Von Rudolf Hermann
Die Frage nach Jesus Christus, zumal auch nach seiner geschichtlichen Erscheinung, hängt nicht zuletzt mit der Bedeutung zusammen, die wir der Bibel zuzumessen haben. Von dieser Seite her fassen wir das Thema, die Geschichtlichkeit Christi, grundsätzlich ins Auge. – Faktisch sehen wir uns freilich auf die Frage, wer er geschichtlich war, besonders durch die Arbeit der historischen Kritik gewiesen, für die bekanntlich das Leben Jesu lange Zeit hindurch das eigentliche Feld war. So wichtig nun die historisch-kritische Arbeit auch ist, und sowenig wir, schon um der Schwierigkeiten willen, auf die bereits der Bibelleser stoßt, und überhaupt um der Wahrhaftigkeit willen, vor ihr die Augen schließen können, so werden doch niemals die biblischen Bücher, in diesem Falle die Evangelien, für Kirche und Welt so in neuer Gestalt gedruckt werden, daß sie die Eingriffe wiedergäben, die die historisch-kritische Arbeit an ihnen vorgenommen hat. Der Text unserer Bibel bleibt unverändert. Von der – an einzelnen Stellen und selten genug vorgenommenen – Ersetzung dieser oder jener Lesart durch eine andere, die nach gewissenhafter Prüfung für älter oder als höchstwahrscheinlich richtiger angesehen wird, können wir dabei absehen.
Daß der Text der Bibel unverändert bleibt, ist nicht einfach auf ihre Einschätzung als heiliges und deshalb unantastbares Buch zurückzuführen. Dafür gäbe es sonst viele Beispiele auf religionsgeschichtlichem Gebiet.[1] Doch deckt der Vergleich mit ihnen den Sinn und die Bedeutung der Autorität der Bibel bei uns nicht.
Nun wäre es denkbar, die Unveränderlichkeit der Bibel, bzw. jetzt der Evangelien, gerade auch gegenüber dem Bilde, das die historisch-kritische Forschung – NB sie wieder nach Autoren und Schulen verschieden – sich von ihr macht, damit zu begründen, daß sie, bzw. die Bibel (oder auch das Neue Testament), als Ganzes zu verstehen sei, als Dokument nicht nur, sondern auch als Träger heiligen, sei es urchristlichen, sei es überhaupt biblischen Geistes. Der Heilige Geist selber wäre mit diesem Buche verbunden, und so dürfe man nicht einzelnes oder Einzelzusammenhänge herauslösen und der dort etwa fälligen Kritik nachgehen, um dann ratlos darüber zu sein, wo sich der Heilige Geist spüren lassen werde. Das geisterfüllte Ganze sei mehr als das mancherlei einzelne.
Bei solchen Einzelzusammenhängen kann etwa an den Verlauf des Geschehens, sei es auch des Lebens Jesu, gedacht werden, oder an diese oder jene Apostelgestalt (Paulus, Petrus, Johannes), an die apokalyptischen Schriften und Stellen, an die urchristliche Gemeindeordnung, an die Verfasser-, Situations- und Umweltfragen der Schriften oder woran auch immer – die Forschung wird stets Anlaß und Material genug haben, das Bild, was wir als Bibelleser von dem Inhalt der Schriften oder von ihnen selbst eben als urchristlicher Literatur gewinnen, zu erläutern, zu ergänzen und kritisch zu beleuchten, wie das Quellen und auf uns gekommener Literatur gegenüber eben geschehen muß. Aber – so könnte die Stimme, die wir hier reden lassen, fortfahren – es kommt nicht so sehr auf das Menschliche im einzelnen an als vielmehr auf den göttlichen Geist im Ganzen, der die ursprüngliche christliche Gemeinde wie die Missionsgemeinden ins Leben gerufen hat und der das Neue Testament (um jetzt nur von ihm zu reden) durchweht und trägt.
