Von Arnold Angenendt
Das Opfer ist ein Erstakt aller Religion. Menschen opfern Gott/Göttern, weil sie mehr als das Menschenmögliche erreichen wollen, nämlich solches, was nur Mächtigere zu geben vermögen: Erntesegen, Gesundheit, Schutz vor Unglück, Erhalt und Steigerung des Lebens, letztlich ewiges Leben. Was alles der Mensch von sich aus nicht vermag, aber doch als wesentlich für sein Leben ansieht, dafür opfert er; sogar das Kostbarste wird dargebracht, nämlich Menschenopfer. Kult und Ritus werden dabei nicht nur im Wert des Geopferten, sondern auch in der Subtilität des Ablaufs höchstmöglich gesteigert. Insofern haben es Opfer immer mit Aufwand und Kunst zu tun: das Kostbarste in der verfeinertsten Form.
Die zentrale Stelle allen Opferkults bildet der Altar, welcher als göttlicher Ort unter den Menschen gilt. Was auf den Altar gelegt wird, ist der göttlichen Sphäre überstellt, gehört nicht mehr den Menschen, füllt sich vielmehr mit heiliger Kraft von oben. Während manche Opfergaben den Menschen für immer entzogen werden, weswegen man sie bei der Opferung unbrauchbar macht und verbrennt, kehren andere Gaben, nunmehr verwandelt und mit göttlicher Kraft aufgeladen, in den Lebenskreis der Menschen zurück, etwa das Opferfleisch als göttliche Speise für die Kultgemeinde oder die auf den Altar gelegten Nahrungsmittel zur Bestärkung der Lebenskraft. Ebenso allgemein ist die Praxis des Erstlingsopfers, das in vielen Religionstraditionen sowohl Ernte wie Vieh wie auch Menschen betrifft: Jeweils das erste, das Gott gegeben hat, soll ihm wieder zurückgegeben werden, um den Kreislauf des göttlich-menschlichen Gebens und Nehmens in Gang zu halten.
Gerade beim Opfer ist eine „Religionsentwicklung“ vorauszusetzen. Als Beispiele sind die Opferkritik der alttestamentlichen Propheten und der griechischen Philosophen zu nennen. Ihre Kritik zielte auf Spiritualisierung. Das Christentum übernahm das Opfer als thysía logiké, als geistiges Opfer. Diese Opferauffassung umfaßte zwei Wurzeln: sowohl eine griechische, derzufolge es um die unbedingte Durchsetzung der Wahrheit ging, wie auch eine israelitische, derzufolge es um das Hören des Gotteswortes ging, obendrein noch um die Fürsorge der Armen. Das Urbild des Opfers sahen die Christen im Selbstopfer Jesu Christi, nämlich wie er sich hinzugeben für das Wort Gottes, für die Sühne der Sünden und noch für das Wohl der Armen. Dieses Opfer sollte aus Liebe dargebracht und auf dem Altar des Herzens vollzogen werden, also ein geistiges Opfer sein. In der christlichen Opferliturgie, der Eucharistie, vereinten sich diese Elemente und Forderungen zu einer kultischen Feier: Hören und Bezeugen des Gotteswortes, Anteilhabe (communio) am Opfertod Jesu Christi und Fürsorge für die Armen. In diesem Opfer erfuhren die Christen ihre Heiligung und dafür dankten sie. Das wollte auch die Bezeichnung „Eucharistie“ ausdrücken: das wahre christliche Opfer als „Opfer des Lobes“ (sacrificium laudis).
