler — ist eine versinkende, untergehende. „Je stärker das Christentum seine Distanz von dieser versinkenden Kultur betont, desto geringer die Gefahr, daß es mitversinkt“ (7). „Es gibt in diesem Augenblick für die­jenigen, die von der Christenheit zu ihren Wortführern bestellt sind, nur ein einziges großes Gebot: das Christentum aus den Verschlingungen mit einer untergehenden Kul­tur zu lösen, damit es nicht mit in den Strudel hinabgerissen werde“ (489). „Kann man nach allem, was die Weltgeschichte lehrt, nicht zweifeln, daß auch für unsere Kultur einmal der letzte Tag kommt, so werden die Christen, die aus unsrer Mitte dann übrig sind, gleich jenen Pilgervätern nichts anderes mit hinübernehmen in eine neue Welt als die Bibel unter dem Arm“ (490). Das ist nicht als ein Nein zur Kultur überhaupt gemeint, sondern zur gegenwärtigen. Und dahinter steht die Gewißheit: „Erst wenn das Chri­stentum einmal wieder einen Augenblick ganz einsam, d. h. ganz frei von der gegen­wärtigen Kultur geworden ist, wird es die schon mehr als einmal in seiner Geschichte bewiesene Kraft bewähren, eine neue zu erzeugen“ (490). Man fühlt: dieses gelehrte Buch ist zugleich ein starkes, mit fast prophetischem Akzente in Diagnose und gefor­derter Therapie. Elert rückte durch diese Leistung mit einem Schlage in die erste Reihe der Theologen. Zwei Fakultäten erkannten ihm den Doktorhut ehrenhalber zu — und unser Erlangen berief ihn 1923 als Professor für Kirchengeschichte.

Und doch nahm er selber bald Abschied von dem Buche. Er hat es nicht wieder heraus­gegeben. In seinem Lebenslaufe heißt es: „Neu gewonnene Erkenntnisse und Perspek­tiven weisen in andere Richtung.“ Darin klingt doch ein innerer, sachlicher Abstand mit.

Das neue Thema Elerts entspringt nicht wieder allein einem persönlich erfahrenen Pro­blem, sondern wird ihm zugleich durch seinen Lehrauftrag als Professor gestellt. Er hat einmal über die Folge seiner großen Bücher geäußert, er habe zeigen wollen, daß er auf allen Gebieten, für die sein akademischer Lehrauftrag ihn verpflichtete, rechtschaffen gearbeitet habe. Sein Erlanger Lehrauftrag schloß auch die Konfessionskunde ein. Ihr galt seine Antrittsvorlesung 1923. Er forderte darin als notwendigen Neubau der Diszi­plin: „die neuzeitlichen Kirchen­tümer sind in der ganzen Breite ihrer Wirkungen, auch auf ‚nichtkirchlichen‘ Gebieten zu verfolgen“ (Morphologie des Luthertums, I, 1931, S. V). Ähnlich hatten vor Elert schon Albrecht Ritschl und Kattenbusch die Aufgabe der Konfessionskunde gestellt. Aber in der Durchführung für das Luthertum hatte Elert keinen Vorgänger. Er bot sie in den beiden stolzen Bänden der „Morphologie des Luthertums“, 1931 und 1932.