Es kann kein Zweifel daran sein, daß dies die Stellung vieler evangelischer Christen zum Neuen Testament ist, und ebenso, daß viel Wahres in dieser Stellung liegt. Der Geist Gottes ist in der Tat mit diesem Buch. Das ist der alte Glaube der Christenheit; und der Geist macht es ihr zur geistlichen Heimat. Auch der Heimat fehlen die Schattenseiten nicht, die es überall gibt. Aber in der Heimat wird man ihrer am ehesten Herr.
Gleichwohl ist das Gesagte schwerlich der rechte Ansatz, die Autorität der Bibel, oder auch nur des Neuen Testaments, zu begründen. Es mag mehr eine Kennzeichnung dessen sein, was wir an ihm (bzw. an ihr) haben, oder doch eines Stückes davon. Aber wenn die Autorität der Bibel, die auch die Unveränderlichkeit ihrer Textgestalt gegenüber der historischen Kritik einschließt, auf dem Geist beruhen soll, durch den die Urgemeinde ins Leben gerufen ist (von den Jüngern angefangen bis zu den neutestamentlichen Gemeinden, bzw. der Ekklesia, in der Oekumene hin), so läge darin eine Zurücksetzung des Geschichtlichen hinter den die Urkirche tragenden Geist. Dazu würde die Unterscheidung zwischen dem Geist der Urchristenheit und dem Geiste Gottes selber noch ein weiteres Problem bedeuten. Denn schließlich wäre auch ersterer sozusagen in der Lage, mancherlei geschichtliche Diskrepanzen gleichsam zu absorbieren. Die Gestalt Jesu rückte dann in die Gemeinde hinein, und die Evangelien würden in erster Linie zu Dokumenten des ursprünglichen Gemeindelebens und Gemeindeglaubens – was sie zwar irgendwie auch sind, was aber ihren eigentlichen Sinn, von Jesus Christus zu berichten, dann al tarieren würde. Die Gemeinde berichtete eigentlich von sich selber. Man könnte die, freilich etwas pointierte Frage stellen, ob Jesus als der erste Christ zu gelten habe.
Anders steht es mit dem Verhältnis zwischen der Gemeinde (oder auch der Kirche) und dem Bibelbuch bzw. „dem Neuen Testament“. „Das Neue Testament“, „die Bibel“! Denken wir einen Augenblick daran, daß sie als Kanon, auch als werdender Kanon, erst mit der weitergehenden Geschichte auftreten. Wäre das, von vielen in der Urchristenheit erwartete, Weitende und die Parusie Christi alsbald eingetreten, so hätte es eines „Neuen Testamentes“ und einer „Ganzen Heiligen Schrift“ kaum mehr bedurft. Aber die Geschichte brach nicht ab, und die Geschichte des Christentums in der Welt brach an. Und was sollen wir nun – auch diese Frage führt uns wieder auf Christus zurück – über die Sammlung der urchristlichen Bücher zum Neuen Testament und über ihren Zusammenschluß mit den alttestamentlichen Schriften sagen?