Die Eucharistiefeier umfaßte zwei Teile: Wort und Opfer. Der erste Teil, der „Wortgottesdienst“, hatte ein so einfaches wie klares Schema, nämlich lectio und oratio: Gott spricht, und der Mensch antwortet. Im liturgischen Ablauf war es das Verlesen des Gotteswortes, daraufhin die Beherzigung des Gehörten und zuletzt das antwortende Gebet. Die Lesungen entstammten der Bibel, sowohl dem Alten wie dem Neuen Testament. Ihre Auswahl wurde bald festgelegt und verband sich mit dem Jahreskreis, mit Weihnachten, Ostern, Pfingsten, weiter mit den einzelnen Sonntagen und den Heiligenfesten. Dafür gab es besondere Bücher, die Lektionarien. Die vorgelesenen Bibelabschnitte zu verstehen und zu beherzigen, diente die Auslegung in der Predigt. Diese bildete das freieste Element der ganzen Liturgie, blieb selbstverständlich an das Gotteswort gebunden, wurde vorgetragen aus persönlicher Bezeugung. Im Übergang zum Mittelalter war Gregor der Große († 604) der letzte bedeutende Prediger-Papst. Wie aber sonst in den Kathedralen und Klöstern, wie gar auf den Dörfern gepredigt wurde, läßt sich kaum ausmachen. Die karolingische Kirchenreform verlangte eine „richtige“ und „ehrbare“ Predigt, um dem Volk nichts Ungehöriges und Falsches zu sagen, nicht Dinge, die nach eigenem Sinn erfunden waren oder der Heiligen Schrift nicht entsprachen. In Wirklichkeit war die Predigt wohl oft nur das Vor- und Nachsprechen des Glaubensbekenntnisses und des Vaterunsers, jener zwei schon bei der Taufe geforderten Grundtexte. Wieweit diese mit ihren dogmatischen Aussagen wirklich verstanden wurden, steht dahin; zitiert wurden sie wohl mehr als gottgefällige Formeln zur Erlangung des Gottesschutzes und zur Abwehr der Unheilsmächte. Nicht selten wird die Predigt religionspraktisch gewesen sein: daß die Taufe das Kind am Leben erhalte, die Kommunion das Wohlergehen stärke, die Buße vor der Hölle bewahre, die Krankensalbung den Tod fernhalte, die Berührung der Reliquien Heilung bewirke. Auf die Predigt folgte als Antwort auf das vernommene und bedachte Gotteswort das Allgemeine Gebet. Es trug Bitten vor, die weniger von persönlicher Art als vielmehr von öffentlichem Belang waren: für Kirche und Obrigkeit, für die Bedrängten und die Armen, für die Lebenden und die Toten.
Der zweite Teil der Eucharistie war „das Opfer der Hingabe“. Hier feierte die frühe Christenheit ihr Dankopfer für die Anteilhabe am Heilswerk Jesu Christi und vollzog dabei das Selbstopfer: „Darzubringen eure Leiber [= euch selbst] als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer, als euren vernünftigen Gottesdienst (logikè latreía)“ (Röm 12,1). Es begann mit der Darbringung der Gaben, wobei Brot und Wein für die Kommunion ausgesondert und das übrige an die Armen ausgeteilt wurde. Das eigentliche Opfer geschah im feierlich gesungenen Hochgebet, in dem sich Jesus Christus vergegenwärtigte und wobei die Mitfeiernden sich mit ihm wie einstmals die Jünger zum Abendmahl versammelten, sich dann in der Kommunion den gekreuzigten und erhöhten Herrn „einverleibten“, so daß sie zusammen den „Leib des Herrn“ und dadurch den „Leib der Kirche“ bildeten. Zu realisieren war dieses in Jesus Christus vollzogene Selbstopfer als Zeugnisbereitschaft für das Gotteswort und als Sozialtätigkeit für die Armen. Erhofft wurde dabei der Übergang vom Tod zum ewigen Leben.
Zum Mittelalter hin vollzogen sich mehrere bedeutsame Veränderungen. Die Eucharistie wandelte sich zur Messe, verlagerte den Akzent vom Dank zur Bitte. Die Feier galt fortan hauptsächlich als ein „Segen“, wie es das vom Schlußsegen der Eucharistie, dem „Ite missa est‘“ abgeleitete Worte „Messe“ besagt. Infolgedessen wurde die Meßfeier als ein Mittel erachtet, von Gott Segen und Heil zu erflehen, auch Versöhnung zu erlangen und überhaupt alle mögliche Hilfe zu erbitten. In der ältesten Handschrift des gelasianischen Sakramentars aus der Mitte des 8. Jahrhunderts gibt es Meßformulare für Reisende, zur Erlangung von Liebe und Eintracht, gegen Beunruhigung und Tumult, bei Sterblichkeit und Viehseuchen, für Regen oder Sonnenwetter, am Geburtstag und mehr noch für den Sterbetag, bei Unfruchtbarkeit einer Frau oder bei Ablegung des Keuschheitsgelübdes einer Witwe, für den Frieden und in Kriegszeiten, für die Könige, gegen schlechte Richter, gegen Aufsässige, für die Bekehrung der Ungläubigen, für die Genesung der Kranken und so fort; für schlechthin alles war die Messe gut. Die sogenannte „Privatmesse“, die nicht mehr primär „öffentliche“ Bitten, sondern „private“ vorbrachte, setzte sich endgültig durch.
