Ein Himmel, der nach Erde riecht. Predigt zu Micha 4,1-5
Von Jörg Barthel
1 Und es wird geschehen am Ende der Tage,
da wird der Berg des Hauses JHWHs
feststehen an der Spitze der Berge,
und erhaben wird er sein über die Hügel.
Und strömen werden zu ihm die Völker,
2 und viele Nationen werden gehen und sagen:
»Auf! Lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs
und zum Haus des Gottes Jakobs,
damit er uns in seinen Wegen unterweise
und wir gehen in seinen Pfaden!«
Denn von Zion geht Weisung aus
und das Wort JHWHs von Jerusalem.
3. Und er wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern
und Entscheid geben zahlreichen Nationen bis in die Ferne.
Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
und ihre Spieße zu Winzermessern.
Nicht mehr erheben sie, eine Nation gegen die andere, das Schwert,
und nicht mehr lernen sie den Krieg.
4 Und sie werden sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum – und da ist keiner, der (sie) erschreckt.
Denn der Mund JHWH Zebaoths hat (es) geredet.
5 Gehen auch alle Völker, ein jedes im Namen seines Gottes,
so gehen doch wir im Namen JHWHs, unseres Gottes
für immer und ewig.
Amen.
»Amen, ja gewiss!« Wirklich? Der Mund sagt »Amen«, das Herz zweifelt und der Kopf denkt: »Nein«. Wir wissen schon alles – und glauben es doch nicht. Sind die Schwerter je zu Pflugscharen geworden? Wo hat man denn verlernt, den Krieg zu führen? Im Kosovo, in Ruanda, in Tschetschenien etwa oder in Äthiopien? Wo sind die Völker, die auf Gottes Weisung harren? Wo ist der Berg im Zentrum der Welt, an dem sie sich und wir uns orientieren könnten? Fragen über Fragen.
Vielleicht müssen wir von hinten beginnen, wenn wir die große Utopie des Friedens mit unserer Welt verbinden wollen, wenn das Licht des kommenden Tages unsere dunkle Gegenwart erhellen soll: »Auf! Haus Jakobs, lasst uns wandeln im Licht JHWHs!«, heißt es bei Jesaja (2,5). Und bei Micha bekennt die Gemeinde (4,5):
Gehen auch alle Völker, ein jedes im Namen seines Gottes,
so gehen doch wir im Namen JHWHs, unseres Gottes
für immer und ewig.
Hier müssen wir anfangen, wenn das Wort vom großen Frieden für uns Bedeutung bekommen soll. Die Gemeinde Gottes verkennt die Realität nicht. Es ist, wie es ist: Die Völker wandeln im Namen ihrer Götter, heißen sie nun Marduk oder Re, Zeus oder Jupiter, Marx oder Money. Und wir? In wessen Namen gehen wir? Im Namen der deutschen Nation? Im Namen des Marktes? Im Namen der Festung Europa? Im Namen unseres Ego, das feststeht und erhaben ist über alle anderen Egos? Oder ganz fromm und doch ganz und gar heidnisch: im Namen einer religiösen Gemeinschaft, einer Kirche? Nein, sagt die Gemeinde, die Michas Buch liest: Mögen die anderen noch im Namen ihrer Götter gehen, wir gehen schon jetzt im Namen unseres Gottes. Wir lassen uns schon jetzt bestimmen von der Macht des Gottes, von dem in der umwerfenden Verheißung zuvor die Rede war. Wir wissen, dass das Reich Gottes noch nicht da ist, wir lügen uns die Realität nicht zurecht. Wir leben in der Spannung von Licht und Dunkel, von Gegenwart und Zukunft. Aber wir sehen das Licht jener Zukunft schon über unsrer dunklen Gegenwart aufstrahlen, und wir gehen auf dieses Licht zu. Wir sind keine Phantasten, aber wir sind auch keine stahlharten oder windelweichen Agenten der so genannten Realität. Wir lassen es uns nicht nehmen, über die Realität hinauszudenken. Wir stimmen unsere Erwartungen nicht so weit herab, dass alles wohl temperiert wirkt und am Ende bleiben kann, wie es ist. Der Lobpreis des Bestehenden ist nicht unser letztes Wort.1 Wir sind Träumende, weil wir wissen: Wer der Traum von der Zukunft Gottes nicht träumt, der wird die Gegenwart nicht verändern. Wie aber sieht sie aus, diese Zukunft? Schauen wir vom Ende zurück auf den Anfang:
Und es wird geschehen am Ende der Tage,
da wird der Berg des Hauses JHWHs
feststehen an der Spitze der Berge,
und erhaben wird er sein über die Hügel.