Er unterscheidet bei seinem Erfassen des Luthertums „Dynamis“ und „Gestalt“, Morphe. Jene ist die Konstante, diese der immer neue geschichtliche Ausdruck, in dem die Kon­stante aufzusuchen, der zugleich an der Dynamis zu messen ist. Jene Dynamis findet Elert — mit einem seiner seitdem weithin rezipierten Termini — in dem „evangelischen Ansatz“. Er versteht darunter das grundlegende lutherische Verständnis der mensch­lichen Existenz, zuerst als „unter dem Zorne Gottes“, sodann unter dem „Evangelium“. Wir erhalten hier ein ungemein starkes Bild dessen, was man in Anlehnung an einen Begriff Elerts[2] das evangelische Pathos nennen kann, Luthers „Urerlebnis“ unter der Verborgenheit Gottes, seine Erfahrung des Evangeliums und den theologischen Aus­druck von beidem. Dabei handelt es sich zwar primär um Luthers Theologie, aber von Anfang an nicht isoliert, vollends nicht um den damals in der Theologie so modischen „jungen Luther“ für sich, sondern Elert nimmt sofort auch die lutherischen Bekennt­nisse hinzu, damit das klassische Luthertum überhaupt: er beurteilt die Bekenntnisse, auch die Konkordienformel, nicht als Verkümmerung Luthers, sondern sieht sie in der Einheit mit ihm. Zugleich übt er aber auch vom evangelischen Ansatz her einschneidende Kritik an der weiteren Theologie des Luthertums, schon an Melanchthon. Die Darstellung bekommt scharfes Profil durch die Absagen, die Elert erteilt: er deckt die Fehler und Schranken in Karl Holls Lutherauffassung stillschweigend auf und über­windet sie, vor allem die Verzeichnung der Rechtfertigungslehre und die Verkennung des propter Christum. Leidenschaftlich wehrt er sich gegen die vor allem auch von der dialektischen Theologie vertretene These, daß Calvin der „treueste Schüler“ Luthers gewesen sei (I, S. 7). Gegenüber der damals weithin vorhandenen Neigung, den theo­logischen Abstand zwischenden beiden Reformatoren möglichst klein zu sehen, betont Elert überall den bis in die Tiefe reichenden Abstand: „Der Ansatz des Luthertums ist mit dem Grundgedanken der Theologie Calvins unvereinbar. Er steht sogar damit in unversöhnlichem Widerspruch“ (I, 357).

Aber die Hauptbedeutung der „Morphologie“, das eigentliche Schwergewicht ihres Ertrages liegt in dem, was dem im engeren Sinne theologischen Teile erst folgt: Elert zeigt erstens die Wirkung des lutherischen Ansatzes auf die Weltanschauung, zweitens seine Entfaltung in den Soziallehren und Sozialwirkungen des Luthertums, dieses bis hinein in das 19. Jahrhundert. Hier weist er Tatsachen und Zusammenhänge auf, die großenteils vor ihm noch nicht gesehen und dargestellt sind. Wieder wird ein schier unübersehbarer Stoff dargeboten und in meisterlicher Durchdringung beherrscht. Da erhalten wir eine Geschichte der Ehe auf lutherischem Boden bis ins 19. Jahrhundert, einen umfassenden Überblick über die Bedeutung des Luthertums für Volkstum und Völker, in Deutschland, in Ungarn und Siebenbürgen, bei den slawischen und baltischen Völkern, in Finnland, im Norden, in Amerika, auf den Missionsfeldern; weiter wird die Stellung und Bedeutung des Luthertums für das Verständnis von Recht und Staat und Politik und schließlich in der Geschichte der sozialen Schichtung und der Wirtschaft aufgezeigt, überall aus den Quellen — eine bewundernswerte Leistung, ein Gesamt­bild, zu dem es vorher nur Ansätze gab, das so bald nicht überholt werden wird. Auch diese Teile des Elertschen Monumentalwerkes haben ihre polemische Front, nämlich vor allem gegen Ernst Troeltsch und Max Weber. Troeltsch hatte Luther mit wesent­lichen Zügen seiner Theologie in das Mittelalter verwiesen, vor allem auch — es sind die schwächsten Partien in Troeltschs „Soziallehren“ — Luther und das Luthertum im Unterschiede von dem Calvinismus für sozialethisch unfruchtbar erklärt, eine These, gegen die schon Karl Holl mit Nachdruck protestiert hatte, die sich aber vor allem bei den Profanhistorikern und in der öffentlichen Meinung über das Luthertum zäh hielt. Durch Elerts Buch ist sie endgültig erledigt, mit einem überführenden Nachweise. Nicht minder Max Webers einseitige Behandlung des Luthertums in seiner Konfessionssoziologie als wirtschaftlich rückständig.[3]

