Von Ernst Bizer
Der Fall Dehn ist ein Vorspiel zu dem Kampf der Bekennenden Kirche im „Dritten Reich“, dessen Kosten ausschließlich Günther Dehn zu bezahlen hatte. Seine Geschichte ist über den Kämpfen der folgenden Jahre fast vergessen worden; in Wilhelm Niemöllers Buch[1] wird sie nicht einmal erwähnt. Dabei ist sie für den Historiker interessant genug, weil sie handgreiflich zeigt, wie schlecht gerüstet die deutsche Kirche in ihren großen Kampf gegangen ist, aber auch, wie eindeutig sich der damalige Nationalismus von vornherein für den Krieg entschieden hatte. So soll sie hier noch einmal erzählt werden, nicht zuletzt auch darum, weil ich wenigstens an einem Punkt geschehenes Unrecht als solches feststellen möchte[2]. Sie scheint mir trotz aller Distanz merkwürdig gegenwartsnah; vielleicht kann die Erzählung auch bei heutigen Studenten Verständnis dafür wecken, daß manche von uns Älteren nur mit einer gewissen Sorge auf heutige Bestrebungen und Tendenzen unserer Studentenschaft zu blicken vermögen.
I.
Der „Fall Dehn“ begann am 6. November 1928 mit einem Vortrag Dehns in der Ulrichskirche zu Magdeburg über das Thema: „Kirche und Völkerversöhnung“, eigentlich und genauer über das Thema: Der Christ und der Krieg[3]. Weil er die Grundlage aller Anklagen gegen den Verfasser bildete, muß sein Inhalt hier wiedergegeben werden.
Er betont zu Anfang, daß er „eben nur von christlichen Gesichtspunkten aus reden wolle“; „wir alle sind doch, so verschieden wir im einzelnen denken mögen, in dem einen einig: wir möchten gern in der Gestaltung unseres Lebens den Willen Gottes erfüllen, wie er uns deutlich geworden ist in Jesus Christus.“ Das Problem ist also, wie man als Christ in der Frage des Krieges den Willen Gottes tun könne; „die Leidenschaft und das Suchen des Willens Gottes soll das einigende Band sein, das uns umschließt.“
Was aber der Wille Gottes in dieser Frage ist, „ist eben nicht so einfach zu sagen.“ Man kann sich nicht einfach auf das fünfte Gebot berufen, denn „die Gebote Gottes sind Wegweisungen, von denen wir uns leiten lassen sollen, sind Fanale für die Wirklichkeit, wie sie sein soll“. „Der Wille Gottes steht für uns nicht fest in statutarischen Beschlüssen, die wir einfach blind zu respektieren haben, sondern um den Willen Gottes muß immer wieder aufs neue gerungen werden“, nämlich „aus dem Glauben heraus, aus der nüchternen Beurteilung der Situation heraus, die jeden Augenblick ein anderes Gesicht haben kann“; „in immer neuem Anklopfen bei Gott und in immer neuer nüchterner Beurteilung dessen, was wir sind und was wir können.“
Die Situation, in der wir nach dem Willen Gottes fragen, ist nun die, daß einerseits die Botschaft der Bibel eindeutig eine Botschaft des Friedens ist, nämlich die Verheißung der neuen Welt. Jesus rechnet zwar offenbar damit, daß Kriege sein werden und sein müssen, aber er hat gerade darum „das kommende Reich verkündet, die Herrschaft Gottes, wo alle Dinge gewandelt sind, wo kein Leid, kein Geschrei und kein Schmerz mehr ist, sondern wo alle Menschen von Gott gelehrt als Kinder ihres himmlischen Vaters leben“, und hat die Seinen „außerhalb der Sphäre des in der Welt herrschenden Gewaltgeistes gestellt“. „Die Meinung der Bibel“ ist jedenfalls, „daß der Krieg in die Welt Gottes nicht mehr hineingehört.“
Die Botschaft Gottes aber trifft uns in dieser Welt „als Sünder“, d. h. in den verkehrten, durch die Ichhaftigkeit bestimmten Ordnungen, die in der Tat „Unordnungen“ sind, insbesondere in einer Welt des Nationalgefühls, der Rüstungsindustrie, der Übervölkerung und des daraus entstehenden Konkurrenzkampfes. „Muß man nicht sagen: aus solcher Atmosphäre muß Krieg erzeugt werden; in diese Welt gehört der Krieg hinein?“ als „Ausdruck ihres Wesens“ und als Offenbarung des uns alle beherrschenden Geistes. Das Evangelium macht aber deutlich, „daß das abgefallene, sündige, gottfeindliche Welt ist“. In dieser Welt müssen wir im Glauben stehen und sie zugleich nüchtern ins Auge fassen. Das Evangelium verwandelt weder uns noch sie; eine solche Verwandlung wird erst am Ende der Zeiten durch Gott geschehen.
Daraus folgt aber nicht, daß man die Dinge einfach sich selbst überlassen müsse; das hieße in Faulheit und Bequemlichkeit die Botschaft nicht ernst nehmen. „Wir wissen“ vielmehr um den Willen Gottes, „daß er das Reich des Friedens aufrichten will“, und Gottes Wille soll „die Wirklichkeit des Lebens treffen“, „auch die Volks- und Staatswirklichkeit der Gegenwart“. „Wer etwas weiß von diesem Anspruch Gottes an die Gesamtwirklichkeit“, „der muß in tiefster Seele beunruhigt werden durch das dunkle Phänomen des Krieges“, das „mit Gottes Lebens- und Gnadenwillen der Welt gegenüber schlechterdings nicht zu vereinigen ist; der verliert „angesichts der Tatsache des Krieges zum mindesten sein gutes Gewissen“ und muß fragen, was wir dabei zu tun haben. „Kann der Mensch auch nicht heilig werden, so kann er doch wenigstens gehorsam sein; können die Ordnungen des Lebens auch nicht in Reichsgottesordnungen verwandelt werden, so ist doch Protest gegen diese Ordnungen möglich , ein Hinweis darauf, „daß sie Unordnungen sind, die den Ordnungen Gottes zuwiderlaufen“.
„Von hier aus“ wird nun die Forderung erhoben, den Krieg so zu sehen, wie er ist, wobei als „unparteiischer Beobachter“ eine Schweizer Stimme zitiert wird. Auf den Einwand, daß „jetzt“ „das Vaterland“ mit seinem ganzen Sein auf dem Spiele stehe und daher der Krieg „als letztes und höchstes Mittel, dem Volke das zu geben, was es braucht“ zu preisen sei, wird geantwortet, so rede „der Selbsterhaltungstrieb der Nation“, — aber „sind Ruhm, Ehre, Herrlichkeit einer Nation wirklich christliche Anliegen?“ „Ich will diese Frage nur aufwerfen, gar nicht entscheiden.“ „Im besten Fall ist der Krieg eine harte Notwendigkeit, ein Akt der Notwehr, durch den ein Volk sich gegen das andere zu behaupten versucht.“ „Als Akt der Notwehr, ‚vom Gedanken der Schöpfung her‘ ergibt sich, das muß unumwunden zugestanden werden, die Möglichkeit auch für den Christen nicht eines heiligen, vielleicht auch nicht einmal eines gerechten, aber doch eines in der Verteidigung des von Gott gegebenen Lebens notwendigen Krieges.“ Dabei ist freilich zu bedenken, daß dieselbe Möglichkeit auch für den Gegner besteht.