Jeder Theologe weiß, wieviel, zum Teil auch noch ungelöste Fragen hier vorliegen.[2]Wir können hier nicht näher darauf eingehen. Wir fragen jetzt nur: Worum ging es? Um eine Art Selbstkonsolidierung der Kirche durch eine Sammlung heiliger Schriften, in der es sich im wesentlichen um eine normative Selbstdarstellung ihres ursprünglichen Geistes handeln sollte? Oder um eine in der weitergehenden Geschichte bleibende Erinnerung daran, was Gott – wir denken wieder an die ganze Bibel – in einer entscheidenden Vergangenheit geschichtlich (Geschichte ist immér zunächst Vergangenheit) getan hat, gipfelnd und sich vollendend in Jesus Christus, der bereits die Seinen auf- und zusammengerufen und sie durch die Sendung seines Geistes in die Welt gestellt hatte (vgl. Joh. 17,18.20.23). Ich meine, gerade durch das Werden „des Neuen Testaments“ und „der Bibel“, durch die Frage, worauf sich die Kirche damit besann, sind wir auf die biblische Geschichte Gottes mit der Menschheit, auf seine „großen Taten“ in entscheidender Vergangenheit und erst recht auf die „Geschichte Jesu Christi“ verwiesen.[3] Aus diesen Werken – wir nennen aus der Fülle der Literatur jetzt nur die zwei – ist viel zu lernen. Aber was auch immer in Auseinandersetzung mit ihnen zu sagen wäre, so fängt jedenfalls die Bibel, und das Neue Testament nicht weniger als das Alte, mit den geschichtlichen Schriften an, und die übrigen Schriften beziehen sich in stärkerem oder geringerem Maße auf sie zurück, so daß man sowohl das Alte wie das Neue Testament, ja auch die Bibel, als die Bücher bzw. das Buch der heiligen Erinnerung bezeichnen darf.
Gewiß, die Evangelien sind Dokument der urchristlichen Predigt und Unterweisung (und die alttestamentlichen Texte haben vielfach kultischen Zwecken gedient). Aber wir dürfen diese Tatsachen nicht derartig intensiv betonen, daß wir es schließlich mit eigentlich nichts anderem mehr als dem Glaubenszeugnis von Menschen, sei es auch von denen der urchristlichen Gemeinde, zu tun haben. So wichtig das Zeugnis gerade nach seiner glaubenweckenden Bedeutung ist, zumal da nach evangelischer Überzeugung der Heilige Geist darin wirksam ist, sowenig darf Glaubenszeugnis – in Unterscheidung von Gottes Selbstbezeugung – als mehr denn menschliches Zeugnis angesehen und dann etwa gar – wohlgemerkt qua Glaubenszeugnis – zu einer Zwischeninstanz zwischen Gott, oder Christus, und uns werden. Dagegen ist das, wovon diese Zeugnisse sprechen: Jesus Christus selber, Gottes große Taten – mehr als alles Menschentum, mehr als Petrus, Paulus, Johannes, Jakobus und andere, sofern sie unter den Titel des Zeugentums gestellt werden. Denn auf Gott und Christus selber richtet sich unser Glaube, nicht auf die Zeugnisse und die Zeugen.
Aber steht es mit dem Glauben an den Heiligen Geist, der doch theologisch weithin so eng mit Kirche und Gemeinde zusammen gedacht wird, nicht anders? Wohl kaum. Auch der Glaube an den Heiligen Geist ist nicht der Glaube an diese Zeugnisse in ihrer Gestalt und Erscheinung, sondern an den, der auch, die (rechten) Zeugnisse wirkt. Sagt man aber, wir hätten Christus nur in den Zeugnissen seiner Gemeinde – Entsprechendes gelte in bezug auf Gott selber so wäre das erstens eine Überlastung des Wortes Zeugnis – denn die Bibel ist nicht überall, und kaum je lediglich Glaubenszeugnis – und wäre zweitens eine Erweiterung der Kompetenz des menschlichen Zeugnisses. Vor Gericht z. B. kommt es zwar sehr auf die Aussagen der Zeugen an. Ohne sie kann der Prozeß nicht entschieden, der Angeklagte nicht frei oder schuldig gesprochen werden. Aber wenn der Prozeß und sein Ausgang wesentlich für das Rechtsleben ist, so sind die Tatsachen selber, die geschehen sind, und die Menschen, mit denen sie zusammengehören, für das Leben und u. U. für die Geschichte wesentlich. – Man denke, um ein Beispiel zu haben, an den Prozeß um Galilei einerseits und an sein Forschen und Lehren selbst anderseits. Und Entsprechendes gilt für die Unterscheidung von persönlicher Frömmigkeit, vielleicht auch persönlichem Glaubensleben – und dem, was der ewige Gott – in Zeit und Geschichte – gipfelnd in Christus – getan und von sich bekundet hat.