Selbstverständlich sind gegen Elerts Buch auch Fragen und Einwände erhoben worden. Von dialektischer Seite hat man gefragt, ob eine „Morphologie“ einer „Konfession“ überhaupt ein theologisches Unternehmen im strengen Sinne sei; von anderer Seite, ob Elerts Wiedergabe der Theologie Luthers den Reformator überall richtig auslege; oder: ob er das Bild des Calvinismus und Pietismus nicht einseitig gezeichnet habe. Es ist hier nicht der Ort, diese Fragen zu diskutieren. Auch wenn man Schranken in Elerts Darstellung und Urteil sieht, wird man urteilen müssen, daß sein Buch eine überaus bedeutende Selbstdarstellung des Luthertums ist, eine klassische Leistung, doch wohl das größte, was er geschaffen hat. Es wurde von der Kritik einstimmig als ein Meister­werk erkannt, auch von katholischer Seite. Keine Frage, daß es für die theologische und kirchliche Neubesinnung des Luthertums in unserem Jahrhundert einen entschei­denden Anstoß gegeben hat und deren Grundzüge weithin bestimmt.

Schon die „Morphologie“ ist nicht nur ein historisches, sondern zugleich ein systema­tisches Werk, in gewissem Maße selber schon eine Dogmatik, ein theologisches Bekennt­nis Elerts selbst. Schon die geschichtliche Wiedergabe ist mit heißem Herzen geschrieben, mit Liebe und Leidenschaft für Luther und die von ihm begründete Kirche, und zudem wird die Darstellung überall durchblutet und oft ergänzt durch eigene dogmatische und ethische Besinnung vom evangelischen Ansatz her.

Und doch konnte die „Morphologie“ Elert nicht genügen, um die lutherische Theologie für die Gegenwart zu vertreten. Vielmehr, wie er seit 1932, nach dem Tode Ph. Bach­manns, zu seinem alten Lehrauftrage der Dogmengeschichte und Konfessionskunde den für systematische Theologie hinzubekam, ging er auch bald daran, eine Dogmatik und Ethik zu schreiben. Die erstere erschien 1940, in nur wenig ergänzter zweiter Auf­lage 1941; die Ethik 1949. Den beiden Werken war, wie erwähnt, 1924 schon „Die Lehre des Luthertums im Abriß“ vorangegangen, eine kühne, geistvolle Skizze der Dogmatik und Ethik im Ganzen — schon 1925 erschien das Buch in englischer, 1926 in ungarischer Übersetzung. Jetzt aber folgten der Skizze ausgeführte Darstellungen.

„Der christliche Glaube“ ist die erste umfassende Dogmatik auf dem Hintergrunde der neuen theologischen Lage seit dem Weltkriege von 1914—1918. Mit ihrer Grund­haltung steht sie in der Linie der Erlanger Theologie des 19. Jahrhunderts. Zunächst insofern, als Elert wie die großen Erlanger die Gründe für die christliche Wahrheitsgewißheit „ausschließlich dem Christentum selber entnehmen“ will, also unter Verzicht auf alle apologetischen Bemühungen, auf jeden philosophischen Beweis oder doch philo­sophische oder sonstige wissenschaftliche Rechtfertigung des christlichen Glaubens von außen her — er hat hier „das unvergängliche Verdienst der Erlanger Theologie“ gesehen und geurteilt: „Sie hat, in diesem Stück die einzige konsequente Schülerin Schleiermachers, zum Erweis der Notwendigkeit des Christentums stets ausschließlich an die Gewißheit des Christen oder der Christenheit, niemals aber an fremde Instanzen appelliert.[4] Nicht umsonst war Ludwig Ihmels in Leipzig, der bedeutendste damalige Schüler des Erlanger Frank, der dogmatische Lehrer von Elert. Damit ist dann als weiteres Kennzeichen der Theologie Elerts das gegeben, was man heute das „existen­tielle Denken“ nennt: man kann der Wahrheit des Evangeliums nur so gewiß sein, daß man sich persönlich von ihr getroffen weiß, was zugleich bedeutet: „Der persön­liche Einsatz ist für die Erkenntnis (Gottes) grundlegende Voraussetzung“.[5] — Noch ein anderes verbindet Elert mit dem Erlangen des 19. Jahrhunderts; um mit der For­mel Hofmanns, des Erlangers, zu reden: der Wille zu der „neuen Weise alte Wahrheit zu lehren“. Kein Zweifel, daß es Elert um die alte Wahrheit ging: er wollte das luthe­rische Erbe, das er in der „Morphologie“ historisch entfaltet hatte, selber vertreten, und wir müssen ihm bezeugen, daß seine Theologie im Herzen der lutherischen Re­formation wurzelt. Noch mehr, es ging ihm nicht nur um das lutherische Erbe, sondern auch die Theologen der alten Kirche reden in seinem Buche als Zeugen der Wahrheit und Gesprächspartner überall mit. Und doch — „neue Weise“, diese alte Wahrheit zu vertreten: Elert dachte nicht daran, die Theologie des 16. und 17. Jahrhunderts zu repristinieren, sondern fühlte sich der Gegenwart aufs Ernsteste verpflichtet und wollte mit dem Menschen von heute reden. Wir müssen ihm bezeugen, daß, aufs Große ge­sehen, das Erbe der christlichen Denkgeschichte bei ihm in Freiheit und Selbständig­keit zu einer eigenen charaktervollen Gestalt wiedergeboren ist.