Auf die Frage, ob ich als Christ mit gutem Gewissen an einem solchen Krieg teilnehmen könne, „ist zu antworten: vielleicht ja, vielleicht nein“. Diese Antwort erhält ihre Begründung in einer Erörterung des Gedankens der Notwehr, der doch immer auch die Möglichkeit des Opfers parallel gehe. Kann ein Volk „mit gutem Gewissen“ „in Erfüllung des Willens Gottes“ gegen ein anderes Volk vorgehen, während doch Gott „beides gibt, Anerkennung des Rechtes zum Leben“ und die Möglichkeit des Verzichtes auf das Recht der Selbstbehauptung? Dies ist eine Frage, die jeden einzelnen angeht, denn „Ich bin Volk, Ich führe Krieg“, natürlich für Volk und Vaterland, aber gegen einen Gegner, der dasselbe für sein Land tut. „Noch einmal, wir werden nicht leugnen können, daß es notwendige und darum auch von Gott um der bestehenden sündigen Welt willen gerechtfertigte Kriege gibt; aber freilich die Verantwortung für die Entscheidung ist ungeheuer groß und die Möglichkeit, daß man sich falsch entschieden hat, bleibt in jedem Fall bestehen.“
Daher ergibt sich der „biblische Rat“: „Soviel an euch ist, haltet Frieden mit jedermann.“ „Ich wage es nicht, den Rat der unbedingten Kriegsdienstverweigerung zu geben. Man kann das nicht grundsätzlich tun, wenn die Möglichkeit des notwendigen Krieges an sich besteht. Nur im konkreten Fall darf man den Dienst verweigern, wenn man denkt, es sei hier notwendig, ausdrücklich anzuzeigen, daß man Gott mehr gehorchen müsse als den Menschen“, muß dann aber auch die Folgen auf sich nehmen. Wiederum aber soll es nicht beim guten Willen bleiben, sondern dieser muß sich betätigen in der Zusammenarbeit mit den Friedensfreunden in aller Welt, auch wenn sie nicht vom Evangelium bestimmt sind. „Ich weiß wohl, es gibt viel flachen und gedankenlosen und bisweilen sogar heuchlerischen Pazifismus, aber es gibt auch viel guten Willen und viel heiße Sehnsucht der Menschen.“ Man soll, zweitens, den Krieg nicht verherrlichen, ihm nicht „ein romantisches oder gar christliches Gesicht“ geben. „Wir wollen ganz gewiß“ dem Tod fürs Vaterland „seine Würde und auch seine Größe lassen, aber ebenso gewiß wollen wir auch die Wahrheit sagen. Es wird bei dieser [romantischen] Darstellung eben außer acht gelassen, daß der, der getötet wurde, eben auch selbst hat töten wollen. Damit wird die Parallelisierung mit dem christlichen Opfertod zu einer Unmöglichkeit.“ Daher wird nun dafür plädiert, die Gefallenendenkmäler nicht in der Kirche zu er» richten, sondern die Ehrung der Gefallenen „der bürgerlichen Gemeinde“ zu überlassen; Dehn plädiert weiter für die Abschaffung der Militärgeistlichen, die unter dem militärischen Zwang nicht die Möglichkeit der freien Evangeliumsverkündigung haben, „auf die auch der Soldat Anspruch hat“; für eine Kindererziehung „in dem echten und guten Nationalbewußtsein“, das auch andere Völker als Glieder der Menschheit gelten läßt, wobei besonders die „Geschichts- und Lesebücher“ erwähnt werden, „die von nichts anderem handeln“ als von Krieg und Kriegshelden.
Der Schluß charakterisiert die Wendung, die im christlichen Denken seit 1870 in dieser Frage eingetreten sei. Im Weltkrieg habe sich vom ersten Tag ab „das geängstete Gewissen“ gemeldet. „Das ist kein schlechtes Zeichen der Zeit. Es ist ein Zeichen dafür, daß man auch im Gesamtleben der Menschen wieder Gott und seinen Willen ernst nehmen will. Noch ist vieles in unserer Seele, was den hier angeregten Gedanken widersprechen möchte, noch sind wir alle stark gebunden durch Erziehung und Tradition. Möchten wir nicht auf» hören, um diese Dinge mit allem Ernst zu bekämpfen, dem Aufrichtigen wird es Gott gelingen lassen.“
Dehn selbst hat im Lauf des Streites erklärt, daß er über diesen Vortrag hinausgekommen sei. Was den heutigen Leser daran wundert, ist wahrscheinlich die Zurückhaltung, mit der hier geredet wurde. Kann man so schnell den Krieg als „Notwehr“ rechtfertigen? Warum wird keine Antwort auf die Frage gegeben, ob das Leben der Nation ein christliches Anliegen sei? Nach welchen Gesichtspunkten muß nun zwischen Ja und Nein gewählt werden? Enthüllt sich in den Schlußsätzen der Vortragende nicht als Mann aus der Welt vor 1914? Damals aber führte der Vortrag zunächst zu einer erregten Diskussion im Konfirmandensaal der Kirche und danach zu leidenschaftlichen Anklagen. Diese wurden von Oberstleutnant a. D. von B. in einem Brief an Dehn zusammengefaßt: ein anderer Offizier, Major a. D., hat gehört, Dehn habe es für richtig befunden, „die im Weltkrieg gefallenen Helden als ‚Mörder‘ zu beschimpfen“. Die Frage, ob die Gefallenendenkmäler in die Kirche gehören, wird von dem Briefschreiber als schwerste Beleidigung nicht nur der toten Helden, sondern aller lebenden national denkenden Deutschen, besonders der Mitkämpfer des großen Krieges auf das schärfste zurückgewiesen. Eine Dame, Fräulein v. A., die von der Kriegsschuldlüge sprach, soll Dehn angefahren haben: „Halten Sie doch den Mund mit dem Unsinn.“ Der „völkische Ausschuß der deutschnationalen Volkspartei Magdeburg-Anhalt“ nahm sich der Sache an und gab einen Protest gegen die angeblichen Äußerungen in die Presse, der mit der Frage schloß: „Wie steht die evangelische Kirche als solche zu dieser Frage?“ Durch eine Eingabe von B.s veranlaßt, forderte das Brandenburgische Konsistorium Dehn zum Bericht auf.
Dehn antwortet mit dem Hinweis auf den inzwischen gedruckten Vortrag: „Es wird sich von da aus ohne weiteres eine Bewertung der von Herrn Major a. D. L. zusammengestellten Vortragsfetzen ergeben, in Sonderheit wird sich die Absurdität der Behauptung, ich hätte die Gefallenen Mörder genannt, herausstellen. Ich bemerke aber auch noch ausdrücklich, daß diese Behauptung völlig frei erfunden ist.“ Weder im Vortrag noch in der Diskussion noch im Privatgespräch sei eine Äußerung gefallen, die „auch nur im entferntesten in diesem Sinne hätte ausgedeutet werden können“. Die Bemerkung über die Kriegsschuldlüge wird aufgeklärt: „Der einzige Mißton des Abends entstand dadurch, daß eine junge Dame nach Schluß der Besprechung, als ich im Begriff war, die Treppe hinunterzugehen, mir in erregtem Ton vorwarf, man hätte kein Recht, zur Friedensgesinnung aufzurufen, wenn nicht die Frage der Kriegsschuldlüge vorher bereinigt sei“; sie habe die Antwort bekommen, „es sei Unsinn, solche Vorbedingungen an einen Christen zu stellen“. Alle Beschwerdeführer hätten übrigens einen Abdruck des Vortrags bekommen, aber trotzdem die Angelegenheit in die Presse gebracht. „Ich bitte die Behörde, dem Fragesteller deutlich machen zu wollen, daß ein evangelischer Pfarrer nicht gehalten ist, die, christlich geurteilt, höchst anfechtbare Kriegsromantik eines preußischen Oberst a. D. zu teilen.“ Am 26. März stand die Entschließung der Magdeburger Deutschnationalen im Berliner „Tag“, der dann freilich auch Dehns Berichtigung veröffentlichte; aus diesem Anlaß bat Dehn die Behörde noch einmal „um Schutz gegen diese Art von Angriffen“, die ohne Rücksicht auf die seither erschienenen Berichtigungen gegen seine Amtsehre gerichtet würden. Die am meisten umstrittene Stelle fand durch Pfarrer Jacobi eine einleuchtende Erklärung: „Fräulein v. A., sofern sie es war, die in der Diskussion sprach, hat gesagt: Wenn die Gefallenen nicht durch Tafeln in der Kirche geehrt werden, dann ist es so, als würden sie als Mörder angesehen.“ Das Wort sei also von Dehns „Hauptfeindin“ „selber ausgesprochen worden. In ihrem Kopf hat sich das dann nachher erweitert.“ Wer die Zeugin — sie ist meine Schwägerin — kennt, wird ohne weiteres glauben, daß diese Erklärung richtig ist.