Was Gott getan hat! Wir kehren damit zu dem Motiv für das Werden „des Neuen Testaments“ und „der Bibel“ zurück. Unter dem Eindruck des Weiterganges der Geschichte sich dessen versichern, daß Gott in einer entscheidenden Geschichte gehandelt und sich selber bekundet hat und daß Christus „die Mitte der Zeit“ ist.[4]
Wenn Gott gehandelt hat, wenn er in Jesus Christus persönlich in der Zeit erschienen ist, so hat das die Unumstößlichkeit des Geschichtlichen, die als Geschehen-sein allem Geschichtlichen eignet. Und eben deshalb ist es uns um den erinnerten – nicht lediglich um einen bezeugten – Christus zu tun. Wir halten uns an seine „Erdentage“ (Kähler), einschließlich seiner Auferstehung. Das ist der Jesus Christus der Evangelien, für die er nicht nur der vere homo, sondern auch der Sohn Gottes ist, der, in dem wir Gott selber unter uns in unserer Erdenzeit „sehen“ dürfen.[5]So verstehen ihn die Evangelien, nicht nur Johannes. Vgl. z. B. Matth. 11,27, vgl. aber auch Mark. 1,1, wo die Bezeichnung „Sohn Gottes“ zumindest sehr alt, wenn nicht ursprünglich ist.[6] – Der erinnerte Christus, dürfen wir sagen, ist der Mensch und Gottessohn auf Erden.
Haben aber die Verfasser der Evangelien ihn so verstanden, so ist auch der Inbegriff ihrer Berichte von diesem Verständnis getragen; und man steht vor der Frage, ob man wirklich ein Jesusbild außerhalb dieses Verständnisses zu zeichnen versuchen soll. Wirklich gelingen kann das nicht, da die göttlichen Züge – zu denen ja nicht nur seine Wundermacht, sondern auch seine Vollmacht im Lehren und im Spenden göttlicher Gaben, seine Hoheit und seine Liebe, zählen — so eng mit den menschlichen Zügen verbunden sind, daß – so war ja schon Kähler [7] zu verstehen — keine Einsatzmöglichkeit für einen psychologisch-historischen Entwurf solchen Bildes besteht. Gelingen könnte das von der Sicht seiner damaligen Gegner her, die ihn natürlich nicht als Gottessohn – in keinem Sinne, in dem dieser Name gedeutet werden konnte – verstanden haben. Ein polemisches Gesamtbild müßte sowieso verzeichnen, da abbilden auch würdigen heißt.
Aber schon wenn man sozusagen sine ira et Studio, bloß als Historiker, würdigen will, wird man kaum anders als in religionsgeschichtlichem Sinne vorgehen können und die Glaubensmeinungen und -vorstellungen Jesu und der Seinen darzustellen und, gewiß, zu würdigen haben. Das hieße aber, den Evangelien erst zum rechten Verständnis ihrer selbst zu verhelfen bestrebt sein und ihren Berichten über Jesus Christus, wie wir sie oben kennzeichneten, letztlich nicht gerecht werden.
Wir mochten nicht falsch verstanden sein. Wer die Gestalt Jesu Christi zu verstehen und zu würdigen strebt, und die – allerdings dazu notwendigen – Kenntnisse des Materials und der Fragestellungen mitbringt, muß zu Worte kommen, und es wird daraus immer Frucht im Sinne schärferer Bewaffnung des Auges erwachsen. Sogar einem Reimarus, erst recht einem Lessing, selbst einem D.F. Strauss ist man zu Dank verpflichtet. Alle ernsthafte kritische Arbeit und Forschung wird, zumindest auf die Dauer, als Dienst an der Sache zu buchen sein, aber eben nicht als Eröffnung der Sicht. Die evangelischen Berichte sind nun einmal anders, als daß sie vom kritischen Ansatz her – seien es die soeben genannten oder andere kritische Startregeln – bildhaft zutreffend „ins Enge gebracht“ werden könnten. Und wir haben keine anderen Berichte als sie, wenn wir auch aus dem Felde der neutestamentlichen und urchristlichen Zeit- und Vorgeschichte mancherlei Material zur Ergänzung und Vervollständigung mögen beibringen können.