Elert lehnte es durchaus ab, daß die Dogmatik ein „Selbstgespräch der Theologie“ sei.[6] Daher setzt er in seinem „Christlichen Glauben“ ein mit einer fesselnden Analyse des „Selbstverständnisses des Menschen von heute“, d. h. unseres eigenen als Menschen ohne Christus, nicht um damit eine Brücke zu schlagen zum Glauben, zum Evangelium — die es nicht gibt — „dem menschlichen Selbstverständnis kann das Zeugnis von Christus nur unvermittelt entgegengesetzt werden“ — sondern um zu zeigen, daß es keins gibt, mit dessen Hilfe man sich der entscheidenden Tatsache entziehen kann, „daß der Mensch sich vor Gott zu rechtfertigen hat“, und daß „jedes mögliche menschliche Selbstverständnis es immer nur mit dem verborgenen Gott zu tun hat“, den man nicht lieben kann.[7] Unter diesem Gesichtspunkte („Das Selbstverständnis des Menschen unter der Verborgenheit Gottes“) durchleuchtet Elert eindringend und unerbittlich wesent­liche Gestalten des modernen Selbstverständnisses.

Dann aber tritt dem Selbstverständnis das Evangelium entgegen. Und hier beginnt die Aufgabe des dogmatischen Denkens. Es ist für Elert kritisches Denken: die Dogmatik hat den „Sollgehalt“ der christlichen Verkündigung „aus seinem tiefsten Grund zu entwickeln“, nämlich von der Tatsache der Person Christi her, und hier nun die kritische Frage zu stellen nach den Bedingungen für das Zustandekommen des Urteils, daß wir in der Person Christi „von Gott selbst getroffen werden“.[8]

Am bedeutsamsten für die damalige theologische Lage wurde Elerts „Christlicher Glaube“ durch seine Frontstellung gegen die Theologie Karl Barths. Als Elert sein Buch schrieb und erscheinen ließ, da lagen von Barths großer „Kirchlicher Dogmatik“ schon zwei gewichtige Bände vor und übten in Deutschland, auch innerhalb der luthe­rischen Kirchen, ihren mächtigen Einfluß aus. Hatte die lutherische Theologie dem nichts entgegenzusetzen? Elerts Buch ist das erste große Gegenwort von lutherischer Seite gewesen. Nicht als ob er zu Karl Barth nur ein Nein gehabt und nichts von ihm gelernt, nichts als mit ihm gemeinsam empfunden hätte: Elert wußte sich selber mit­getragen von der theologischen Welle, die uns alle seit dem ersten Weltkriege erfaßte, ob wir mit Barth gingen oder nicht.[9] Aber an einem entscheidenden Punk­te war er von Anfang an ein unerbittlicher Gegner Barths und seines Gefolges, nämlich da, wo er das Herz der lutherischen Theologie gefährdet sah, das rechte Verständnis von Gesetz und Evangelium. Barth bezeichnete als Prinzip der Theologie „das Wort Gottes“ oder die „Offenbarung Gottes“. Elert sah, daß der allgemeine Begriff „Wort Gottes“ und die „Vorordnung des Offenbarungsbegriffes“ — übrigens schon von der orthodoxen Dog­matik des 17. Jahrhunderts vollzogen, von der Aufklärungstheologie übernommen und in der Gegenwart, auch unter dem Einflüsse Kierkegaards, weitergeführt — zwangsläufig den „Widersatz von Gesetz und Evangelium“, also „das Paradoxon einer in sich zwiespältigen Offenbarung Gottes“ vollkommen überdecken oder vielmehr un­terschlagen mußte, und daß es hierdurch zu einer Koordination von Gesetz und Evan­gelium kam, „die dem Lutherischen Verständnis schroff entgegengesetzt ist“.[10]

