Über das Lebensende einer jungen Ärztin („Doktora“) Juli 1945 in Königsberg
Von Hans Graf von Lehndorff
In seinem Ostpreußischen Tagebuch, das Hans Graf von Lehndorffs Aufzeichnungen aus den Jahren 1945-1947 enthält, ist dessen Schilderung zum Suizid einer jungen Ärztin („Doktora“) Anfang Juli 1945 besonders eindrücklich:
Der 1. Juli ist ein strahlender Sonntag. Doktora kommt herüber und überredet mich zu einem Erkundungsgang nach Preyl. Barfuß und auch sonst recht dürftig bekleidet — jemand hat mir aus zwei Handtüchern eine Hose gemacht —, fallen wir nicht weiter auf und kommen ungeschoren aus der Stadt heraus. Unbegreiflich das menschenleere Land! Eine Stunde gehen wir, ohne daß uns jemand begegnet. Wir pflücken Kornblumen vom Feldrand. Wenn das Getreide reif ist, müßte man mit der Schere herkommen und die Ähren abschneiden. — Der große Teich in Preyl, aus dem früher das Königsberger Trinkwasser kam, ist abgelassen. Mitten im Schlamm stehen Russen und suchen nach Fischen.
Das Haus meiner Verwandten ist abgebrannt. Erhalten ist nur noch ein Teil der Grundmauern mit dem Erdgeschoß, in dem ein paar weibliche Gestalten Aufräumungsarbeit machen. Auf Fragen erhalten wir keine Antwort. Das Stallgebäude ist noch da. Es lockt mich nachzusehen, wie es jetzt dort aussieht, wo früher die Rennpferde standen. Gleich beim Eintreten nimmt uns ein Russe fest und führt uns stolz dem Kommandanten vor, der sich in der Trainerwohnung über dem Stall eingenistet hat. Ich halte ihm meine leere Aktentasche unter die Nase und bitte um Kartoffeln. Daraufhin läßt er uns wieder laufen. Wo früher der Garten war, treffen wir einen Russen, der über zwei Ziegelsteinen gerade seine Grütze kocht. Er gibt uns sehr freundlich etwas davon ab. Zum Essen setzen wir uns ans Ufer des Teiches. Drüben auf dem Hügel im Wald liegen die Familiengräber. Wir gehen dorthin, um nachzusehen, ob sie noch erhalten sind, finden sie unversehrt und teilweise überwachsen von Kartoffelkraut, das aus deutschen Verteidigungsstellungen herausgewachsen ist. Die darunter befindlichen Kartoffeln sind zwar noch sehr klein, wir füllen aber trotzdem unsere Aktentasche damit.
Auf einmal fängt Doktora an zu weinen. Ich erschrecke zutiefst, denn das habe ich bei ihr noch kaum erlebt. Sie leidet schwer unter den Mücken und beschwört mich, den Wald schleunigst zu verlassen. Es ist mir klar, daß noch etwas anderes dahintersteckt, kriege aber nicht heraus, was es ist. Als wir wieder auf der Straße sind, geht es besser. Wir besuchen noch das Vorwerk Warglitten, wo die Russen allem Anschein nach zu wirtschaften begonnen haben, und lassen uns dann von einem Russenwagen mitnehmen, der in Richtung Königsberg fährt. In Juditten steigen wir ab, und Doktora macht den Versuch, ihr Haus wiederzusehn. Es steht noch und ist auch von Deutschen besetzt. Beim Eintreten wird sie jedoch tätlich angegriffen und muß das Feld räumen.
Am Mittwoch erscheint Doktora bei mir im Operationssaal. Ich soll mir ihren Nacken ansehn, auf dem sich eine schwer juckende Stelle gebildet hat. Ich finde ein Heer von Läusen, das sich tief in die Haut eingefressen hat. Als ich es ihr sage, bricht sie zusammen. Ich gebe mir Mühe, sie zu beruhigen, während Dr. Rauch mir hilft, das Haar abzuschneiden und die Stelle freizumachen. Sie fängt sich zwar wieder, bleibt aber so verändert, daß ich ganz ratlos werde. Ist ihre Lebenskraft nicht schon längst zu Ende? Geht sie nicht schon wie im Traum neben uns her? Ist es nicht einzig und allein noch der Gehorsam gegenüber dem Liebesgebot unseres Heilandes, der sie in die Lage versetzt, ihren Mitarbeitern Vorbild zu sein und ihre Patienten zu versorgen, die mit innigem Vertrauen an ihr hängen?
Am nächsten Morgen holt man mich zu ihr hinüber, weil sie nicht aufwachen will. Auf ihrem Tisch liegt ein Zettel mit der Mitteilung, sie habe ein paar von ihren Schlaftabletten genommen, weil sie wegen des furchtbaren Juckens schon mehrere Nächte nicht habe schlafen können. Man solle sie nicht unnötig wecken. Wir lassen sie schlafen. Wenn sie den Tod auch nicht mit eigener Hand herbeiholen würde, so weiß ich doch, wie gern sie jetzt hinüberschliefe. Als sich jedoch an ihrem Zustand auch am Abend noch nichts geändert hat, wird, gleichsam über mich hinweg, alles in Bewegung gesetzt, was in solchen Fällen zu geschehen hat. In mir ist jede Regung erstorben. Ich gehe umher und verrichte mein Tagewerk, als ginge mich die Sache gar nichts an. Bin ich vielleicht schon selber innerlich tot, daß ich so gar keinen Ehrgeiz mehr entwickeln kann? Am Freitagabend hat das Herz aufgehört zu schlagen. Die Patienten der Tuberkuloseabteilung holen einen Sarg aus Kalthof, wo noch ein ganzes Lager davon sein soll. Ein Landser, der im Hause arbeitet, bringt mir ein Holzkreuz, das er gemacht hat. Darauf schreiben wir ihren Namen sowie das Geburts- und Todesdatum. Und auf die Rückseite schreiben wir die Schlußworte der Heiligen Schrift: ‹Amen, ja komm, Herr Jesu›.
Das Grab ist dort, wo sie alle liegen, neben der Altroßgärter Kirche. In Doktoras Bibel finde ich, als Lesezeichen bei Römer 8, ein kleines Heft mit Aufzeichnungen; Gedanken zu einzelnen Schriftstellen, Andeutungen über das, was damals noch geschehen ist, nachdem die Schranke durchbrochen war. ‹Rußland — und da wolltest du einmal hin. Jetzt kommt es über dich.› Ich lese die Worte wieder und wieder, wie ein Vermächtnis. Und dabei höre ich es mitklingen: ‹Diese sind’s, die da gekommen sind aus großer Trübsal und haben ihre Kleider gewaschen im Blut des Lammes.›
Quelle: Hans Graf von Lehndorff, Ostpreußisches Tagebuch. Aufzeichnungen eines Arztes aus den Jahren 1945-1947, München: Biederstein, 1961, S. 159-161.