Aber, so wird man fragen, wenn wir in allem Wesentlichen auf diese Berichte gestellt bleiben und die kritischen Ansätze offenbar irgendwie in die zweite Linie rücken sollen, wie kann es dann unserseits bei der Betonung des Geschichtlichen (in der Bibel überhaupt, und dann besonders) im Leben Jesu bleiben? Ohne Kritik ist ja überhaupt keine Erfassung von Geschichtlichem zu haben.
Nun ergibt sich aber sozusagen von selbst eine Art interner häuslicher Bibel- und auch neutestamentlicher Kritik, die NB u. U. sehr weit gehen kann, etwa wie sie sich innerhalb jeder innerlich zusammengehörigen und zusammenhaltenden Gemeinschaft ergibt, die zugleich ehrlich gegen sich selber sein und doch ihr eigenes Dasein und Leben bzw. das Haupt, unter dem sie lebt, bejahen will. Und da „Kritik“ eben Kritik ist, so wird sie von aller Art von Kritik das Ihrige lernen. Nur geht sie davon aus, daß die evangelischen Berichte und Schriften ihre Gestalt und ihre Zusammengehörigkeit aus der Sache heraus, von der sie reden, gewonnen habend.[8] Sie reden aber von Jesus Christus in Palästina, und von der Gemeinde verraten sie höchstens etwas.
Aber auch im Blick auf kritische Ansätze mehr von der religionsgeschichtlichen, weiterhin auch von der allgemeingeschichtlichen Seite her – also von der Proklamation her, die biblischen Schriften dürften nicht anders behandelt werden als andere geschichtliche Quellen auch, sprachen wir oben ja von Früchten, die auszuwerten sind. Ich möchte versuchen, auch dies durch eine Art Analogie noch etwas näher zu charakterisieren.
Die Evangelien wollen, auch hinsichtlich der Geschichte Christi, die sie berichten, und hinsichtlich des Geheimnisses seiner Person, genommen sein, wie sie sich selber geben und verstehen. Ist das nicht mutatis mutandis eine ähnliche Forderung, wie wir Menschen in Umgang und Verkehr miteinander sie gegenseitig an uns stellen? Vergleicht man die kritischen Ansätze verschiedenster Art, von denen wir sprachen, mit der „Menschenkenntnis“ ebenfalls verschiedenster Art und verschiedensten Grades bis hinab zur stark skeptischen Menschenbeurteilung, so ergibt sich u. E. für die uns interessierende Frage der Evangelienkritik immerhin eine Analogie, die gewiß nicht die volle Lösung bedeutet, aber doch mit für sie verwendbar ist. Jeder Mensch, und alles Menschentum, darf verlangen, bis zum Erweis des Gegenteils, so genommen zu werden, wie es sich selber gibt und versteht. Diese Aufgabe stellt sich uns im Leben immer wieder, und sie darf sich uns nicht durch vorgefaßte Theorien vermeintlich grundsätzlicher, etwa auch charakterologischer Art, am wenigsten durch skeptische Men sehen Verachtung, trüben. Unsere „Menschenkenntnis“, auch die aus Enttäuschungen fließende bittere, darf in unseren Umgang miteinander nur eingehen (je anonymer, desto besser), darf ihn aber nicht, am wenigsten von vornherein, bestimmen und muß vor allem immer lernbereit bleiben, ja sich sozusagen überraschen lassen können.