An diesem Punkte, an der Klarheit über den Widersatz, den „realdialektischen Gegen­satz“ von Gesetz und Evangelium, lag Elert nicht weniger als alles. Daher mußte er Barths Reihenfolge „Evangelium und Gesetz“ und den Satz Barths „Das Gesetz ist nichts anderes als die notwendige Form des Evangeliums, dessen Inhalt die Gnade ist“ als „fundamentalen Irrtum“ ablehnen. Ihm war durch Luther und die lutherischen Bekenntnisse viel zu unvergeßlich eingebrannt, daß das Gesetz, das uns immer ver­klagt und tötet, nie und nimmer mit dem Evangelium in eins gesehen und gesetzt werden kann. Am stärksten hat er diesen seinen Widerspruch in dem bedeutsamen Vortrage „Gesetz und Evangelium“ von 1948, gedruckt in dem Sammelbande „Zwi­schen Gnade und Ungnade“, ausgesprochen. Er sieht das Gesetz in solchem Maße als Widerspiel des Evangeliums, — „sie sind widereinander wie Tod und Leben“ —, daß er auch den Melanchthonischen Begriff eines „dritten Brauches des Gesetzes“, nämlich im Leben des Christen als beratende, über den Willen Gottes belehrende Instanz, in der Ethik nicht gelten lassen will, ja ihn auch bei Luther und in den Bekenntnissen leugnet. Um das alles geht heute eine lebhafte Diskussion.

Das klare Durchhalten des Gegensatzes von Gesetz und Evangelium ist so sehr das Elert bestimmende Anliegen, daß es auch seine Ethik beherrscht. Er sagt selbst: „Das Verhältnis von Gesetz und Evangelium ist ein Hauptthema dieser Ethik“.[11] Das kommt darin zum Ausdruck, daß er — soviel ich sehe ohne jeden Vorgänger — Gesetz und Evangelium auch zum Teilungsgrunde seines Werkes macht; er unterscheidet das „Ethos unter dem Gesetz“ und das „Ethos unter der Gnade“. So ist sein ethisches Werk im Vergleich mit dem dogmatischen, das im Allgemeinen dem üblichen Aufbau folgt, schon im Aufbau durchaus original. Der Fachgenosse hat hier gewiß Fragen. Aber niemand wird bestreiten können, daß die Eigenart des evangelischen Ethos in Elerts Buche gerade auch kraft dieses Aufbaues besonders scharf zum Ausdruck kommt.

Elert sieht das echte evangelische Verständnis des christlichen Ethos nur in der luthe­rischen Theologie rein gewahrt ohne gesetzliche Überfremdung. Römische und refor­mierte Lehre gehören für ihn an diesem Punkte zusammen: in beiden wird Jesus Christus als Gesetzgeber bezeichnet. Aber Jesus ist nicht Gesetzgeber und nicht in diesem Sinne ist das christliche Bekenntnis zum Königtum Christi zu verstehen — er ist nicht Gesetzgeber, sondern der „Meister“ seiner Jünger. „Die Last, die ein Herr auflegt, drückt die Schultern. Die Last des Meisters dagegen ist leicht zu tragen, weil er selbst mitträgt“.[12]