Das Erstaunlichste an dem Handel aber ist nun der Konsistorialbescheid, der in zweifacher Ausführung an den Angeklagten und an die Kläger erging. Dehn wurde am 22. Juli 1929 eröffnet: „eine restlose Aufklärung der Vorgänge“ sei nicht möglich gewesen, aber es gehe „doch aus den Zeugenaussagen deutlich hervor, daß von Ihnen Worte gebraucht worden sind, die zu bedauerlichen Mißverständnissen geführt haben und vielleicht führen mußten“. Es wäre Pflicht gewesen, „die Worte sorgfältig abzuwägen und beruhigend zu wirken“; statt dessen habe er sich „einer Schärfe bedient, die gerade bei einem Pfarrer in solcher Stunde nicht zu billigen“ sei. Sein Verhalten wird bedauert, da es „in weiten urteilsfähigen Kreisen große Erregung hervorgerufen und den allgemeinen kirchlichen Interessen geschadet“ habe. Die Magdeburger bekommen zwar gesagt, daß das Wort „Mörder“ weder im Vortrag noch in der Diskussion gefallen sei, aber „offenbar hat er sich in der Erregung dazu verleiten lassen, nach Schluß der Versammlung im Einzelgespräch mit Fräulein L. von Mördern zu reden“, obwohl Dehn auch das bestreite. „Daß er nicht die Bemerkung Fräulein von A.s über die Kriegsschuldlüge, sondern die Auffassung, christliche Friedensbereitschaft müsse davon abhängig sein, daß erst die Kriegsschuldlüge bereinigt werde, als Unsinn bezeichnet hat, konnte ihm nicht widerlegt werden“. Es wird „bedauert“, daß er „es an der rechten Besonnenheit hat fehlen lassen“ und daß er Fräulein v. A. gegenüber einen Ton angeschlagen hat, der „nur aus Verärgerung und mangelnder Selbstbeherrschung zu erklären ist“.
Dehn hatte die Behörde um ihren Schutz gebeten. Diese hat durch Zeugenaussagen festzustellen versucht, was eigentlich gesagt worden ist. Dabei hat man die Aussagen Dehns und der Magdeburger Pfarrer offenbar leichter gewogen als die der Ankläger. Als solche blieben zwei Mädchen übrig[4]. Durch den ganzen Kampf hindurch berufen sich die Gegner darauf; wiederholt erscheint der Hinweis auf den Doktorgrad der Hauptzeugin und den militärischen Rang ihres Hintermannes als Beweis für die Zuverlässigkeit der Ankläger. Die Behörde bestätigt ihnen überdies ihre Urteilsfähigkeit. Dazu ist schlicht festzustellen, daß Oberstleutnant von B. den Vortrag und die Diskussion nicht gehört hat. Er war ein eindrucksvoller Vertreter seines Standes, aber auch aller seiner Vorurteile, für den schon die Aufforderung, sie zu überprüfen, eine Beleidigung bedeutete, — imponierend nicht durch seine Urteilsfähigkeit, sondern durch sein Festhalten an den überkommenen Idealen und an einer einmal gefaßten Meinung. Ob aber Fräulein von A., Doktor der Landwirtschaft, nicht weniger hartnäckig und nicht weniger als ihr Schwager befangen in allen Vorurteilen ihrer Gesellschaftsschicht, wenn auch voll ehrlichen, guten und christlich-nationalen Wollens, willens und in der Lage war, einen fremden, ihr zudem anstößigen Gedankengang objektiv wiederzugeben, hat man offenbar nicht geprüft, sondern vorausgesetzt. Das Magdeburger Kirchengericht hat offenbar die persönliche Überzeugung der Zeugen für Objektivität und Urteilsfähigkeit gehalten, — ein primitiver juristischer Fehler, auf dem dann alles Folgende beruhte. Auf die Diskrepanz der beiden Bescheide hat Martin Dibelius in seinem sogleich zu erwähnenden Votum den Finger gelegt[5]. Zum theologischen Gehalt des Vortrags Stellung zu nehmen, sah sich die Behörde nicht veranlaßt. Dehn hat am 16. September 1929 dem Konsistorium gegenüber seinem „Gefühl schmerzlicher Bitterkeit“ Ausdruck gegeben, weil man ihn nicht geschützt habe und „den Aussagen zweier aufgeregter junger Mädchen schließlich doch mehr Glauben geschenkt hat als mir, dem man zu» mutet, Äußerungen getan zu haben, deren Inhalt nicht nur dem vorliegenden Vortrag, sondern meiner gesamten öffentlichen, auch literarischen Wirksamkeit aufs stärkste widerspricht“. Die Behörde möge ihm doch zeigen, wo er die gebotene Form verletzt habe. „Sollte aber die formale Kritik Ablehnung meiner theologischen Gesamthaltung überhaupt zum Ausdruck bringen, so muß ich, damit es mir möglich ist, den gegebenen Bescheid innerlich anzuerkennen, die Behörde bitten, mir nach weisen zu wollen, daß das, was ich gesagt habe, theologisch unhaltbar und darum für die Kirche nicht tragbar gewesen ist. Bis dahin werde ich mir nicht die Überzeugung nehmen lassen, daß mein Vortrag ein rechtes evangelisches Wort gewesen ist, durch das ich den Interessen der Kirche gedient habe.“ Daß inzwischen nun auch die Linkspresse die Sache auf» gegriffen hatte, ist verständlich; Dehn versichert jedoch, „weder direkt noch indirekt“ damit das geringste zu tun zu haben.
II.
Im Dezember 1930, also rund zwei Jahre nach dem Magdeburger Vortrag, wurde Dehn als Ordinarius für praktische Theologie auf Grund eines einmütigen Votums der Fakultät nach Heidelberg berufen.
Darauf hat D. Gottfried Traub in seinen „Eisernen Blättern“ nach einem Berliner Blatt die Magdeburger Entschließung der Deutschnationalen wieder abgedruckt, ohne auf die seitherigen Vorgänge hinzuweisen, so daß die Berichtigung, die Dehn inzwischen gegeben hatte, seinen Lesern unbekannt blieb. Er fügte hinzu: „Wir veröffentlichen diese Zuschrift, weil die Heidelberger Universität schon mit dem bekannten Dr. Gumbel[6] als Professor belastet worden ist, desto mehr haben die nationalen Kreise die Verpflichtung, auf jede Besetzung an der Heidelberger Universität ein doppelt scharfes Auge zu haben.“ Der Heidelberger Dekan, Prof. Jelke, teilte diese Denunziation dem badischen Ministerium mit, und der zuständige Beamte zog daraus die Konsequenz, Dehn vorsorglich mitzuteilen, daß er „die Verhandlungen … über die Ernennung … bis zur Klärung der in Frage stehenden Angelegenheit aussetze …“ Dehn teilte diesen Bescheid seinerseits der Heidelberger Fakultät mit, überschickte dazu die Akten der Magdeburger Verhandlungen und konnte zugleich berichten, daß ihm durch den preußischen Kultusminister der Lehrstuhl für praktische Theologie in Halle angeboten worden sei. „Ich habe dem Herrn Minister erklärt, daß ich meine Entschließung ganz abhängig machte von der Haltung der Badischen Instanzen. Ich würde die Heidelberger Fakultät um eine ausdrückliche Vertrauenserklärung in Angelegenheit der gegen midi erhobenen Beschuldigung bitten und das Karlsruher Ministerium um eine, auf Grund dieses Vertrauensvotums erteilte, bindende Erklärung, daß ich zum Professor in Heidelberg ernannt sei.“ Wenn diese Bedingung erfüllt sei, entscheide er sich „selbstverständlich“ für Heidelberg. Der Minister habe ihm dafür eine Frist von acht bis zehn Tagen gesetzt; innerhalb dieser Frist möge ihm also die Fakultät „freundlicherweise bestätigen“, daß sie ihm Glauben schenke und deshalb keinen Grund sehe, um dieser Angelegenheit willen seine Ernennung zu beanstanden.