Wie sich demgemäß weder der Bibelleser noch der Prediger auf eine Theorie über die Evangelien und ihre Berichte festlegen können, so kann das auch die Glaubenslehre nicht, wiewohl Prediger und systematischer Theologe um jene Arbeit wissen müssen, und dies Wissen auch in ihrer Arbeit wirksam sein soll, allerdings in elastischer und gelockerter Form. Die Texte liegen immer wieder, nicht umgestaltet durch die literarkritische Arbeit an ihnen, vor uns und verlangen, unbefangen gelesen zu werden, d.h. also so, daß in Jesus „mehr denn Jona“ und „mehr denn Salomo“ (Matth. 12,41f.), auch mit dem „Ich aber sage euch“ mehr als Mose und mehr als die Propheten (Matth. 16,14f.), die von ihm geweissagt haben (Joh. 1,45), vor uns steht. – Sie wollen auch so gelesen sein, daß der Bericht über die Geschichte seines Wirkens in Palästina, Judäa und anderen Bezirken des Landes nicht bloß als Rahmen und Situationsveranschaulichung für sein Wort und sein Tun zu nehmen ist. Wir müssen vielmehr bestrebt sein, ihn – trotz gewisser Schwierigkeiten in der zeitlichen Abfolge der Geschehnisse – als Tatsachenbericht aus bestimmter Zeit zu lesen, nämlich aus der unter Pilatus und Herodes Antipas sich anbahnenden Krisenzeit vor dem Ausgang der Geschichte Israels im römischen Reich. – Ich möchte auch glauben (ohne das jetzt näher zu begründen), daß manches Wort Jesu, das zeitlos klingt, konkreter und geschichtsbezogener gemeint ist, als es zumeist ausgelegt wird. Ich denke etwa an Luk. 13,1-9.[9] Vielleicht hat auch das Wort vom „bergeversetzenden“ Glauben in Mark. 11,23 seine geschichtlichen Aspekte. Und wenn z.B. letzteres Wort in anderem Zusammenhänge (Matth. 17,20) ebenfalls vorkommt, wie das für nicht wenige Herrenworte in entsprechender Weise zutrifft, so weiß ich nicht, ob wir – bereits als Studenten – richtig unterwiesen worden sind, als man uns im Blick auf Derartiges nur von „Dubletten“ der Tradition sprach. Jeder Wanderredner sagt an verschiedenen Orten und in verschiedenen Lagen oft genug dasselbe und sagt es doch zumeist etwas anders. Und Jesu Wandel und Beruf war doch von der Art eines wandernden Lehrers.
Es sprechen hier wohl auch Forschungsintentionen mit. Mit dem Begriff der Dublette – den es selbstverständlich gibt – wird man in der Evangelienforschung besonders dann arbeiten, wenn man vornehmlich auf die Herauspräparierung von mancherlei Traditionsformen und Traditionsstücken gerichtet ist. Man tat es freilich auch schon in der Zeit der vorformgeschichtlichen synoptischen Quellenscheidung und kann natürlich auch nie ganz darauf verzichten. Aber sind dem Nichtfachmann auf dem Gebiete der Quellenforschung, wenn er sich doch lebhaft für die Arbeit der Auslegung und der Hermeneutik interessiert, ein paar Fragen – auch abgesehen von dem Problem der Dubletten – gestattet? Sind nicht die Resultate und Methoden der formgeschichtlichen Arbeitsweise in ihrer Mannigfaltigkeit fast noch mehr hypothetischen Charakters, als es die der klassischen Quellenscheidung waren? Ist der Gedanke abwegig, daß man, trotz gewiß nutzbarer Einsichten, des Herauspräparierens der verschiedenartigsten Formelemente aus dem Texte doch auch wieder müde werden könnte, weil eben die Evangelienschriften über ihren dann anzunehmenden Mosaikcharakter schweigen? Oder wissen wir etwas Greifbares von einer damaligen Kunst literarischer Mosaikbildung, die in ihnen zur Anwendung gekommen sein müßte? Hat die Evangelienforschung nicht mehr Zukunft, wenn sie sich wieder vornehmlich auf das geschichtliche Geschehen im Leben Jesu Christi selbst und dessen innere Möglichkeiten richten würde? Die über diese Möglichkeiten zu fällenden Urteile hängen freilich eng mit der Einschätzung der Person Jesu Christi und ihrer Einzigartigkeit zusammen.