Die beiden großen systematischen Bücher sind strenge theologische Werke. Aber sie werden zugleich zu einer „eindrücklichen Verkündigung“,[13] zu einem lebendigen Zeug­nis von der Wahrheit und Größe des Evangeliums. Sie sind bei aller Gelehrtheit schöne Bücher. Elerts Kunst der fesselnden, geistreichen, bildhaften Formulierung kommt in ihnen auf die Höhe. Hier ist wirklich der christliche Glaube und das christliche Ethos sehr selbständig, sehr gegenwartsnah, tief, lebendig, werbend, überführend ausge­sprochen, vor allem auch in großer gedankenreicher Knappheit. Als Beispiel sei aus dem Abschnitt der Ethik über die Schönheit der Welt ein Stück wiedergegeben (S. 417f.):

„Zur Zeit Paul Gerhardts und in eingeschränktem Umfang auch noch zur Zeit des Wandsbecker Boten gab es im Abendlande noch eine Gemeinsamkeit des Frohsinns im Anblick der Schönheit der Welt, weil es noch eine Gemeinsamkeit des christlichen Hoffens gab … Das ist heute anders geworden … In dieser Lage haben wir uns darauf zu besinnen, daß der Mensch Auge und Ohr der Schöpfung Gottes und insofern ihre für das Ganze verantwortliche Mitte ist. Wenn die Christen nicht mehr auf Gott hören, auf sein Wort, auf das Wort seiner Aussöhnung mit dem Kosmos, wer oder was in der Welt wird dann noch auf ihn hören? Wenn die Christen kein Auge mehr haben für Gottes Hand in seiner Schöpfung, wer soll oder kann es dann noch haben? Wir hören und schauen stellvertretend für den ganzen Kosmos. Wenn die Christen nicht mehr der Schöpfung froh sein können, weil auch sie keine Hoffnung mehr haben, so ver­schwindet mit der Freude auch die geschaute Schönheit für immer. Die Christen sind die einzigen, die noch ihres irdischen Lebens froh sein können, weil sie als einzige noch eine Zukunft haben … Es gab Zeiten, wo sich die Christen aus der Welt hinaussehnen durften, und sic werden sich wiederholen. Aber in diesem Augenblick, wo der Mensch im Begriff steht, durch eigene Schuld aus der Mitte an den Rand der Welt geschleudert zu werden, in diesem Augenblick heißt es, ausharren im Frohsinn als Zeuge der Schön­heit der Welt Gottes … Wir sind das Ausharren, den Frohsinn, das Lob der Schöpfung um der gesamten Schöpfung willen Gott selbst schuldig. Wir müssen sehen, was wir an seiner Schöpfung verdorben haben. Aber wir sollen auch sehen, was Gott selbst daran schön und herrlich gemacht hat. Es handelt sich in dem Kampf zwischen Stumpfsinn, Trübsinn und Frohsinn nicht um Stimmungen, sondern um die kosmische Stellung des Menschen überhaupt.“

Werner Elert wollte für alle Gebiete, die ihm sein Lehrauftrag zugewiesen hatte, den Beweis erbringen, daß er gearbeitet habe. Durch seine dreißig Erlanger Jahre hindurch war er der Dogmengeschichte verpflichtet. So hatte er vor, auch auf diesem Gebiet seine Forschungen fortzusetzen und zusammenzufassen in einem großen Werke. Dieser Arbeit galt in den letzten Jahren seine ganze Liebe. Er konnte ärgerlich oder doch bekümmert seufzen, wenn Vorträge oder Gutachten, um die er gebeten wurde, ihm die Zeit für diese Studien nahmen. Mit wahrhaft jugendlichem Forscherdrange arbeitete er sich erstaunlich schnell und tief in die Quellen der alten griechischen Dogmen­geschichte ein und gewann eine Vertrautheit mit den Texten und der in ihnen sich spie­gelnden Geschichte, die ihn auch auf diesem Gebiete in Kürze zu einem Gelehrten ersten Ranges machte. Sprudelnd konnte er, bis in die letzten Tage vor seiner Operation, von seinen Entdeckungen erzählen, mit denen er das übliche Bild der Vorgänge erweiterte und korrigierte, aber auch von den ihn bedrängenden weiteren Forschungsaufgaben. Sein Vortrag auf dem Deutschen Theologentage 1950 in Marburg und eine Reihe von Aufsätzen seit eben diesem Jahre gaben uns Proben von dem, was wir von ihm an neuen dogmengeschichtlichen Erkenntnissen noch zu erwarten hatten; nicht zum wenigsten auch sein letztes Buch, in seinem Todesjahre 1954 erschienen: „Abendmahl und Kirchengemeinschaft in der alten Kirche hauptsächlich des Ostens“, in dem er noch einmal mit souveräner Kenntnis und Ausschöpfung der Quellen gutenteils kirchen- und dogmengeschichtliches Neuland erschloß.