»Am Ende der Tage«: Im Hebräischen sind das eigentlich die »hinteren« Tage, die Tage, die uns im Rücken liegen (achar). Das hebräische Zeitbewusstsein ist anders strukturiert als das unsere: Nicht die Zukunft, sondern die Vergangenheit liegt danach offen vor uns, die Zukunft liegt hinter unserem Rücken. Zukunft ist hier die Gegenseite der Erfahrungswelt. Ich denke an die eindrückliche Beschreibung des »Engels der Geschichte«, die Walter Benjamin im Anschluss an ein Bild von Paul Klee gegeben hat: Mit ausgespannten Flügeln wird der Engel vom Wind des »Fortschritts« rückwärts durch die Zeiten getrieben, immer weiter weg vom Paradies. Vor ihm, in der Vergangenheit, häufen sich Trümmer auf Trümmer. Hinter ihm liegt die Zukunft.2 Benjamins Engel vollzieht die Wendung nicht, zu der Mi 4 uns auffordert: die Umkehr zur Zukunft, die nötig ist, wenn das Licht Gottes das Trümmerfeld der Geschichte erleuchten soll.
Was sehen wir dann? Wir sehen einen Berg in der Mitte der Welt, höher als alle anderen Berge. Der Zionberg mit dem Tempel, etwas 800 m hoch, als Mitte der Welt – ist das nicht eine grandiose Selbstüberschätzung? Eine gefährliche Illusion? Der Gedanke liegt nahe. Aber gemeint ist etwas anderes: Der Berg in der Mitte der Welt ist im Glauben der Alten das Symbol der Nähe zu Gott. Er ist der Ort, wo Himmel und Erde sich berühren. Wir können auch sagen: Der Gottesberg markiert den Ort, wo die Welt ist, wie sie am Anfang war und wie sie einmal wieder sein wird (vgl. Jes 11,1-9). Gerade so ist der Gottesberg Gegenwelt zur Welt, wie sie ist. Nur von einer solchen Gegenwelt her fällt Licht in unsere dunkle Gegenwart. Nur eine solche Gegenwelt kann uns Orientierung und Zentrum sein.
Sehen wir den Gegensatz, den jene Umkehr zur Zukunft bewirkt? Nicht mehr die Großgrundbesitzer, die politischen Führer und religiösen Würdenträger und ihr zweifelhaftes Treiben bilden das Kraftzentrum der Welt, sondern der Berg, wo der Himmel die Erde berührt und seine Kraft verströmt. Erst wenn die gefallen sind, die hoch und erhaben sind in ihren eigenen Augen, wird der Blick frei auf den Platz in der Mitte. Diese Mitte wirkt anziehend, sie hat magnetische Kraft:
Und strömen werden zu ihm die Völker,
und viele Nationen werden gehen und sagen:
»Auf! Lasst uns hinaufziehen zum Berg JHWHs
und zum Haus des Gottes Jakobs,damit er uns in seinen Wegen unterweise
und wir gehen in seinen Pfaden!«
Auch dies ist ein Gegenbild: Einst waren die Völker zum Krieg gegen Jerusalem gezogen. Zuerst die Assyrer mit ihrer brutalen Kriegsmacht, später die Babylonier, die Jerusalem und den Tempel in Schutt und Asche legten. Dann die Perser, die Griechen, die Römer … Noch später die Kreuzfahrer, die die Herrschaft des Friedensbringers aus Nazareth im Heiligen Land mit dem Schwert durchsetzen wollten. Ein endloser Zug von Kriegern und Eroberern wälzt sich gegen die Heilige Stadt. Und jetzt: ein Strömen und Fließen ganz neuer Art. Kein Kriegsgeschrei und kein Hufgeklapper. Nach all den Kriegszügen, nach all den Eroberungen, Vertreibungen und erzwungenen Wanderungen: endlich ein Zug des Friedens, der sich freiwillig in Bewegung setzt. A peace train coming …, eine Love parade der besonderen Art.