Darauf faßt die Heidelberger Fakultät mit sechs von sieben Stimmen den Beschluß: „Unbeschadet der Vertrauenswürdigkeit des Herrn D. Dehn hält die Theologische Fakultät ihn auf Grund der ihr erst jetzt bekannt gewordenen Akten für das hiesige Amt des ordentlichen Professors der praktischen Theologie etc. nicht für geeignet.“ Die Begründung sagt: „Aus den amtlichen Zeugenaussagen geht klar hervor, daß die Herrn Dehn belastenden Zeugen resp. Zeuginnen bei ihren Vorwürfen verharren und dieselben auch eidlich zu erhärten bereit sind und bleiben, während der Freund Pfarrer Dehns, Pfarrer Jacobi, bei der Verhandlung vor der Behörde eine ausreichende Erklärung zu erbringen nicht imstande war.“ Dehn sei amtlich nicht, „schuldig gesprochen“, aber „auch nicht gerechtfertigt“ worden. Die Fakultät könne sich der Tatsache nicht verschließen, „daß die Zeugen gegen Dehn ihre Aussagen aufrecht erhalten“; danach werde Dehn in Heidelberg in unabsehbare Verwicklungen geraten und werde der Fakultät und der ganzen Universität unabsehbarer Schaden erwachsen. Martin Dibelius hat dazu, gestützt auf einen Brief des Berliner Generalsuperintendenten D. Karow, ein Sondervotum eingereicht und erklärt, „daß Pfarrer Dehn zum Lehrer gerade der akademischen Jugend voll geeignet ist“. Er charakterisiert die Bescheide des Konsistoriums als zweideutig, „da den Anklägern eine Möglichkeit zugegeben wird, die man dem Angeklagten nicht zu eröffnen wagt“; die psychologische Erklärung der Zeugenaussagen durch Jacobi und Karow findet er einleuchtend. „Die ‚Eisernen Blätter‘ haben eine alte, von Dehn immer bestrittene und z. B. in der ‚Kreuzzeitung‘ restlos zurückgenommene Beschuldigung aufgegriffen mit dem Zweck, der Hochschule Gumbels Verlegenheit zu bereiten.“ „Wenn ich vor solchen Angriffen zurückweichen würde, nur weil Studentengruppen, unkundig und unkritisch, widersprechen, denen die Richtung Dehns unsympathisch ist, so würde ich dazu helfen, Dehn, der ja bereits berufen ist und angenommen hat, in aller Öffentlichkeit entscheidend zu belasten. Ich kann und will das nicht tun. Ich bin auch nicht in der Lage, Opportunitätsgründen Gehör zu geben, wenn das Recht eines künftigen Professors in Frage gestellt ist, seiner Überzeugung in den Grenzen des Taktes freien Ausdruck zu geben. Ich müßte meine Theologie, meine wissenschaftliche Ehre und mein ganzes bisheriges Leben verleugnen, wenn ich an diesem Punkte verzichten wollte.“
Für Dehn war freilich mit dem Votum der Fakultät die Entscheidung gefallen. Er hatte eine Vertrauenserklärung gefordert, die ihm von der großen Mehrheit verweigert worden war. Darauf verzichtete er am 28. Januar 1931 auf die Heidelberger Professur. Daran vermochte auch ein bedauernder Brief des badischen Ministers Remmele nichts mehr zu ändern. Die Dehnschen Dokumente enthalten übrigens noch zwei Briefe von Heidelberger Fakultätsmitgliedern, die ihr Votum ausschließlich mit den besonderen Verhältnissen in Heidelberg zu erklären suchen. Nach der Verzichterklärung schloß sich der Heidelberger Senat dem Votum der Fakultät an; aber nach der Verhandlung im Großen Senat erklärten sich siebenundzwanzig Professoren anderer Fakultäten „für nicht überzeugt, daß die Gründe für eine Zurücknahme des Berufungsvorschlags nach angenommener Berufung ausreichend waren[7]“.
III.
Der Berufung Dehns nach Halle waren interne Schwierigkeiten vorausgegangen, die erst nach und nach ins Licht traten. Der sozialdemokratische Minister hatte die Vorschlagsliste der Fakultät zurückgegeben und die Berufung eines Mannes gefordert, „der dem Proletariat nahe stehe“ und seinerseits Vorschläge gemacht. Die Fakultät hatte die andern Genannten, unter ihnen anscheinend Emil Fuchs und Piechowski, abgelehnt, Dehn freilich auch beanstandet, weil er sich auf dem Gebiet der praktischen Theologie wissenschaftlich noch nicht ausgewiesen habe, ihn aber immerhin als „nicht untragbar“ bezeichnet. Auf dieser Grundlage hatte der Minister mit Dehn verhandelt. Anfängliche Bedenken Dehns hinsichtlich der Stellung der Fakultät wurden durch Prof. Eger durch die Auskunft beschwichtigt, die Vorbehalte der Fakultät dienten nur dazu, ihre Stellung gegenüber dem Minister zu wahren. Diese Vorgänge gaben den Gegnern Dehns insofern einen Schein von Recht, als sie sich auch als Wahrer der akademischen Lehrfreiheit aufspielen konnten.
Sofort nachdem die Berufung bekannt geworden war, begann auch der Widerstand. Bereits am 4. Februar 1931 verteilte die Hochschulgruppe des nationalsozialistischen deutschen Studentenbundes ein Flugblatt: Herr Dehn „ist Pazifist“, „ruft zur Kriegsdienstverweigerung auf“, „fordert die Entfernung der Gefallenengedenktafeln aus der Kirche“, „will die deutschen Kinder zum krassesten und feigen Pazifismus erziehen“. „Wir wollen ehrliche deutsche Männer als Professoren unserer Hallischen Universität haben. Oder willst du Gumbel-Geist bei uns einziehen lassen?“ Der Senat verbot darauf die Ortsgruppe des NS-Studentenbundes bis zum 1. März 1932, „weil ihr Bestehen die akademische Disziplin gefährdet“. „Form und Inhalt des Flugblattes lassen ohne weiteres erkennen, daß D. Dehn verunglimpft und verächtlich gemacht werden sollte.“ Der ganze Kampf wird als Verleumdung charakterisiert. „Die Universitäten haben von jeher die Freiheit der Wissenschaft und ihrer Lehrer als ihr besonderes Vorrecht und wertvollstes Gut betrachtet. Es ist einer Vereinigung von Studierenden daher unwürdig, einen zum Dozenten berufenen Mann wegen eines tief ernsten, religiös-wissenschaftlichen Vortrags mit Mitteln und in Formen anzugreifen, welche in den Niederungen des politischen Parteikampfes üblich sind.“
Die Schwierigkeiten waren damit freilich nicht behoben. Eine Studentenversammlung protestierte am 23. Februar „gegen die Berufung Dehns und gegen den Polizeiterror“. Dehn war im S. S. noch beurlaubt; zum Beginn des W. S. erreichte die Aktion gegen ihn ihren Höhepunkt. Zu Anfang Oktober verkündigte der Ferienausschuß der „Deutschen Studentenschaft“ den Beschluß, die Universität Halle zu verlassen, da in der Angelegenheit Dehn „nach monatelangen Besprechungen zwischen Studentenschaft, Fachschaften und studentischen Vereinigungen einerseits und Rektor und Senat und Professorenschaft andererseits“ „keine Einigung erzielt werden konnte“. In der Begründung dazu wird gesagt, die Studentenschaft habe versucht, „die Professorenschaft davon zu überzeugen, daß jeder deutschdenkende und deutschfühlende Volksgenosse einem Manne, der dem Opfertode unserer gefallenen Kommilitonen und Frontkämpfer mit Zweifeln begegnet, glühenden Haß und tiefste Verachtung entgegensetzen müsse“; „daß ein Mann, der der Kriegstdienstverweigerung Rechte einräumt, schwerstes Verbrechen gegen Volk und Vaterland begeht“. Die Berufung Dehns, „unter Umgehung der Wünsche der Fakultät“, müsse „die schärfste Mißbilligung aller akademischen Kreise erfordern“. Das Magdeburger Urteil wird wieder herangezogen, um Dehns mangelnde Eignung zu beweisen. „Rektor und Senat haben geglaubt, durch das Verbot des nationalsozialistischen Studentenbundes den stärksten Rufer und Mahner für deutsche Ehre und deutsches Wesen mundtot und die Studenten gefügig zu machen. Sie haben geglaubt, durch Polizeiaktionen und durch Drohung mit Gummiknüppelattacken und unter Hinweis auf die wirtschaftliche Not der Studenten den Studenten den Willen zur Tat rauben zu können. Nichts von alledem haben sie erreicht, wohl aber hat man dem Studenten den Glauben an seine akademischen Führer aus der Brust gerissen; denn die deutsche Jugend hielt es stets für die höchste vaterländische Pflicht ihrer Lehrer, sie immer wieder zu jeder Zeit und jeder Stunde auf ihre kommenden Aufgaben hinzuweisen und ihnen einzuhämmern, daß die Jugend einst den Mut, die Kraft und die Energie aufbringen muß, das Sklavenjoch zu zerbrechen und das deutsche Volk einem besseren Morgen entgegenzuführen.“