Wird man nun noch sagen, daß wir bei einer bedingungslosen Bejahung aller evangelischen Geschichten angelangt sind? Gewiß liegt insofern eine Bejahung vor, als wir es überall mit dem erinnerten Christus zu tun haben. Aber was sollte wohl mit „bedingungslos“ gemeint sein? Daß jeder Zweifel an der Historizität ihrer einzelnen Züge verschwunden wäre? So stehen wir wohl keiner evangelischen Geschichte gegenüber. Denn streitet man nicht selbst über das Datum von Jesu Kreuzigung, über Wortlaut und Sinn seiner Abendmahlsworte oder über die Zahl seiner Worte am Kreuz? – Man kann, wie der Unterzeichnete das tut, Differenzen dieser und ähnlicher Art für mehr oder weniger unerheblich auch im historischen Sinne halten. Die Tatsache der Debatten aber läßt sich nicht ableugnen. Ich persönlich glaube übrigens, daß die Evangelienkritik immer wieder viel zu rasch an der unübersehbaren Fülle von Möglichkeiten vorübergeht, aus denen sich situationsmäßig die Verschiedenheit von Berichten ergeben kann – wenn man nur wieder mehr nach dem Geschehenen fragen wollte, anstatt sich in dem Interesse dafür zu verfangen, als was für eine Form von Bericht das Erzählte zu beurteilen sei und wie und auf Grund welchen „Sitzes im Leben“ (etwa der Gemeinde) er entstanden sein mag. Gute Gesichtspunkte sind es zumeist, die, wenn sie überfordert werden, die Fragestellung verwirren. Daß wir mit unserem Wunsch auf „längst überholte“ Methoden zurücklenken, kann letzten Endes kein Einwand sein. Die Methoden dürfen hier nicht an ihrer eigenen Geschichte ihr Kriterium suchen, sondern erproben sich daran, wie sie dem Geheimnis der Person Jesu Christi gerecht zu werden bestrebt sind. Daß in dem Geschehen, dessen Träger Jesus von Nazareth war, Gott sich in der Lebensheimat der Menschheit, eben in ihrer Geschichte, persönlich Gegenwart gegeben hat, ist ja doch der Sinn des Glaubens an Jesus Christus und die Überzeugung des Neuen Testaments. Eben deshalb wird so eindringlich, wenn auch immer wieder neu, nach dem „Leben Jesu“ gefragt.
Eben deshalb darf man auch nicht meinen, jenes Geheimnis der Geschichte (nämlich daß Gott zum Träger seiner persönlichen, und für alle Zeiten bleibenden, Gegenwart in ihr ein zeitliches Geschehen und ein sie abschließendes kurzes Menschenleben erwählt hat) sozusagen museal ausgestellt vorzufinden. Gott ist in dem, wovon da berichtet wird, zumal in Christus, nicht vorfindbar, wohl aber, wenn man ihn sucht, auffindbar. Das Trostwort Jeremias im Namen Gottes an die nach Babylon Exilierten: „So ihr mich von ganzem Herzen suchet, will ich mich von euch finden lassen“ (Jer. 29,13 f.), darf von uns auch auf jene von Gott erwählte Geschichte angewandt werden. Sie hat zwar an seiner Gegenwart teil, aber es ist uns in bezug auf sie auch ein Zwischenraum von zwei Jahrtausenden (und weiter zurück) auferlegt. Daraus ergibt sich zugleich ein erheblicher Teil der Mühsale für Exegese und Historie, und so eben auch des Suchenmüssens.