Was bedeutet dieser Zug für uns, die wir das Wort Michas und Jesajas hören? Was heißt es für uns, im Licht dieser großen Wanderung zu gehen? Wir können die Völker nicht herbeipeitschen, wir können sie nicht zwangsmissionieren. Alle Gewalt versagt, wo es um Gottes Reich geht. Wir können nur bitten und einladen. Wir können den Ort markieren, wo der Himmel die Erde berührt. Wir können die Stadt auf dem Berge sein, deren Licht keinem Menschen verborgen bleibt (Mt 5,14). Wir können der Gerechtigkeit den Weg bahnen und den Frieden ausstrahlen, der auf andere anziehend wirkt. Jerusalem bleibt Jerusalem, Jerusalem wird nicht Babylon oder Rom. Die Kirche bleibt im Dorf, aber sie öffnet sich für alle. Man wird die Tore weit öffnen müssen, wenn die Völkerkarawane ankommt. Man wird Spielraum schaffen müssen, damit alle Platz finden. Einige liebgewordene Bräuche werden weichen, einige Zionslieder umgeschrieben, einige Mauern eingerissen werden, wenn jener bunte Haufen von den Hecken und Zäunen herbeiströmt. Doch auch wenn erst wenige eintreffen, es lohnt sich, schon jetzt damit anzufangen, attraktiv zu werden für die da draußen. Worin besteht denn diese Attraktivität? Was suchen die Völker in Jerusalem?
Denn von Zion geht Weisung aus
und das Wort JHWHs von Jerusalem.
Und er wird Recht sprechen zwischen vielen Völkern
und Entscheid geben zahlreichen Nationen bis in die Ferne.
Weisung geht aus vom Zion, das Wort JHWHs von Jerusalem. Anziehung und Anweisung, offene Türen und ein klares Wort, das ist hier gerade kein Gegensatz. Denn die Völker warten auf Weisung, sie harren auf Gerechtigkeit; sie warten auf einen, der ihnen das Recht bringt:
Er selbst wird nicht verlöschen und nicht zerbrechen,
bis er auf Erden das Recht aufrichte;
und die Inseln warten auf seine Weisung (Jes 42,4).
Die »Weisung vom Zion« – was ist das? Weisung, »Tora« ist zunächst etwas sehr Einfaches: eine Entscheidung im Einzelfall, ein Schiedsspruch, der Streit schlichtet. Die Utopie kommt uns hier sehr nahe, sie wird ganz realistisch: Der große Weltfrieden beginnt dort, wo Streit geschlichtet wird. »Frieden fängt beim Frühstück an«, heißt ein Gedicht von Hanns Dieter Hüsch. So einfach ist das – und doch so schwierig. Denn es gelingt nur, wenn die Schlichtung auch akzeptiert wird, wenn die Parteien den Spruch annehmen. Gerechtigkeit entsteht nur dort, wo nicht jeder Recht behalten will. Nur eine Gemeinde, die das lebt, kann Stadt auf dem Berge sein.
Tora ist aber noch mehr als die einzelne Weisung: Tora ist die heilsame Lebensordnung Gottes im Ganzen. Tora ist eine Struktur des Lebens, die Grenzen setzt und dadurch Freiräume eröffnet. Mit den Worten des Deka- logs: »Keine anderen Götter« – aber du brauchst sie auch nicht, lass die Götter sein und kümmere dich um die Welt. »Den Namen Gottes nicht missbrauchen« – aber du musst auch nicht bei jeder Gelegenheit den Gottesnamen wie eine magische Formel im Mund führen. »Den Sabbat heiligen« – aber du darfst ruhen von deiner Arbeit, du musst dich nicht jeden Tag durch deine Leistungen verwirklichen. Tora ist Eröffnung von Freiheit durch Begrenzung. Das hat wenig zu tun mit dem protestantischen Klischee der alttestamentlich-jüdischen Gesetzlichkeit. Und doch weiß auch das Alte Testament, dass die Grenzen immer wieder überschritten werden, dass die Kraft zum Vollbringen gering ist. Darum erwartet Jeremia eine Tora, die dem Menschen ins Herz geschrieben ist. Darum erwartet unser Text, dass alle Völker sich freiwillig auf den Weg Gottes begeben: getrieben von ihrer Sehnsucht nach Frieden und zugleich magisch angezogen von dem Ort, von dem dieser Friede ausstrahlt.