Dieser Beschluß brachte die „Arbeitsgemeinschaft deutscher Geschäftsleute“ auf den Plan, die die Verschlechterung der Geschäftslage befürchtete und im Namen von Witwen und alleinstehenden Frauen, die von der Zimmervermietung lebten, „die Abberufung des Pfarrers Dehn“ forderte, „der es gewagt hat, unsere im Feld gefallenen Angehörigen als Mörder zu bezeichnen“. Man hatte inzwischen in Dehns Vergangenheit gewühlt und machte es ihm zum Vorwurf, daß seine Gemeinde der verstorbenen Kaiserin das Glockengeläute verweigert habe. Aber Rektor und Senat stellten sich hinter Dehn, weil sich „nach reiflicher und verantwortungsbewußter Prüfung“ ein ganz anderes Bild ergeben habe „als jenes Zerrbild, das sich die Deutsche Studentenschaft… hat suggerieren lassen und das nun auch der Bürgerschaft der Stadt Halle suggeriert werden soll“: die Studentenschaftsführung habe nicht versucht, „durch persönliche Fühlungnahme mit Herrn Dehn ein wirkliches Bild von seiner Persönlichkeit zu gewinnen“; sie hätte sonst erkennen müssen, „daß Prof. Dehn es auf das entschiedenste ablehnt, Marxist oder Pazifist zu sein, daß er nur als völlig unpolitischer Mensch rein gewissensmäßig mit dem Problem Staat und Christentum ringt“. Rektor und Senat seien entschlossen, „ihm jeden Schutz angedeihen zu lassen, den seine Person und das alte Grundprinzip der deutsehen Hochschulen, die Freiheit der Lehre und Forschung, beanspruchen können“. Wenn Dehn dem Zerrbild entsprechen würde, daß man sich von ihm mache, so wäre seine Ablehnung gerechtfertigt; aber Rektor und Senat appellieren an „die einsichtigen Kreise der Studentenschaft“, insbesondere an „jene studentischen Kreise, die mit der ruhmreichen Geschichte der Universität Halle auf das engste verknüpft sind“, sich nicht von Schlagworten einfangen zu lassen, „sondern nach dem Grundsatz akademischer Wahrhaftigkeit erst einen Mann [zu] prüfen, ehe sie ihn ungesehen verurteilen“. Es sei ein gefährliches Spiel, wenn man Dehn am Antritt seines Amtes hindern wolle oder ihn mit einem allgemeinen Exodus beantworte; die Universität laufe damit Gefahr, „für die Dauer geschlossen zu werden“.
Darauf antwortete ein Astamitglied am 22. Oktober in der „Saalezeitung“ in einem offenen Brief an Rektor und Senat, der hier als Beispiel für den Ton dieser Kreise wiedergegeben wird: „Wir verwahren uns weiter gegen die Behauptung, daß wir uns ein ‚Zerrbild‘ hätten suggerieren lassen und dieses Zerrbild nun auch der Bürgerschaft suggerieren wollten. Wer unvoreingenommen Herrn D. Dehns Worte in seiner Magdeburger Rede beurteilt, muß zu dem Schluß kommen, daß Herr D. Dehn in seinem Denken ein Marxist und Pazifist ist. Es ist uns Studenten gleichgültig, ob Herr D. Dehn gern als solcher bezeichnet sein möchte oder nicht. Wir müssen uns an die Tatsachen halten.“ „Wir haben stets betont, daß wir Gegner irgendwelcher Unruhen an der Universität sind. Wir werden aber unter Einsatz aller unserer Kräfte den Kampf gegen Herrn D. Dehn weiterführen, denn wir sehen in Herrn D. Dehn nach wie vor den Vertreter marxistisch-pazifistischen Geistes, d. h. eines Geistes, der dem Volk und insbesondere der deutschen Jugend nur gefährlich werden kann.“
Am 23. Oktober erfolgte die Gegenerklärung der „Deutschen Studentenschaft“. Die Berufung Dehns bedeute eine Kompromißlösung; „die Deutsche Studentenschaft steht auf dem Standpunkt, daß nicht Kompromißlösungen den Weg zu Taten ebnen, sondern im Gegenteil offenes Bekenntnis“. Die Deutsche Studentenschaft betrachtet es als ihr Recht und ihre höchste und vornehmste Pflicht, zu jeder Zeit ihre Gedanken und Ideen offen zu bekennen. Sie lauten: „Ein Lehrer und Führer …, der sich nicht bedingungslos und klar für eine nationale Wiedererstarkung einsetzt, wird kategorisch mit der ganzen elementaren Kraft einer Empörung abgelehnt, deren die deutsche Jugend fähig ist.“ Die Deutsche Studentenschaft habe die Unterlagen „aufs genaueste“ geprüft, sei allerdings der Meinung, „daß über Zeugen, die akademische Grade erworben haben und die hohe militärische Ränge bekleideten, nicht hinweggegangen werden kann, Zeugen, die jederzeit bereit sind, die Aussagen D. Dehns den Universitätsstellen gegenüber unter Eid zu entkräften“. Die Deutsche Studentenschaft handelt nicht auf fremde Weisung; „im Gegenteil, ihre Stellung» nähme wird aus ihrer innersten Überzeugung und aus dem Verantwortungsbewußtsein gegen die hallischen Kommilitonen heraus diktiert“. Fühlungnahme mit Herrn Dehn selbst aber könne man der Studentenschaft nicht zumuten, denn „wie können deutsche Studenten mit einem Manne Fühlung nehmen, der nach seinen Äußerungen und aus seiner Grundeinstellung heraus pazifistischen und marxistischen Gedankengängen huldigt, wenn er es auch heute nicht gern mehr zugeben möchte? Man bedenke, daß er Mitglied der SPD war, daß er der Gruppe der religiösen Sozialisten nahesteht, und daß von ihm behauptet wird, er habe nahe Beziehungen zur Deutschen Friedensgesellschaft[8], die nach dem Urteil eines deutschen Gerichts von Frankreich Verrätergelder empfing“. Freiheit der Lehre und der Forschung sind auch der „Deutschen Studentenschaft“ heilig, „aber sie ist der Ansicht, daß man unter dem Deckmantel der Freiheit der Lehre andere Menschen nicht in ihrem innersten Denken und Fühlen beleidigen darf, daß man nicht unter dem Deckmantel der Freiheit der Lehre Dinge herabwürdigen darf, an denen Millionen von Menschen mit ihrem ganzen Herzen hängen“. So sieht die Studentenschaft keinen Anlaß, ihre Stellungnahme zu ändern; sie „betrachtet es als ihr heiligstes Recht und ihre sittliche Pflicht, weiter für ihre Anschauungen zu kämpfen bis zum Siege“; die Verantwortung für etwaige Folgen tragen Rektor und Senat, „die es für gut befunden haben, einem unmöglichen Manne den Frieden und das Wohl einer altehrwürdigen Universität mit ruhmvoller Tradition zu opfern“. Die „deutschnationale Studentengruppe“ beruft sich in ihrer Kundgebung wieder auf die Zeugen, die zum Eid bereit seien, und erwartet unter Berufung auf sie, daß Dehn „von selbst um seine Abberufung nachsucht oder … sich der Studentenschaft offen gegenüberstellt“. „Wollen die evangelischen Kirchen“ „die alte Lutheruniversität“, die „nationale Hochburg“ und den Kampf ihrer Studenten nicht unterstützen? — Der Auszug der Studentenschaft ist freilich ein letztes Mittel, das erst eingesetzt werden soll, wenn alle andern Mittel versagt haben. Der „Kampfring der christlich-deutschen Bewegung“ erklärt in der Saalezeitung am 27. Oktober: „Ein Mann, der den sittlichen Gedanken der Verteidigung von Volk und Vaterland so weit herabwürdigt, daß er es dem einzelnen überläßt, im ‚konkreten Falle‘ den Kriegsdienst zu verweigern, ist als akademischer Lehrer nicht zu ertragen“; er habe in Magdeburg von Selbstopfer und Verzicht gesprochen und möge dies nun selbst üben. Die Erklärung selbst erläutert: „Wir möchten betonen, daß zu den im Kampfring … zusammengeschlossenen Verbänden neben Kreisen der Geistlichkeit die Deutschnationale Volkspartei, die Nationalsozialisten, der Stahlhelm, die Offiziersverbände, die Deutsche Studentenschaft und der Hochschulring gehören.“ Eine sachliche Erklärung des Dekans der theologischen Fakultät mit einer ebenso sachlichen Darlegung Dehns wurde in dem Tumult offenbar überhaupt nicht gehört.