Wie die Messe fürbittend (impetratorisch) wirkte, so auch sühnend (propitiatorisch): Messen konnten zur Abbüßung von Sünden gefeiert werden und ließen sich dabei mit bestimmten Zeiten des Bußfastens verrechnen. In den frühmittelalterlichen Bußbüchern finden sich entsprechende Umrechnungen: eine Messe für zwölf Fasttage, zehn Messen für vier Monate, 20 Messen für sieben Monate und 30 Messen für ein ganzes Jahr. Längere Bußzeiten erforderten Hunderte und bei einer Mehrzahl von Büßern sogar Tausende von Messen. Wie aber die Messe zur Bußabkürzung bei Lebenden angerechnet wurde, so auch für die Verstorbenen als Arme-Seelen-Messen. Die Erfüllung der Bitten stand vornan, nicht mehr die Kommunion, das Eingehen in das Opfer Jesu Christi.
Endlich änderte sich die Häufigkeit. Hatte die Alte Kirche nicht regelmäßig eine tägliche Meßfeier gekannt, so konnten nun Priester, sofern gewünscht, an ein und demselben Tag bis zu 20 Messen feiern. An solchen Zahlen wird deutlich, daß die Messe gar nicht mehr als „Selbstopfer“ gefeiert werden konnte. Sie war ein heiliger Ritus, der exakt einzuhalten war und aufgrund des vergegenwärtigten Opfers Jesu Christi mit jeder Zelebration ein Stück Heilsgnade erbrachte. Noch spätmittelalterliche Auflistungen und Merkverse preisen die Segnungen der Messe, mahnen freilich von neuem zur persönlichen Mitfeier: Wer die Messe höre, vermehre den Glauben, stärke die Hoffnung, gebe dem Nächsten ein gutes Beispiel, bringe das Leiden des Herrn in Erinnerung, verliere währenddessen keine Zeit, erhalte die Gesundheit wieder, schütze sich vor plötzlichem Tod, erwirke Ablässe, erwerbe Verzeihung der Sünden, bekehre zuweilen große Sünder, befreie Seelen aus dem Fegefeuer. Immer noch steigerte sich die Meßhäufigkeit zu Hunderten, ja Tausenden, dargebracht in allen erdenklichen Anliegen, vor allem für die Armen Seelen, sogar, um bestimmten Menschen den Tod zu wünschen („Totbeten“). In jeder Gemeinde sollten möglichst täglich Messen gefeiert werden; denn – so die Begründung in zahlreichen Stiftungs- und Kirchenurkunden – die Feier einer Messe bewirke mehr als alles flehentliche Gebet sonst. In der Frage, ob eine Messe, wenn für zwei Personen gefeiert, dem einzelnen weniger erbringe als dieselbe Messe für nur eine Person, obsiegte das Zählen und darum die vielen Messen.
Wie die Messe als Ganzes für alle möglichen Anlässe gefeiert wurde, so gab es im Meßverlauf noch besondere Stellen, die speziell genutzt werden konnten. Das Heiligste der Messe war das Hochgebet, zumal der nach der Präfation einsetzende „Kanon“ und mitten darin die Abendmahlsworte als die sacratissima verba Jesu Christi. Den Kanon zu sprechen galt nunmehr als Vorrecht der Priester, die nicht mehr zusammen mit den „Umstehenden“ (circumstantes), sondern stellvertretend für sie beteten. Der Priester allein trat in das „Allerheiligste“ der Meßfeier ein, und die Abendmahlsworte galten als „gefährliches Gebet“ (oratio periculosa), die falsch auszusprechen schwere Buße erforderte. In dieses „heilige“ Hochgebet waren schon in der Spätantike Bitten eingeschoben worden für Kirche und Klerus, für Lebende und Tote, die alle aber der Priester nun allein und leise sprach. Noch die während des Kanons zu machenden Kreuzzeichen (eigentlich Hinweiszeichen auf die Gaben von Brot und Wein) avancierten zu gnadenmächtigen Segenszeichen, bei denen zum Beispiel Kranke geheilt und Besessene exorzisiert wurden.
