Betrachtungen zum ‚Cimetière Marinʻ (1933, Auszug)
Von Paul Valéry
Der Dichter ist in meinen Augen an seinen Idolen kenntlich sowie an den Freiheiten, die er sich nimmt und die nicht die der Menge sind. Die Dichtung unterscheidet sich darin von der Prosa, daß ihr zwar nicht die gleichen Beschränkungen auferlegt, aber auch nicht die gleichen Freiheiten gestattet sind. Das Wesen der Prosa ist es, unterzugehen – das heißt «erfaßt», aufgelöst, unwiederbringlich zerstört, durch das Bild oder den Impuls völlig ersetzt zu werden, deren Ausdruck sie nach der Übereinkunft des Sprachgebrauches ist. Die Prosa nämlich setzt immer das Universum der Erfahrung und des Handelns voraus – ein Universum, in dem – oder dank dem – unsere Wahrnehmungen und Tätigkeiten oder Emotionen sich letztlich in einer einzigen – uniformen – Weise aufeinander beziehen und einander entsprechen müssen. Das Universum der Praxis ist letztlich auf eine Gesamtheit von Zwecken beschränkt. Ist dieser oder jener Zweck erreicht, so stirbt die Sprache. Dieses Universum schließt Doppeldeutigkeiten aus, es eliminiert sie ganz einfach; es fordert ein Fortschreiten auf dem kürzesten Wege und erstickt so bald wie möglich die harmonischen Schwingungen jeglichen Geschehens, das innerhalb seiner Bezirke sich im Geiste vollzieht.
Die Dichtung hingegen erfordert oder suggeriert ein ganz anderes «Universum»: ein Universum wechselseitiger Beziehungen, analog dem der Töne, in welchem der musikalische Gedanke entsteht und sich bewegt. In diesem poetischen Universum hat die Resonanz mehr Gewicht als die Kausalität, und die «Form», weit davon entfernt, sich mit ihrer Wirkung zu verflüchtigen, wird von dieser vielmehr zurückverlangt. Die Idee fordert ihre Stimme.
(Daraus ergibt sich eine äußerste Verschiedenheit zwischen den aufbauenden Elementen der Prosa und den schöpferischen Momenten der Poesie.)
So haben in der Tanzkunst, in welcher der Zustand des Tänzers (oder des Ballettliebhabers) der Gegenstand der Kunst ist, Gesten und Ortsveränderungen der Körper kein Ziel – keinen sichtbaren Zweck im Raum, es tritt keine Sache hinzu, die sie zunichte machen würde, und niemandem kommt es in den Sinn, choreographischen Vorgängen das Gesetz nichtpoetischer, sondern nützlicher Handlungen aufzuzwingen, ein Gesetz also, nach dem diese mit größter Kraftersparnis und auf dem kürzesten Wege auszuführen sind.
Dieser Vergleich mag fühlbar machen, daß weder Einfachheit noch Klarheit als ein Absolutes in der Poesie existieren, bei der es vollkommen vernünftig – und sogar notwendig – ist, sich in einer soweit wie möglich von der der Prosa entfernten Verfassung zu erhalten – und sich damit abzufinden (ohne allzu großes Bedauern), so viele Leser zu verlieren, wie notwendig ist …
Je poesiegemäßer ein Gedicht also ist, desto weniger kann es in Prosa gedacht werden, ohne dabei zugrunde zu gehen. Ein Gedicht kurz zusammenfassen, es in Prosa umsetzen wollen, heißt das Wesen einer Kunstart verkennen. Die dichterische Notwehr ist untrennbar von der spürbaren Form, und die durch den Text eines Gedichtes dem Leser mitgeteilten oder nahegelegten Gedanken sind keineswegs der einzige oder hauptsächliche Gegenstand des Gesagten – wohl aber Mittel, die gleichwertig mit Klängen, Kadenzen, Rhythmus und Redefiguren Zusammenwirken, um eine gewisse Spannung oder Hochgestimmtheit zu unterhalten, in uns eine Welt – oder eine Daseinsweise – entstehen zu lassen, die vollkommen harmonisch ist.
Wenn man mich also befragt oder sich Gedanken darüber macht (wie es – zuweilen sogar recht lebhaft – geschieht), was ich in diesem oder jenem Gedicht habe «sagen wollen», so antworte ich, daß ich nicht etwas habe sagen, sondern machen wollen, und daß eben diese Absicht zu machen das gewollt hat, was ich gesagt habe …
Jedesmal, wenn ich an die Kunst des Schreibens (ob in Vers oder Prosa) denke, ersteht vor meinem Geist das gleiche «Ideal». Der Mythos der «Schöpfung» verleitet uns dazu, aus Nichts etwas machen zu wollen. Ich träume also davon, schrittweise mein Werk zu finden, ausgehend von reinen Bedingungen der Form, die immer genauer durchdacht und schließlich bis zu dem Punkt präzisiert werden sollten, an dem sie beinahe … ein Thema nahelegen oder auferlegen – oder doch mindestens eine Themengruppe.