Am 3. November, nachmittags 5 Uhr, begann Dehn seine Vorlesung. Der Regierungspräsident von Harnack hatte Polizei als Saalschutz angeboten, die Dehn abgelehnt hatte. Der Hörsaal war von gegnerischen Studenten besetzt, die ihn zunächst nicht zu Wort kommen ließen. Das Deutschlandlied und „Burschen heraus“ übertönten den Vortrag. Eine Gruppe von aufmerksamen Zuhörern scharte sich um Dehn; als der Tumult zu laut wurde, griff er zur Kreide und schrieb an die Tafel. Dann betrat der Vorsitzende der Studentenschaft den Saal, um dem anwesenden Rektor zu melden, daß er die draußen drängenden Studenten nicht mehr halten könne; kurz danach wird die Tür von außen gesprengt; der Rektor mahnte zur Ruhe; bald danach erschien die vom Regierungspräsidenten bereit gehaltene Polizei, lärmend von den Studenten begrüßt. Sprechchöre tönten: „Dehn raus!“ „Schmeißt ihn raus!“, aber auch „Dehn hoch!“ Der Rektor versprach die Entfernung der Polizei, falls die Studentenschaft verspreche, Dehn ruhig anzuhören. Das wurde mit dem Ruf: „Nie, niemals!“ beantwortet. Unterdessen hielt Dehn seine Vorlesung im Saal weiter; ca. 30 Studenten erklärten, daß sie sie hören wollten. Am Ende der Stunde verließen der Rektor und Dehn den Saal unter Polizeibedeckung; „draußen bildeten die Studenten Spalier mit Hitler-Gruß, ohrenbetäubendem Lärm und wüsten Beschimpfungen“.
Am 4. November wurde die Vorlesung auf abends 8 Uhr verlegt, weil man hoffte, daß die protestierenden Studenten um diese Zeit mit ihren Versammlungen beschäftigt sein würden. Es sollten nur solche Studenten zugelassen werden, die einen persönlichen Sonderausweis besaßen. Trotzdem war der Saal wieder überfüllt. Die Pedelle verlangten von jedem, der keinen solchen Ausweis hatte, eine persönliche Rücksprache mit Dehn, während der Dekan der juristischen Fakultät sich erbot, in einem andern Hörsaal auf die rechtlichen Fragen Auskunft zu geben und den Studenten klarzumachen, daß sie sich widerrechtlich in diesem Hörsaal befänden. Die Mehrheit war nicht bereit, ihn anzuhören. Danach erschien der Rektor und forderte die Studenten auf, den Saal zu verlassen, sonst werde er disziplinarisch vorgehen. Es kam der Einwand, „daß sie gehindert würden, einen so umkämpften Mann im Kolleg kennenzulernen“, worauf der Rektor erwiderte, sie könnten bleiben, wenn sie versprächen, ruhig zuzuhören. Es blieben ca. 55 Studenten. „Prof. Dehn, nunmehr vom lebhaften Getrampel seiner Zuhörer begrüßt, begann darauf sofort seine Vorlesung über Religionspädagogik, die in völliger Ruhe angehört wurde. Lebhaftes Getrampel, das den Dank für die Sachlichkeit der Vorlesung zu bedeuten schien, beschloß auch das Kolleg.“ Danach kam es freilich vor der Universität zu Auftritten und Schlägereien zwischen den Hörern Dehns und gegnerischen Studenten, bei denen die Polizei vom Gummiknüppel Gebrauch machte; Dehn selbst kam, vom Rektor begleitet, unangefochten nach Hause. Der in den Dokumenten abgedruckte Bericht sagt darüber nur, die Umgebung der Universität sei von der Polizei gesäubert worden. Nach einem Bericht der Vossischen Zeitung vom 9. Februar 1932 sind sieben dabei verhaftete Studenten wegen Landfriedensbruchs, in einem Fall verbunden mit Körperverletzung, bzw. wegen groben Unfugs unter Zubilligung mildernder Umstände zu Gefängnis- bzw. Haftstrafen von 4 bis 8 Monaten verurteilt worden.
Die „nationalen Studentenverbände“ faßten am selben Tag den Beschluß, für den Augenblick von einem Auszug aus Halle abzusehen, aber „den Kampf gegen D. Dehn bis zum siegreichen Ende durchzuführen, koste es, was es wolle“. „Denn es geht um den nationalen Bestand der Universität. Die Studentenschaft erblickt in D. Dehn den Gegenspieler des nationalen Wollens. Nie und nimmer kann ein solcher Mann in einer solchen Zeit, wo unser Volk um sein Leben in des Wortes tiefster Bedeutung ringt, Wegweiser für die theologische Jugend sein. Wenn jetzt D. Dehn seinen eigenen Grundsatz des Opfers in der Anwendung auf sich selbst mißachtet und seine Vorlesungen beginnt, so ist das nichts anderes als eine Kampfansage an das nationale Wollen überhaupt.“ Die Studentenschaft wird also nicht mehr chargieren, solange D. Dehn in Halle lehrt. Sie fordert überdies den Rücktritt des derzeitigen Rektors, weil sein Wille, „D. Dehn mit allen Mitteln zu halten“, nicht dem einheitlichen Willen der Dozentenschaft entspreche. „Die Studentenschaft wird nie von dem Kampf gegen einen Mann ablassen, den sie als Vertreter einer Richtung ansieht, der sie aus tiefster Überzeugung das Lutherwort entgegensetzen muß: ‚Ihr habt einen andern Geist als wir.‘“
Zwei Tage später lehnten der Hochschulring Deutscher Art und die Studentenschaft eine Aussprache mit dem Rektor und den Dekanen der juristischen und der theologischen Fakultät ab, weil sie einen „besseren Weg gefunden zu haben“ glaubten: sie forderten nun, um die Einheit zwischen Lehrenden und Lernenden wiederherzustellen, den Rücktritt des Rektors. „Weitere Demonstrationen lehnen wir grundsätzlich ab, da uns das Wohl der Universität höher steht als die Lehrtätigkeit eines in seinem Charakter und in seinen Anschauungen sehr fragwürdigen Dozenten.“ Aber auch: „Den von unserer inneren Einstellung diktierten Kampf werden wir keineswegs aufgeben, sondern auf noch breiterer Basis mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln weiterführen.“ Dies nannte man einen „Burgfrieden“.