Wegen des Bitt- und Sühnecharakters, der nun die Messe beherrschte, verstärkte sich die Opferlogik: Denn wer erbittet, muß zuvor geben. Das höchstmögliche Opfer geschah im Hochgebet: Brot und Wein erfuhren hier eine Konsekration und verwandelten sich zu Leib und Blut Jesu Christi, die der Priester Gott dem Vater darbrachte, und diesem Opfer seines Sohnes konnte Gott sich nicht entziehen. Weil es wirklich Leib und Blut des Gottessohnes waren, durfte man auf sichere Erhörung hoffen. Bei dieser neuen Deutung erfuhren die Opfergaben von Brot und Wein eine stärkere Hervorhebung. In frühchristlicher Zeit war es nur ein Bereitstellen gewesen, was keinen rituellen Akt ausmachte und auch keine religiöse Wertigkeit einschloß. Dennoch hatte jeder Teilnehmer Gaben mitzubringen, vor allem für die Armen. Mehr und mehr wurde dieses Darbringen als religiöses Opfern gedeutet: In jeder Messe mußten Gaben dargebracht werden, wenn die vorgebrachten Bitten erfüllt werden sollten. Das ehemals rein technische Herbeibringen von Brot und Wein erhielt nun die Wertigkeit eines Opfers, sogar nach Maßgabe eines do ut des: Wer in der Messe sein (materielles) Opfer darbrachte, durfte von Gott eine gnadenhafte Wiedergabe erhoffen. So begann die ursprünglich primäre immateriell-geistige (Selbst-)Hingabe der materiellen Gabe zu weichen. In jeder Messe sollte geopfert werden, natürlich geistig, aber in Wirklichkeit doch auch materiell, denn ohne Darbringung der materiellen Gaben war keine Meßgnade zu erwarten. Paradoxerweise folgte dabei als weiterer Entwicklungsschritt das Verbot für Laien, ihre Gaben selber darzubringen. Seit karolingischer Zeit durften diese wegen ihrer „unreinen Hände“ nicht mehr persönlich am Altar opfern. Waren zuvor das zur Feier notwendige Brot wie der Wein aus den von zu Hause mitgebrachten Gaben ausgesondert worden, so stellte man nun für das eucharistische Brot spezielle, münzengroße Weißbrotscheiben (Hostien). Die weiterhin mitzubringenden Opfergaben wurden fortan in Naturalien, Sachgütern oder zunehmend in Geld gespendet; auf diese Weise entstand die Geldkollekte. Das verstärkte die Kommerzialisierung, bildeten doch die Geldgaben einen wesentlichen Teil der Kirchen- und Kleruseinkünfte.
All diese Veränderungen gingen einher mit einer Klerikalisierung. War das geistige Opfer der altkirchlichen Eucharistie so verstanden worden, daß zwar Kleriker die liturgische Leitung innehatten, jedoch alle, Kleriker wie Laien, sich gleicherweise an das Opfer Jesu Christi anschlossen und so ihr geistliches Mitopfer vollzogen, traten seit dem Frühmittelalter die Priester als Erstopfernde hervor. Sie waren es jetzt, die das Meßopfer für die Gemeinde oder für bestimmte Personen wie auch in einzelnen Anliegen, ja sogar allein für sich selbst darbrachten. Der Priester konnte die Messe nun ohne Gemeinde feiern, hatte indes das von den Gläubigen ihm angetragene Anliegen bei der Opferung des Leibes und Blutes Christi vor Gott zu bringen. Als Entgelt wurde ihm zu seinem Lebensunterhalt ein Geldbetrag gezahlt, das Meßstipendium, das ihn verpflichtete, die in besonderen Anliegen versprochenen Messen zu feiern. Praktisch wurde daraus ein Bestellen und Bezahlen von Messen, ein Sich-Einkaufen in himmlische Gnaden, mittels Stiftungen sogar für ewige Zeiten. Wohl wurde diese Praxis im 12. und 13. Jahrhundert kritisiert und die neuen Orden der Franziskaner und Dominikaner lehnten die bezahlten Messen zunächst ab. Thomas von Aquin († 1274) aber betrachtete die gespendeten Gelder als Almosen und legitimes Entgelt für geistlich-religiöse Tätigkeit. Die Meßbesteller, die bei der Feier selber meist nicht anwesend waren und sich folglich nicht im geistlichen Opfer „mitopferten“, erhielten gleichwohl die „Meßfrüchte“ zugerechnet.