In seinem Nachlaß finden sich z. T. eingehende Niederschriften, z. T. Skizzen für das von ihm zunächst geplante altkirchliche Werk. Wieweit sich die einzelnen Bausteine zusammen mit den schon erschienenen Aufsätzen zu einem, wenn auch torsohaften Ganzen fügen lassen, steht dahin. Die theologische Wissenschaft trägt Leid darum, daß es Werner Elert nicht mehr vergönnt war, sein dogmengeschichtliches Werk zu schaffen. Gerade auch in dieser Beziehung bedeutet sein früher Tod für die evangelische Theologie und über sie hinaus einen schweren Schlag. Es wird kein Erlanger Vorurteil sein, wenn wir sagen: in unserer Generation war und ist kein anderer Mann annähernd so gerüstet, die notwendige neue Dogmengeschich­te in evangelischer Sicht zu schreiben wie Elert. Auch für die Dogmengeschichte der Reformation finden sich bei ihm neue Perspektiven, die er aber nur hat andeuten können. Er war wohl einer der besten Kenner Melanchthons und beklagte, daß die Reformationsforschung des letzten Men­schenalters sich nicht mehr viel um ihn gekümmert habe.[14] Was an Darstellungen der Theologie Melanchthons vorliegt, läßt ihn — so sagt Elert — „von Luther beschattet sein“. „Aber die andere Frage, ob nicht umgekehrt Luther auch von Melanchthon theologisch gelernt habe, ist bisher überhaupt noch nicht aufgeworfen, geschweige denn beantwortet worden. Es könnten sich da, wie uns scheint, für die Entwicklung von Luthers Kirchenbegriff, aber auch seiner Lehre von der Rechtfertigung wie vom Ver­hältnis zwischen Gesetz und Evangelium sehr wichtige Aufschlüsse ergeben!“[15]

Von dem wissenschaftlichen Lebenswerke Werner Elerts und von seinen Vorlesungen, Seminaren und Vorträgen ist eine starke Wirkung ausgegangen, nicht nur bei uns in Deutschland, vor allem in der lutherischen Kirche, sondern überallhin, wo es lutherische Kirche gibt. In Ungarn und Jugoslawien, in Skandinavien, in Nord- und Südamerika und Australien werden seine Werke studiert, stehen dankbare Schüler und Freunde von ihm im Pfarramte und akademischen Lehramte. Davon empfängt unsere Fakultät in diesen Monaten einen bewegenden Eindruck durch die Briefe, die Zeichen der Mit­trauer um seinen Tod, die uns aus aller Welt erreichen.

Über alles das hinaus, was die theologische Wissenschaft und die Kirche Elert danken, haben wir Erlanger noch ein Besonderes von ihm empfangen. Die Fakultät: Elert hat sich immer betont als Glied unserer Körperschaft gefühlt und an ihren Beratungen und Aufgaben mit großem Verantwortungsernste teilgenommen, der beste Kenner der Ge­schichte und Tradition unserer Fakultät. Er hatte einen ausgesprochenen Sinn und Gabe für die Führung der Geschäfte und Freude daran. Das hat auch die ganze Uni­versität erfahren, nicht nur an seinem Rektorate, sondern bis in die letzten Monate im Senate. Elert lag auch die Universität als Ganzes, die Gesamtkörperschaft immer am Herzen. Er wachte an seinem Teile über ihrer Würde und ihrem Niveau, über Sach­lichkeit und Gerechtigkeit in ihren Entscheidungen. Er hielt auch darauf, daß seine Fakultät sich, wie an den Geschäften, so auch an den Veranstaltungen und der Ge­selligkeit der Universität rege beteiligte und gab uns darin ein manchen beschämendes Vorbild.

