Demokratie und Protestantismus
Von Trutz Rendtorff
A. Der deutsche Protestantismus bekennt sich erst heute ausdrücklich zur demokratischen Verfassung des Staates. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat 1985 eine Denkschrift veröffentlicht, die unter dem Titel »Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetzes als Angebot und Aufgabe« eine Ortsbestimmung des Protestantismus im Verhältnis zur Demokratie enthält. Sie ist das Resultat aus geschichtlichen Erfahrungen dieses Jahrhunderts: Der deutsche Protestantismus stand der ersten Demokratie von Weimar mit Zurückhaltung und Mißtrauen gegenüber. Erst durch die Erfahrungen mit dem NS-Staat wurde der Zusammenhang zwischen der verfassungsmäßig garantierten Selbständigkeit der Kirche und den individuellen Freiheitsrechten sowie demokratischer Machtkontrolle erkannt. Während der Protestantismus in der Bundesrepublik heute eine grundsätzliche Bejahung der Prinzipien liberaler Demokratie vertritt, an denen die politische Praxis zu messen ist, sieht sich der Protestantismus in der DDR zunehmend in der Rolle, entsprechende Grundsätze der Gewissens- und Meinungsfreiheit, des Pluralismus und der Bewegungsfreiheit im sozialistischen Staat einzufordern. Das Verhältnis des deutschen lutherischen Protestantismus zur Demokratie war insofern bis in die jüngste Gegenwart von Spannungen und Gegensätzen bestimmt. Doch läßt sich daraus keine wesensmäßige Gegensätzlichkeit zwischen den demokratischen Ideen der Freiheit des einzelnen, der Gleichheit und der Machtkontrolle durch das Volk einerseits und der lutherischen Ethik mit ihrem Rechtfertigungsglauben, der Überzeugung von der göttlichen Einsetzung der Autorität des Staates und der Betonung des Dienstgedankens (Zweireichelehre) ableiten.
B. Dagegen spricht der große Rückhalt, den die Demokratie in den lutherisch bestimmten Ländern Skandinaviens in diesem Jahrhundert gefunden hat wie auch die demokratische Grundhaltung lutherischen Kirchen in Nordamerika. Dennoch ist es zutreffend, daß die christlichen Wurzeln der modernen Demokratie in Westeuropa liegen, vor allem im protestantischen England des 17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt der revolutionären Auseinandersetzungen stand zuerst nicht die demokratische Staatsform, sondern der Kampf um die Menschenrechte der Religions- und Gewissensfreiheit, der Pressefreiheit und der bürgerlichen politischen Freiheit. Erst von diesen Grundforderungen her stellte sich die Frage, welche Staatsform diese Rechte am besten zu sichern geeignet sei. Die Neigung zur Demokratie im englischen Protestantismus ist deshalb pragmatischer Natur. Der englische Puritanismus ist als christliches Erbe in die Begründung der nordamerikanischen Demokratie eingegangen. Deren Leitideen sind nach 1945 mit der Vorrangstellung der USA als Schutzmacht der westlichen Demokratie weltweit zur Geltung gekommen. In Nordamerika bildete sich auch der Gedanke einer »christliche Demokratie«, welcher der innere Kern des amerikanischen Sendungsbewußtseins ist, während die im katholischen Frankreich erkämpften Ideen der Demokratie seit der Französischen Revolution antiklerikal und religionsfeindlich bestimmt waren. Der deutsche Protestantismus der Gegenwart hat auf eigenem Wege jetzt eine weitgehende Angleichung an den westeuropäischen und nordamerikanischen Protestantismus vollzogen, ohne dabei den Gedanken des erwählten Volkes zu übernehmen. Der besondere lutherische Akzent findet sich dort, wo die evangelischen Christen als Bürger in der Demokratie aufgefordert werden, ihre Mitverantwortung für die Politik als einen Beruf zu verstehen, zu dem sie von Gott berufen sind. Nicht die natürliche Gleichheit und die individuelle Freiheit für sich, sondern in der Gestalt der selbstverantwortlichen Mitwirkung im demokratische Rechtsstaat verleiht der Bejahung der Demokratie auch individuelle Verbindlichkeit.