Wie die Praxis das Postulat der möglichst häufigen Feier zu bewältigen hatte, so die Theologie das Problem des Opfers und besonders das der Verwandlung von Brot und Wein in Leib und Blut Jesu Christi. In der Frage der Wesenverwandlung glaubte man nunmehr Jesu historisch-identisches Fleisch und Blut gegenwärtig. Die realistische Betonung von „Opferfleisch“ und „Opferblut“ führte zum ersten mittelalterlichen Eucharistiestreit zwischen den beiden Corbienser Mönchen Paschasius Radbertus († 859) und Ratramnus († nach 868). Davon aber, daß es – wie Paschasius Radbertus behauptete – identisch das Fleisch und Blut des Kreuzesopfers sei, distanzierte sich die scholastische Transsubstantiationslehre als allzu groben Realismus: Die Verwandlung vergegenwärtige selbstverständlich Leib und Blut Jesu Christi, aber nicht in bluttriefender Weise, sondern in jener verklärt-vergeistigten Form, wie sie Christi Auferstehungsleib im Himmel besitze. Gleichwohl stand allgemein die Verwandlung zur blutenden Hostie und deren Darbringung im Meßopfer im Mittelpunkt. Wunderbar blutende Hostien, wie sie beispielsweise zu Wilsnack in Brandenburg gezeigt wurden, erhielten massenhaften Zulauf. Daß bei der Messe ebendieses Fleisch und Blut des Gottessohnes geopfert wurde, galt als Erstes, nicht der Kommunionempfang, der meist nur zur Osterzeit stattfand, wie ihn das 4. Laterankonzil 1215 als Minimum vorgeschrieben hatte. Daß überhaupt nur noch selten kommuniziert wurde, rührte wiederum aus Reinheitsvorstellungen, daß die Laien „unreine Hände“ hätten und sich zurückhielten; auch wurde ihnen jetzt die Kommunion nicht in die Hand gegeben, sondern auf die Zunge gelegt und ihnen der Kelch überhaupt vorenthalten.
Statt des „materialisierten“ und „magischen“ Meßverständnisses propagierten im Spätmittelalter die wahrhaft Geistlichen eine radikal spiritualisierte Deutung. Ein einziges Gebet/einziger asketischer Akt, sofern nur vor Gott in Andacht und Ergebenheit vollzogen, zählte ihnen mehr als eine Tausendzahl, was man auch auf die Messe übertrug: Eine, in Andacht gefeiert, bedeutete mehr als viele. Zuletzt konnte daraus die Konsequenz gezogen werden, Gott sei es genehmer und den Menschen nützlicher, die vielen Messen zusammenzunehmen. Obendrein entwickelte sich eine Form von „geistlicher Kommunion“. Gestützt auf das Augustinus-Wort: „Glaube, und du hast schon gegessen“, konnte man sogar auf reales Kommunizieren verzichten, zumal Jesus sich den wirklich Glaubenden oft visionär zeige und sie geistlich speise. Der spätmittelalterlichen Devotenfrömmigkeit ist es zu verdanken, daß sie das bei jeder Meßfeier angemahnte Selbstopfer wieder allgemein bewußtmachte. Thomas a Kempis zufolge wollte Jesus „nicht dein Geschenk, ich will dich“.
Die mittelalterliche Messe verstand sich als zentraler Religionsakt. Sie bildete sowohl den wichtigsten wie den häufigsten Kultakt. Zugleich aber hatte die Messe besondere „gemeindliche“ Auswirkungen. Regelmäßig wurde sie an Sonn- und Festtagen, oft sogar alltäglich gefeiert. Immer gehörte sie zu den wichtigen Lebensstationen, zu Hochzeit und Geburt, zu Krankheit und Not, zu Krieg und Frieden. Die Pfarrgemeinde hatte sich dafür zu versammeln, deren Grenzen genau festgelegt waren, und keiner durfte fehlen. So brachte die Meßfeier die Menschen des Pfarrbezirks regelmäßig zusammen und formte sie zu einer Gemeinde. Nur wer getauft und kommunionfähig war, gehörte voll dazu. Schwere Vergehen schlossen von der Gemeinschaft „des Heiligen“ und „der Heiligen“ aus. Das heißt: Wer sich öffentlich vergangen hatte, war von der Kommunion wie auch von der Gemeinde ausgeschlossen; er war gesellschaftlich zu meiden und erhielt, sofern er nicht Buße tat, nicht einmal ein Grab auf dem Kirchhof. Weil die Messe religiöser Höhepunkt war und dafür regelmäßig eine allgemeine Versammlung erforderte, konnte sich mit ihr vielerlei sonst noch verbinden: Markt und Handel, Termine und Absprachen, Feste und Feiern.
Quelle: Gerd Melville/Martial Staub (Hrsg.), Enzyklopädie des Mittelalters, Darmstadt: WBG, 2017, S. 356-360.