Beachten wir, daß präzise Bedingungen der Form nichts anderes sind als der Ausdruck unserer Einsicht und des Bewußtseins von den Mitteln, über die wir verfügen können, sowie auch von ihrer Reichweite, ihren Grenzen und Mängeln. Deswegen definiere ich mir zuweilen den Schriftsteller durch eine Beziehung zwischen einem bestimmten «Geist» und der Sprache.
Aber der chimärische Charakter meines «Ideals» ist mir durchaus bewußt. Die Natur der Sprache eignet sich am wenigsten von allen Dingen auf der Welt für Kombinationen von Dauer, und im übrigen lassen Bildung und Gewohnheiten des modernen Lesers, dem seine gewohnte, durch Zusammenhanglosigkeit und Augenblickseffekte charakterisierte geistige Nahrung jedes Bemühen um eine gewisse Struktur verbirgt, es wohl kaum geraten erscheinen, daß man sich in ihm so fernliegende Bezirke verirrt …
Indessen bleibt für mich schon der bloße Gedanke an Konstruktionen solcher Art die poetischste aller Ideen: die Idee der Komposition.
Bei diesem Worte mache ich halt … Es würde mich in ungeahnte Weiten entführen. Nichts hat mir bei den Dichtern mehr Staunen und größeres Bedauern eingeflößt als die geringe Mühe, die sie an ihre Kompositionen wenden. In den berühmtesten Produkten der lyrischen Dichter stoße ich fast immer nur auf rein lineare Entwicklungen – oder aber … delirierende, das heißt solche, die immer zum Nächsten fortschreiten ohne mehr System in der Abfolge aufzuweisen als eine Schießpulverspur, auf der die Flamme entlangeilt. (Ich spreche nicht von Gedichten, in denen eine Erzählung vorherrscht und die Chronologie der Ereignisse mitspielt: das sind gemischte Werke, Opern, nicht aber Sonaten oder Symphonien.)
Mein Erstaunen hält jedoch nur so lange an, bis ich mich meiner eigenen Erfahrungen und der nahezu entmutigenden Schwierigkeiten erinnere, denen ich bei meinen Versuchen begegnet bin, innerhalb der Lyrik zu komponieren. Sie erklären sich daraus, daß hier die Einzelheit in jedem Augenblick wesentliche Bedeutung hat und die schönste und weiseste Voraussicht mit der Ungewißheit der Funde rechnen muß. In dem lyrischen Universum muß jeder Augenblick eine unendlich tiefreichende Verknüpfung des Sinnlichen und des Sinnhaltigen vollziehen. Es ergibt sich daraus, daß die Komposition in gewisser Weise kontinuierlich fortschreitet und sich nicht in eine andere Zeit als die der Ausführung flüchten kann. Es gibt nicht eine Zeit für den «Inhalt» und eine andere für die «Form»; die Komposition in dieser Kunstgattung widersetzt sich nichtnur der Unordnung oder Disproportion, sondern auch der Dekomposition, dem Zerfall. Wenn Sinn und Klang oder Inhalt und Form sich leicht – voneinander lösen, so zerfällt das Gedicht. Daraus ergibt sich: die «Ideen», die in einem poetischen Werk auftreten, spielen in diesem nicht die gleiche Rolle, sind keineswegs Werke der gleichen Gattung wie die «Ideen» der Prosa …
Was die Interpretation nach dem Buchstaben angeht, so habe ich mich; schon an anderer Stelle über diesen Punkt geäußert; aber man wird nie genug darauf hinweisen können: Es gibt keinen wirklichen Sinn eines Textes. Der Autor hat hier keine Autorität. Was immer er hat sagen wollen: er hat geschrieben, was er geschrieben hat. Einmal publiziert, ist der Text wie eine Apparatur, deren sich jeder auf seine Weise und nach seinen Möglichkeiten bedienen kann: es ist nicht sicher, daß der Erbauer sie besser verwendet als irgendein anderer. Wenn er im übrigen sehr wohl weiß, was er machen wollte, so trübt doch gerade diese Kenntnis in ihm die Wahrnehmung dessen, was er wirklich geschaffen hat.
Quelle: Paul Valéry, Zur Theorie der Dichtkunst. Aufsätze und Vorträge, übers. von Kurt Leonhard. Frankfurt/Main: Insel, S. 176-189.