Marsilio Ficino, Über die christliche Religion (1474): „Die kostbarsten Perlen der Religion hingegen wurden oft von Ignoranten in die Hand genommen und wie von Säuen zertreten. Denn oftmals scheint die müßige Bemühung von Toren und Trägen mehr Aberglaube (superstitio) als Religion [zu sein].“

Ahnherr des liberalen Protestantismus ist nicht etwa Martin Luther, sondern der Florentiner Renaissancephilosoph Marsilio Ficino (1433-1499) mit seinen Schriften „Theologia Platonica“ („Platonische Theologie“) beziehungsweise „De Christiana religione“ („Über die christliche Religion“). Das Heil wird in der Erkenntnis einer abstrakten Gottesidee als der letztgültigen Einheit hinter aller Wirklichkeit gesucht:

Über die christliche Religion (1474)

Von Marsilio Ficino

Die Einheit von außerchristlicher und christlicher Weisheit und Religion

Die ewige Weisheit Gottes hat angeordnet, dass die göttlichen Mysterien, wenigs­tens in den Anfängen der Religion, von denjenigen behandelt werden sollten, die wahre Liebhaber der wahren Weisheit waren. Daher kam es, dass es bei den Alten dieselben waren, welche nach den Ursachen der Dinge forschten und zugleich die Opfer für die höchste Ursache der Dinge gewissenhaft verwalteten, und dass bei allen Völkern die Philosophen zugleich Priester waren. Und das nicht zu Unrecht. Denn wenn unser Geist (animus), wie unser Platon lehrt, mit zwei Flügeln, das heißt: mit seiner Vernunft und mit seinem Willen, zu dem himmlischen Vater und Vaterland zurückfliegen kann und der Philosoph sich dabei vor allem auf die Ver­nunft, der Priester aber auf den Willen stützt und die Vernunft (intellectus) den Willen erleuchtet, der Wille aber die Vernunft entflammt, so ist man sich darüber einig: diejenigen, welche zuerst Göttliches durch ihre Vernunft (per intelligentiam) oder von sich aus fanden oder durch Gottes Wirken anrührten, haben das Göttliche zuerst durch den Willen auf richtige Weise verehrt und die richtige Verehrung und den Grund ihrer Verehrung an die anderen weitergegeben. Die Propheten der Hebräer und der Essäer widmeten sich zugleich der Weisheit und dem Priester­tum. Die Philosophen wurden von den Persern, weil sie die heiligen Handlungen leiteten, Magier, das ist: Priester, genannt […] Wer wüsste nicht, wie sehr sich bei den Römern Numa Pompilius[1], Valerius Soranus[2], Marcus Varro[3] und viele andere um die Weisheit und um die heiligen Handlungen zugleich kümmerten? Wer wüsste schließlich nicht, wie wichtig und wahr die Lehre bei den alten christlichen Bischöfen und Priestern war? O selige Zeiten, die ihr diese göttliche Verbindung zwischen Weisheit und Religion vor allem bei den Hebräern und Christen unver­sehrt bewahrt habt! O ihr ganz unseligen Zeiten, da schließlich Trennung und be­jammernswerte Scheidung zwischen Pallas[4] und Themis[5], das ist: zwischen Weis­heit und Ehrbarkeit, eintrat. O wehe! So warf man das Heilige den Hunden zum Fraße vor (vgl. Mt 15,26). Denn die Lehre fiel großenteils den Profanen anheim, so dass sie meistenteils zum Mittel der Ungerechtigkeit und der Ausschweifung wurde und eher Bosheit zu nennen ist als Weisheit. Die kostbarsten Perlen der Religion hingegen wurden oft von Ignoranten in die Hand genommen und wie von Säuen zertreten (vgl. Mt 7,6). Denn oftmals scheint die müßige Bemühung von Toren und Trägen mehr Aberglaube (superstitio) als Religion [zu sein]. Und so ver­stehen weder jene [die ungeeigneten Lehrer] die Wahrheit richtig, die gleichsam göttlichen Ursprungs, allein den Augen der Frommen sichtbar wird, noch vereh­ren diese [die unzureichenden Religionsverwalter], soviel an ihnen ist, Gott rich­tig, wenn sie ganz ohne Kenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge die heili­gen Handlungen leiten. Wie lange sollen wir dies harte und elende Los des eiser­nen Zeitalters noch dulden? O ihr Männer, Bürger des himmlischen Vaterlandes und Bewohner der Erde, ich flehe euch an: lasst uns doch, wenn wir können, end­lich die Philosophie, die heilige Gottesgabe (sacrum Dei munus), aus den Händen der Gottlosigkeit befreien! Wir können aber, wenn wir nur wollen. lasst uns die heilige Religion nach Kräften aus den Händen der verdammenswerten Unwissen­heit erlösen! Ich ermahne und bitte daher alle: die Philosophen, dass sie die Reli­gion tiefer erfassen oder berühren, die Priester aber, dass sie sich mit Sorgfalt den Studien der echten Weisheit widmen. Wie viel ich selbst hierin erreicht habe oder erreichen werde, weiß ich nicht, doch habe ich es versucht und werde nicht damit aufhören, im Vertrauen nicht auf meine geringe Begabung, sondern auf die Hilfe und die Kräfte Gottes.

Quelle: Marsilio Ficino, De religione christiana, aus: Marsili Ficini … Opera, Basel 1576 (= Turin 1962) (= Monumenta Politica et Philosophica Rariora I, 7), I, 1; Übers.: G.A. Benrath, Wegbereiter der Reformation, Bremen 1967, 483-485.


[1] König in der Frühzeit Roms, reg. Angeblich 715-672 v. Chr.

[2] Quintus Valerius Soranus, Dichter und Volkstribun, 82 v. Chr. unter Sulla hingerichtet.

[3] Marcus Terentius Varro (gest. 27 v. Chr.), römischer Gelehrter, der zu zahlreichen unterschiedlichen Themen schrieb.

[4] Pallas Athene, griechische Göttin der Weisheit.

[5] Griechische Göttin der Ordnung des menschlichen Miteinanders.

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