Wir danken Gott dafür, daß wir, die Fakultät, die Universität, Werner Elert durch mehr als ein Menschenalter gehabt haben. Wir sind stolz darauf, daß dieser große Theologe und Lehrer der unsere war, daß sein Name mit dem unseres Erlangen für immer verbunden ist. Sein Werk wird seinen Dienst in Wissenschaft und Kirche auf lange hinaus weiter tun. Gott der Herr wolle es dazu segnen! Er schenke unserer Fakultät und Universität, der theologischen Wissenschaft und der Christenheit auch hinfort immer wieder Forscher und Lehrer voll Geist und Kraft!

Rede bei der Gedächtnisfeier der Theologischen Fakultät in der Aula der Universität Erlangen am 19. Februar 1955.

Quelle: Friedrich Hübner (Hrsg.), Gedenkschrift für D. Werner Elert. Beiträge zur historischen und systematischen Theologie, Berlin: Lutherische Verlagshaus, 1955, S. 400-410.


[1] Vgl. die Aufsätze: „Zur Geschichte des kriegerischen Ethos“ in der Festgabe für Th. Zahn 1928, S. 131 ff. und „Zur Frage des Soldateneides“, Deutsches Pfarrerblatt, 1952, Nr. 13—15.

[2] „Dogma, Ethos, Pathos. Dreierlei Christentum,“ 1920.

[3] Vgl. Morphologie I, S. 357, 364: „… wie vollkommen irreführend es ist, die protestantischen Konfessionen in eine Stufenfolge zu bringen, bei der das Luthertum selbstverständlich noch ganz im Mittelalter steckengeblieben, der Calvinismus dagegen die modernere Konfession sein soll, die allenfalls nur noch vom Schwärmertum überflügelt wird“. — II, S. 492 ff.

[4] „Kampf um das Christentum“, S. 5, 462, 497. „Der christliche Glaube“, S. 63f.; hier das Urteil über „alle apologetischen Künste des neunzehnten und des gegenwärtigen Jahrhunderts, die aus der Lage des Menschen auf die ‚Notwendigkeit einer Offenbarung‘ zu schließen versuchen und die alsdann die christliche Offenbarung als die rechte Ausfüllung der vermeintlich nachgewiesenen Lücke vorführen“.

[5] „Der christliche Glaube“, S. 177, 201.

[6] S. 39.

[7] S. 63, 133.

[8] „Der christliche Glaube“, S. 60 ff.

[9] „Zwischen Gnade und Ungnade“, 1948, S. 94.

[10] „Der christliche Glaube“, S. 139, 162 f., 171. „Zwischen Gnade und Ungnade“, S. 132 ff. Wie die letztgenannte Stelle zeigt, ist an diesem Punkte auch Elerts Kritik an der Barmer Theologischen Erklärung von 1934, vor allem an der These 1 begründet. „Vom Gesetz Gottes ist weder hier noch in den anderen Barmer Thesen die Rede. Es wird, man kann es kaum anders sagen, totgeschwiegen.“ (S. 134).

[11] „Das christliche Ethos“, 1949, S. 36, A. 1.

[12] „Zwischen Gnade und Ungnade“, S. 87.

[13] So G. Heinzelmann in seiner eingehenden Würdigung von Elerts Dogmatik, Theol. Blätter, Febr./März 1942, Sp. 46 ff.

[14] Vgl. den schönen Vortrag über Melanchthon: „Humanität und Kirche“, 1947, gedruckt in: Zwischen Gnade und Ungnade, S. 92 ff.

[15] Auf die Frage, ob nicht auch Luther theologisch von Melanchthon gelernt habe, hat Elert schon 1944 in seinem Aufsatze „Melanchthons Anteil an der deutschen Reformation“ hingewiesen, gedruckt in dem Lehrbrief Nr. 1 der Erlanger Theologischen Fakultät an ihre Studenten im Felde; s. dort S. 9.

Hier der Text als pdf.

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