Das die verschiedenen geschichtlichen und theologisch-kirchlichen Zugänge zur Demokratie verbindende Grundelement ist dabei das Prinzip der Menschenwürde, die dem Menschen vor aller staatlichen Ordnung als Gabe Gottes zukommt und die zu achten und zu schätzen Inhalt und Grenze allen staatl. Handelns markiert. In diesem Grundprinzip der Menschenwürde ist das christliche Bekenntnis bewahrt und politische Verantwortung übertragen, daß der Mensch, jeder einzelne vor aller Leistung, die er für die Gemeinschaft erbringt und die von ihm gefordert wird, Geschöpf Gottes ist. Darum kann zusammenfassend auch gesagt werden, daß die daraus fließende Idee der Menschenrechte im protestantischen Verständnis den gemeinsamen Bezugspunkt für die christliche Beurteilung der demokratischen Staatsform abgibt.
C. Für die theologische Auslegung des Verhältnisses zur Demokratie können dabei historisch und systematisch vor allem folgende Gesichtspunkte namhaft gemacht werden:
1. Die Frage nach der Demokratie als Staatsform verweist an das theologische Verständnis des Staates. Dieses ist in der evangelischen, bibelorientierten Tradition sehr stark geprägt worden durch das Pauluswort aus Römer 13, wo die Obrigkeit als eine Anordnung Gottes in einem göttlichen Gebot gründet, während sich die Demokratie auf die Volkssouveränität beruft. Das Prinzip der modernen Demokratie, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, konnte hier als Widerspruch erscheinen, wenn damit das Gebot Gottes geleugnet werden sollte. Der Wechsel in der Begründung staatlicher Autorität führt zu einer Säkularisierung des Staates, wenn das Volk nicht mehr auf den christliche Glauben ausgerichtet ist.
2. Darum erhebt sich an dieser Stelle die Frage nach der Rolle der Kirche. In der von Calvin geprägten Tradition des reformierten Protestantismus steht hier das Gemeindeprinzip; die christliche Ortsgemeinde bildet den normativen Innenraum der politischen Gemeinde. Doch im Gefolge des konfessionellen Pluralismus konnte nur die Trennung von Kirche und Staat die Anerkennung demokratische Grundrechte für jedermann gewährleisten. Die Konfession ist dagegen eine persönliche Entscheidung des einzelnen. Der rein weltliche Staat entspricht dem lutherischen Konzept der weltlichen Obrigkeit als einer gegenüber der Kirche selbständigen Anordnung Gottes. So hat die reformatorische Unterscheidung zwischen dem geistlichen und dem weltlichen Regiment in der modernen Demokratie neue Bedeutung erlangt. Die bürgerlichen Rechte und Pflichten sind nicht von der konfessionellen Zugehörigkeit der Bürger zur Kirche abhängig, die Christenpflicht erweitert sich zu Rechten und Pflichten des Bürgers.
3. Die moderne Demokratie geht von der sittlichen Autonomie des Individuums aus, während im Christentum das Wissen von der Sündhaftigkeit des Menschen lebendig ist, der nicht aus eigener Kraft, sondern durch die Gemeinschaft mit Gott zum Tun des Guten befähigt wird. Daraus folgt eine Kritik am ethischen Optimismus der Demokratie; aber die Kritik an politischer Machtausübung durch sündhafte Menschen ist eine Aufgabe nicht nur der Predigt der Kirche, sondern in die Demokratie selbst eingebaut durch die zeitliche Begrenzung politischer Mandate, öffentliche Machtkontrolle und Machtbegrenzung.
4. In liberalen Demokratien kann es keine weltanschauliche Homogenität geben. Insofern entspricht der Pluralismus des Protestantismus dem lebensnotwendigen Pluralismus der Demokratie In allen diesen Hinsichten hat sich ein Umbau der politischen Ethik des Protestantismus vollzogen, der auch auf die Kirchen zurückwirkt. Nur eine offene Volkskirche kann nach Geist und Form der modernen Demokratie entsprechen.
Lit.: Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie, Gütersloh 1985. – E. Jüngel/R. Herzog/H. Simon: Evangelische Christen in unserer Demokratie, Gütersloh 1986. – T. Rendtorff: Politische Ethik und Christentum, München 1978. – Th. Strohm/H. D. Wendland (Hg.): Kirche und Demokratie, Darmstadt 1973. – K. Tanner: Die fromme Verstaatlichung des Gewissens. Zur Auseinandersetzung um die Legitimität der Weimarer Reichsverfassung in Staatsrechtswissenschaft und Theologie der zwanziger Jahre (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte, Reihe B: Darstellungen, Bd. 15), Göttingen 1988.
Quelle: Drehsen/Häring/Kuschel/Siemers (Hg.), Wörterbuch des Christentums, Gütersloh-Zürich 1988, S. 231-233.