Der Senat der Universität dagegen sprach dem Rektor, Prof. Aubin, das Vertrauen aus, nahm seinen Rücktritt nicht an und stellte sich auch hinter Dehn, indem er das Wort von dem „fragwürdigen Charakter“ brandmarkte. Die Theologenschaft der Universität verwahrte sich ebenfalls gegen diese Beschimpfung Dehns. Am 11. November sprach auch eine Dozentenversammlung dem Rektor und dem Senat das Vertrauen aus, — einig in der Überzeugung, „daß die Studenten, obwohl sie falsche Wege gegangen sind, von reinen, edlen Gefühlen zum Vaterland und zu unserer Universität getrieben wurden“. Es wird anerkannt, „daß die Studenten, durch die gleiche Gesinnung geleitet, aus Rücksicht auf das Wohl unserer alma mater ihre Kampfesweise geändert haben“. Obwohl die Vorgänge vom 3. und 4. November bedauert werden, heißt es: „Durch die jetzige Haltung der Studenten ist die Grundlage wiederhergestellt, auf der Lehrer und Lernende in gegenseitigem Vertrauen die innere Gemeinschaft neu aufrichten können zum Wohl unserer Hochschule und unseres geliebten Vaterlandes.“ Am selben Tage richtete freilich eine „mitteldeutsche Studentenkundgebung“ von 2000 Studenten aus Halle, Leipzig und Jena auf dem Marktplatz in Jena „scharfe Angriffe gegen Prof. Dehn und den preußischen Kultusminister Grimme“. „In einer Entschließung wurde zum Ausdruck gebracht, daß man gegen Dehn, Grimme und Aubin und sämtliche hinter Dehn stehenden Dozenten mit allen Mitteln auf sämtlichen deutschen Hochschulen und besonders in Halle kämpfen werde, bis Dehn zurückträte.“ Es ist die Rede von „solchen Schändern deutscher Ehre“. In Halle nahm die Deutsche Studentenschaft „mit dem Gefühl dankbarer Genugtuung“ die Anerkennung ihrer Motive durch die Dozenten zur Kenntnis, erklärte sich aber auch „dessen voll bewußt, daß der Kampf gegen D. Dehn in keiner Weise dadurch berührt wird. Im Gegenteil, sie glaubt in den Worten der Professoren ihre Absicht bestätigt zu finden, den Kampf weiterhin mit aller Energie auf der neugewonnenen Grundlage fortzusetzen“. Zugleich sagt sie dem Rektor Aubin den Kampf an, „der es versäumte, die Wünsche und Ideen der Studentenschaft zu verstehen, und der es versäumte, durch Einsatz seiner Persönlichkeit in den kritischen Stunden am 3. und 4. November die Wogen der Erregung zu dämmen“.
Aber auch die Gegenwirkungen machten sich jetzt bemerkbar. Die Theologenschaft in Halle blieb freilich neutral, bat sogar um die Errichtung einer zweiten praktischen Professur[9]. Die Leipziger Fachschaft dagegen verurteilte die Hallischen Ausschreitungen und stellte sich zu ihrem deshalb angegriffenen Vorsitzenden. Der Bonner Professor Tillmann, katholischer Theologe und Vorstand des Verbandes deutscher Hochschulen, dankte dem Haller Rektor für sein Eintreten für die akademische Lehrfreiheit, „die heute mehr denn jedes Schutzes gegen Eingriffe bedarf, von welcher Seite sie auch kommen mögen“. Siebenundzwanzig der jungevangelischen Bewegung nahestehende Theologen der Provinz Sachsen und Anhalt verlangten eine Stellungnahme der Kirche in dem Sinne, daß diese der agitatorischen Verwertung der Konsistorialbescheide entgegentreten, die terroristischen Formen des Kampfes verurteilen und zum Ausdruck bringen sollte, „daß es um der Wahrung der Freiheit des Gewissens und der theologischen Lehre willen im Sinne der Kirche ist, wenn Dehn auf seinem Platze ausharrt“; „sie würden es als ein Versäumnis ansehen, wenn die Kirche nichts dazu täte, um zu verhindern, daß ein um Kirche und Theologie hochverdienter und in seinem theologischen Denken streng an die Bibel und an die Reformation gebundener Mann aus ihren Reihen ungeschützt einer unsachlichen Hetze zum Opfer fiele[10]“. Der Leipziger Studentenpfarrer Gerhard Kunze richtete am 13. November einen (allerdings erst etwas später veröffentlichten) Brief[11] an die „Deutsche Studentenschaft“, in dem er, selbst ehemaliger Studentenschaftier, sich gegen die Hallischen Vorgänge wandte und besonders die Doppelzüngigkeit hervorhob, mit der man den Begriff der Lehrfreiheit gebrauchte: „Die Jenaische Studentenschaft hat im Falle Günther[12]113 den Minister beglückwünscht, der sich in beispielloser Weise über alle Rechte der Hochschule hinwegsetzte. Im Falle Dehn greift die Studentenschaft den Minister an, der unter Bewilligung der zuständigen Hochschulbehörden einen Professor beruft. Wer soll da noch zu überzeugen sein, daß es der Studentenschaft heute wirklich um Rechte und Wesen der Hochschule geht?“ Um dieselbe Zeit erklärten sich die Professoren Karl Barth, K. L. Schmidt, Martin Dibelius, Otto Piper und Georg Wünsch „persönlich und sachlich solidarisch“ mit Dehn und machten die Hallischen Studenten „auf die groteske Situation aufmerksam“, „die sich bei diesem Sachverhalt für die auf Grund jener Parole von Halle Abwandernden auswärts ergeben könnte“; G. Wünsch hat freilich nachher seine Erklärung (aus theologischen Gründen) stark eingeschränkt[13]. Eine zweite, von einunddreißig Professoren unterschriebene Erklärung begnügte sich damit, „jeden Versuch studentischer Kreise, D. Günther Dehn an der akademischen Lehrtätigkeit zu hindern, auf das schärfste zu verurteilen“. Rade stellte in der Christlichen Welt (1931, S. 1117) fest: „Unsere Marburger Fakultät ist wie ein Mann für Dehn eingetreten. Wenn die Erklärungen bisher nicht mehr Namen aufwiesen, so liegt das an der Regie.“ Gegen Ende des Jahres schreibt Rade gegen einen Artikel des Magdeburger Superintendenten D. Danneil, der nun auch zum Ritter an dem Gehetzten werden wollte: „Man lasse doch nun den Mann auf seinem Platze stehen und warte, was er leistet.“ Aber mit so viel Vernunft hat man in dieser Sadie nicht rechnen können!
IV.
Dehn konnte in äußerer Ruhe sein Kolleg lesen. Kurz vor Weihnachten aber veröffentlichte er seine Dokumentensammlung mit einem Nachwort, von dem er eine Klärung und Entspannung erhoffte, wo er freilich auch seinen Standpunkt frei und offen vertrat. „Ich habe mich nicht zu entschuldigen. Ich brauche mich auch nicht zu rechtfertigen. Bei denen, die wissen, worum es geht, bin ich längst gerechtfertigt, vor Menschen aber, deren Ohr nicht geöffnet ist, kann ich mich sowieso nicht rechtfertigen.“ Er will vielmehr den durch die Zeitungen verwirrten, vorurteilslosen Menschen das Material in die Hand geben, um „zu erkennen, was hier eigentlich vorliegt, ein Kampf modernen, dämonisierten, politischen Denkens nicht nur gegen die Freiheit der Wissenschaft, sondern … gegen die Freiheit der Kirche, der man das Recht bestreiten will, auch in der Kriegsfrage das zu sagen, was sie in der Furcht Gottes zu sagen gehalten ist“. Er weist die einzelnen Vorwürfe zurück, die man gegen ihn erhoben hat; entscheidend aber scheint ihm der Satz, daß Gott auch über dem Staate stehe. Er charakterisiert seine Magdeburger Gegner, stellt die Differenz der beiden Konsistorialbescheide ins Licht und stellt die Reihe der ständig wiederholten Falschmeldungen richtig, wobei er auch sein Verhältnis zum „Marxismus“ offen darlegt. Das ihm angesonnene „Selbstopfer“ könne er nicht auf sich nehmen, weil es bedeuten würde, daß er eine Schuld anerkenne, die nicht vorliege; es gehe nicht nur um die Lehrfreiheit, sondern um die Sache der Kirche. „Vielleicht ist das, was sich in Heidelberg und Halle ereignet hat, nur ein Vorspiel kommender Ereignisse, wo ein machtpolitisch orientierter Staat, der von seiner Verantwortung Gott gegenüber nichts mehr weiß, von der Kirche entweder völligen Gehorsam verlangen oder sie für staatsgefährlich erklären wird. Es kann sein, daß die Kirche der Gegenwart an der Schwelle schwerster Kämpfe mit dem modernen Nationalismus steht, in denen sie in ihrer Existenz gefordert sein wird. Soll ich diesen kommenden Auseinandersetzungen dadurch ein böses Vorzeichen geben, daß ich feige nachgebe und im Interesse meiner persönlichen Ruhe dem Angriff ausweiche? Hier muß Widerstand geleistet werden.“ Darauf folgen die Sätze, die man ihm am meisten verdacht hat und die offenbar direkt gegen die Hallische Dozentenerklärung gerichtet sind: „Man pflegt der Jugend in ihren gegenwärtigen Kämpfen ja meist einen, wenn auch irregeführten Idealismus lobend zuzugestehen. Ich möchte dagegen doch ernste Bedenken äußern. Verzerrter Idealismus ist Dämonie. Es ist ja einfach nicht wahr, daß diese fanatische, meinetwegen religiös gefärbte, tatsächlich aber von Gott gelöste Vaterlandsliebe dem Vaterland wirklich hilft. Im Gegenteil, sie wird das Vaterland ins Verderben führen. Weil hier Maß und Ziel für sachliches, wirklich verantwortliches Handeln, wie es nur der an Gott gebundene Mensch haben kann, fehlen. Wir haben keinen Anlaß, die Jugend in ihrem vielfach bedenkenlosen Handeln womöglich noch zu feiern, sondern wir sind verpflichtet, ihr auf das ernsteste entgegenzutreten, sie zu warnen und zum Gehorsam gegen Gott zurückzuführen. Es besteht sonst die Gefahr, daß ihr Tun ganz und gar in undeutschen Zynismus ausartet, der nur noch zerstörend wirken kann. Nur wer Gott wirklich über alle Dinge setzt, kann auch seinem Vaterlande wirklich dienen.“
Diese Veröffentlichung wurde nun in Halle als Bruch des „Burgfriedens“ aufgefaßt und gab Anlaß zu einer neuen öffentlichen Kampagne. Jetzt erst bekommt der Kampf seine größte Bitterkeit. Jetzt tritt eine Reihe von Dozenten offen in das Lager der Studenten. Jetzt wird der Kampf auch „theologisch“ geführt, — nicht mit theologischen Argumenten, sondern indem sich namhafte Theologen an der Auseinandersetzung beteiligten. Die Atmosphäre in Halle muß nachgerade unerträglich geworden sein; Dehn charakterisiert sie in einem Brief: „Ich kann Ihnen die Versicherung geben, daß es mir manchmal fast unmöglich zu sein scheint, in dieser aus Kälte, Verachtung und Haß gegen mich erfüllten Luft auch nur einen Tag weiter existieren zu können.“ Der Privatdozent, der mittags Dehns Kaffee trank, um abends Flugblätter gegen ihn zu verfassen, hat sich seiner Erinnerung eingeprägt und soll hier auch nicht ganz vergessen werden.