Werden wir dann nach Maßstäben und Kriterien für den rechten Weg gefragt, der zum Finden führen solle, so ist als der Wegweiser das Analogielose anzusehen, was sich in der Geschichte des „Volkes Gottes“ und Jesu Christi findet. Von daher macht die Hoheit seiner Gestalt und zugleich die Gewalt seiner Worte und Taten, sich überallhin durchzusetzen und Menschenherzen aufzuschließen, sein Einssein mit Gott offenbar. Und dieses Einssein zeigt dann im Leiden zugleich die Herkunft seines Leidens aus der menschlichen Auflehnung und Überhebung gegen Gott und wieder Gottes erlösende Liebe in ihrer Überlegenheit auf. Solche Überlegenheit aber zeigt sich zuerst und zuletzt in der Durchstreichung der Schuld und der Vergebung der Sünde. Denn sie ist göttliches Herrentum über die Zeit, die von der Sünde sonst durch die Belastung der Vergangenheit und die Preisgabe der Zukunft in Bann geschlagen bleibt.[10]
Quelle: Helmut Ristow/Karl Matthiae (Hrsg.), Der historische Jesus und der kerygmatische Christus, Berlin: Evangelische Verlagsanstalt, 1960, S. 509-517.
[1] Vgl. Leipoldt-Morenz, Heilige Schriften, Leipzig 1953.
[2] Nicht nur historische, sondern gerade auch dogmatische, den Kanon betreffende Fragen. Denn der Kanon ist schließlich ein dogmatisches Problem.
[3] Vgl. den Titel des Buches von W. Grundmann „Die Geschichte Jesu Christi“, Berlin 19592, und den Titel des ersten Bandes von A. Schlatters Neutestamentlicher Theologie, Stuttgart 1923, „Die Geschichte des Christus“.
[4] Darauf, daß man schon einen Lukas gar dafür „verantwortlich“ gemacht hat, diesen nicht „konsequent eschatologischen“ Gesichtspunkt gleichsam eingeführt zu haben, soll im jetzigen Zusammenhänge nicht eingegangen werden. Ich verweise auf den instruktiven Aufsatz von O.Bauernfeind in ZSTh 23, 1954, S. 59-89: Zur Frage der Entscheidung zwischen Paulus und Lukas.
[5] Wer mich siehet, der siehet den Vater. Was sprichst du denn, zeige uns den Vater (Joh. 14,8 f.).
[6] Vgl. W. Grundmann, Das Evangelium nach Markus, Berlin 1959, z. St. sowie den Exkurs über „Sohn Gottes“ zu Mark. 1,11: Eine „einmalige Verbindung (Jesu Christi mit Gott) von einzigartiger Hoheit und demütigem Gehorsam, die in einem einmaligen Verhältnis zu Gott begründet ist“ (ebd. S. 34).
[7] Auf dessen Bahnen glauben wir uns, trotz gewisser Bedenken gegen seinen kerygmatischen Kristallisationspunkt, weithin zu bewegen.
[8] NB, ohne daß man auf Biegen und Brechen Harmonistik treiben müßte.
[9] Die von Pilatus im Heiligtum getöteten Galiläer und die vom Turm beim Siloahteich. Erschlagenen sind, sagt Jesus, nicht schuldiger gewesen als die Lebenden, mit denen Jesus redet, sondern daß sie „ebenso“ umkommen werden, wenn sie sich nicht bekehren, sagt er.
[10] Der Ansatz der hier vorgelegten Arbeit dürfte sich in etwa mit dem Ansatz des Vortrages berühren, den E. Fuchs, Berlin, beim Theologentag 1958 über das Thema „Die Sprache im Neuen Testament“ gehalten hat. (Vgl. Das Problem der Sprache in Theologie und Kirche, hrsg. von W. Schneemelcher, Berlin 1959.) Ich wurde auf diesen Vortrag leider erst aufmerksam, nachdem der vorliegende Beitrag bereits abgeschlossen war.