Das Recht der Tora ist die Wurzel des großen Friedens:
Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
und ihre Spieße zu Winzermessern.
Nicht mehr erheben sie, eine Nation gegen die andere, das Schwert,
und nicht mehr lernen sie den Krieg.
Ein wunderbares Wort, oft gehört und viel zitiert. Gerade deshalb sollten wir neu hören, was hier eigentlich gesagt wird. »Keine realpolitische Möglichkeit und jedenfalls nicht für uns gedacht« – so lautet der Einwand, mit dem wir schnell bei der Hand sind, allzu schnell, wie ich meine. Ich möchte den Spieß (in diesem Fall eine nahe liegende Wendung) darum bewusst einmal umkehren. Es ist richtig: Wir blicken auch hier in eine Gegenwelt, aber in eine Gegenwelt, die den Realitäten des Lebens ganz nahe kommt.
Das Wort von der Völkerwallfahrt lehrt keinen faulen Frieden, der auf Kosten der Gerechtigkeit geht. Der Friede, um den es geht, ist auch nicht eine bloße Gesinnung oder ein Gefühl. Der Friede ist Folge des richterlichen Schiedsspruches, der die Konflikte zwischen den Völkern beendet, so wie er den sozialen Frieden im Inneren wiederherstellt. Das Wort ist hier sehr realistisch: Es weiß, dass ohne Gerechtigkeit kein wirklicher Friede möglich ist. Wenn Gerechtigkeit und Friede sich nicht küssen (Ps 85,11), wird die Friedenstaube schnell lahme Flügel bekommen. Das bedeutet nicht, dass der Krieg zum Normalfall erklärt würde. Aber es bedeutet: Gerechtigkeit ist notwendiges Moment eines Friedens, der seinen Namen verdient (vgl. Jes 32,17).
Weiter heißt es: »Sie werden den Krieg nicht mehr lernen«. Krieg ist kein Schicksal, Krieg wird gelernt. Natürlich gibt es Aggressivität im Menschen – naiv, wer glaubte, das wäre erst eine Erkenntnis der modernen Psychologie. Aber richtig ist auch: Man kann Kriege nur führen, wenn man sie lernt. Man muss es von früh an lernen, sein Reservat zu verteidigen: »Wir hier drinnen, die da draußen«. Man muss lernen, dass Gewalt sich lohnt. Man könnte aber auch lernen, Nein zu sagen. Man könnte dort Nein sagen, wo der Hass gesät wird, aus dem später der Krieg keimt. In diesem Lernprozess sollten wir auch den jeweils zweiten Teil der Wendungen »Schwerter zu Pflugscharen« und »Spieße zu Winzermessern« nicht überhören. Keine Waffen, aber Pflüge und Winzermesser – das ist ein bescheidenes Ideal, das Ideal einer Gesellschaft von Kleinbauern. Aber es enthält doch eine tiefere Einsicht: Die aggressive Energie, der Drang, die Welt zu verändern, wird nicht geleugnet. Aber diese Energie wird umgeleitet und umgewidmet. Oft ist es umgekehrt, bis in die Konflikte unserer Zeit hinein: Wer zum Schwert greift, flieht vor dem Pflug. Auch im übertragenen Sinne. Wie viele Männer fliehen vor dem Alltag der Familie in die großen Aufgaben in Wirtschaft und Politik oder auch in der Kirche? Wie oft ist der Einsatz für die große und wichtige Sache eine Flucht vor den kleinen Dingen, an denen sich das Leben entscheidet? Das »männliche Spiel« (Kurt Marti) entlastet von den Aufgaben des Alltags. Der Michatext kehrt die Prioritäten um:
Und sie werden sitzen, ein jeder unter seinem Weinstock
und unter seinem Feigenbaum – und da ist keiner, der (sie) erschreckt.
»Wie ist es im Himmel?«, fragen die Kinder. Und oft sind sie enttäuscht, wenn sie von goldenen Gassen und endlosen Gottesdiensten hören. Ich verstehe die kindlichen Zweifel sehr gut. Micha 4 zeigt uns einen anderen Himmel, einen menschenfreundlichen Himmel, fast möchte man sagen: einen alttestamentlichen Himmel. Einen Himmel, der nach Erde riecht. Einen Himmel, der das kleine Glück der Menschen nicht verachtet, sondern ernst nimmt und ihm Glanz gibt. Ein solches Glück ist in der Tat »utopisch«, ortlos in der Welt der großen Politik – aber ist es deshalb weniger lebensnah als die Spekulationen der Grundbesitzer und die Strategien der Feldherren? Ist die Sehnsucht der Frauen in Tschetschenien und anderswo, ihre Kinder in Ruhe aufziehen zu können, weniger realistisch als die blutigen Spiele der Generäle, die sich am Großen berauschen, um dem Kleinen zu entfliehen? Äcker pflügen und Wein anbauen – das ist vielleicht noch nicht der Himmel im endgültigen Sinne, aber es ist der Vorschein eines Himmels, in dem unser Leben in seiner Alltäglichkeit und Schwäche seine Würde erlangt.
Es ist wahr, Gottes Welt ist noch nicht da, sie ist Gegenwelt bis zu dem Tag, wo Gott alles in allem sein wird. Aber wir erblicken Spuren und Funken des großen Lichts in unserer Welt: Überall da, wo wir Streit schlichten, wo wir dem einfachen, ungestörten Leben der Menschen »unter dem Feigenbaum« seine Würde geben, da findet jene Berührung von Himmel und Erde statt, von der die alten Lieder vom Gottesberg sangen. Solche Orte wirken anziehend. Darum lasst uns schon jetzt damit anfangen. Lasst uns gehen »im Namen unseres Gottes«, den Weg Jesu als Beispiel vor Augen. Gottes Welt kommt, und sie kommt als eine menschenfreundliche Welt. Der Kabarettist Hanns Dieter Hüsch hat diesen menschenfreundlichen Himmel einmal in einem Gedicht mit dem Titel »Utopie« beschrieben, das den alttestamentlichen Bildern der Hoffnung sehr nahe kommt:
Ich seh’ ein Land mit neuen Bäumen.
Ich seh’ ein Haus aus grünem Strauch.
Und einen Fluß mit flinken Fischen.
Und einen Himmel aus Hortensien seh’ ich auch.
Ich sehe ein Licht von Unschuld weiß.
Und einen Berg, der unberührt.
Im Tal des Friedens geht ein junger Schäfer,
der alle Tiere in die Freiheit führt.
Ich hör’ ein Herz, das tapfer schlägt,
in einem Menschen, den es noch nicht gibt,
doch dessen Ankunft mich schon jetzt bewegt.
Weil er erscheint und seine Feinde liebt.
Das ist die Zeit, die ich nicht mehr erlebe.
Das ist die Welt, die nicht von uns’rer Welt.
Sie ist aus feinstgesponnenem Gewebe,
und Freunde, seht und glaubt: sie hält.
Das ist das Land, nach dem ich mich so sehne,
das mir durch Kopf und Körper schwimmt,
mein Sterbenswort und meine Lebenskantilene,
daß jeder jeden in die Arme nimmt.
Amen.
1 Ein Virtuose solcher Temperierung ist der Philosoph Odo Marquard (vgl. exemplarisch: Abschied vom Prinzipiellen [rub 7724], Stuttgart 1981, 1995). Ganz ohne schrille Töne geht allerdings auch der Abschied vom Prinzipiellen nicht vonstatten. Sie richten sich gegen alle, die in den Lobpreis der zweitbesten aller Welten nicht aus vollem Herzen einstimmen mögen. Auf diese Weise gelingen Marquard allerlei gedankliche Kunststücke, etwa den ökologischen Landbau als funktionales Äquivalent des Krieges auszuweisen.
2 Vgl. W. Benjamin, Über den Begriff der Geschichte, in: ders., Illuminationen. Ausgewählte Schriften (stw 345), Frankfurt 1977, S. 251-261, dort S. 255.
Prof. Dr. Jörg Barthel war bis vor kurzem Inhaber des Lehrstuhls für Altes Testament an der Theologischen Hochschule Reutlingen (THR).
Quelle: Theologie für die Praxis 26 (2000), Nr. 1, S. 62-78.