Die „Studentenschaft“ erklärte bereits am 12. Januar den „Burgfrieden“ „wegen der persönlichen und gehässigen Ausführungen Professor Dehns“ für gebrochen. Die „Sturmfahne“, das Blatt der NS-Studenten, richtete mehrere Artikel gegen das Nachwort, in denen der „Idealismus“ mit dem Christentum gleichgesetzt wurde. Man sei bereit, sich den jung gebliebenen Alten unterzuordnen, aber zwischen Dehn und der Jugend könne keine Beziehung entstehen, „weil er ihren Kampf nicht verstehe“. „Ich behaupte, daß in unseren Reihen die Menschen stehen, die ihr Christentum nicht nur im Herzen fühlen, sondern auch in der Tat beweisen. Nur ein Mann, der tief gottesfürchtig ist und ein gewaltiges Gottvertrauen besitzt, konnte dem deutschen Volk die Idee des Nationalsozialismus bringen. Und nur wahre Christen konnten durch alle Stürme der vergangenen Jahre fest und entschlossen einen solchen Kampf bestehen.“ „So werden wir denn den Kampf gegen den neu eingezogenen undeutschen Geist an der Universität Halle weiterführen mit allen Mitteln, die uns zu Gebote stehen. Denn nach unserer Ansicht ist die Universität ein Teilgebiet in dem Kampf um Deutschlands Wiedergeburt. Wenn wir den undeutschen Geist aus Hochschule und Fabrik gebannt haben, dann wird der Weg für die Jungen frei. Und dann wird sich zeigen, daß das junge Deutschland fähig ist, sein Schicksal zu meistern und sich sein Vaterland zu bauen. Das ist unser Ideal, Herr Professor! Ihm haben wir uns verschworen. Wenn das in Ihren Augen Dämonie ist, gut! Dann nehmen wir das lächelnd hin. Uns ist es gleichgültig, ob wir in den Augen der andern als Idealisten oder als ‚Dämonen‘ siegen. Nur siegen wollen wir, um Deutschland zu retten.“
In der Studentenversammlung vom 20. Januar 1932 „kam erneut der einheitliche, geschlossene Wille der Studentenschaft zum Ausdruck, verstärkt zu kämpfen, bis endlich der Ehrenschild der Lutheruniversität rein gewaschen sei“, wobei der Jurist Prof. Boehmer „uns zeigte, daß auch die hallischen Professoren Herrn Dehn die Antwort nicht schuldig geblieben sind[14]“. Ein Aufruf der „Deutschen Studentenschaft“ sagt: „Das Nachwort in dieser Broschüre strotzt geradezu von Beleidigungen gegen die hallischen Studenten. All unsere studentischen Begriffe und Ideale werden in den Schmutz gezogen. Unser Idealismus wird in Dämonie umgefälscht. Ja, Herr Dehn versteigt sich sogar zu den Worten, man müsse die Studenten wieder zu Gott zurückführen und sie von ihren Ideologien, Volk, Rasse, Vaterland lösen. Wir müssen es uns aber entschieden verbitten, uns von diesem Herrn, der für sich das Recht in Anspruch nimmt, die Kirche zu vertreten, zu ‚Gott zurückführen‘ zu lassen.“ „Wie schon gesagt wurde, hat die Erkenntnis von der völligen Unmöglichkeit Dehns weite Kreise der Professorenschaft ergriffen … Da Herr Dehn nicht daran denkt, aus seiner Unmöglichkeit die nötigen Folgen (!) zu ziehen, da er sein Wohl über das der Universität stellt“, ruft man dazu auf, die Universität im kommenden Semester nach Möglichkeit zu meiden. „Solange ein Dehn in Halle liest, scheidet sich Halle von selbst aus der Reihe der Universitäten aus, die ein deutscher Student besuchen kann[15].“
Auf diese Seite aber trat nun Dehns Vorgänger Prof. Eger mit einem Aufsatz in der zweiten Dezembernummer der „Neuen Preußischen Kirchenzeitung“, der auch als Sonderdruck verbreitet und der „Sturmfahne“ beigelegt wurde. Unter der Überschrift: „Worum handelt es sich beim ‚Fall Dehn‘?“ verspricht er, die Schlußsätze von Dehns Nachwort zu prüfen. Er bringt zunächst einiges Tatsächliches über die Vorgänge vor und bei der Berufung. Das Unbegreiflichste an den Vorgängen in Halle findet er, daß man Dehn „mit Gewalt in seine Lehrtätigkeit“ eingeführt habe, da „bei verständnisvollerer Berücksichtigung der inneren Lage der Studentenschaft die Dinge nie so gelaufen sein würden, wie es geschehen ist.“[16] Es ist „ein großer Irrtum“, zu glauben, es nur „mit einer Aufwiegelung der Studenten seitens politisch radikaler Elemente zu tun zu haben“. Die Hauptsache aber ist, daß die Studentenschaft einfach zu Dehn „als Lehrer kein Vertrauen“ hat, „weil ihr Dehns Haltung in der Frage der Verteidigung des Vaterlandes unerträglich“ sei. Damit fehlen, wie die Heidelberger wohl begriffen haben, die „unentbehrlichen Voraussetzungen“ einer akademischen Lehrtätigkeit. Er stellt dann die Frage, wie diese ablehnende Haltung der Studentenschaft entstanden sei, und antwortet, die Magdeburger Vorgänge seien „viel mehr der Anlaß als die Ursache des Konflikts“. Mit der „Instinktsicherheit ihres Gefühls“ haben die Studenten sich aber, indem sie von einem andern Geist redeten, sich gegen Dehns „Verkündigung“, „gegen die von ihm vertretene Theologie“ gewandt, d. h. gegen die „kulturkritische“, dialektische Theologie, die jetzt mit dem jungen Geschlecht zusammenstößt, das einfach nicht versteht, „wie man vaterländische Dinge so kühl, so fragweise behandeln kann, wie man dem Ringen des eignen Volks um sein Dasein sich problematisierend gegenüberstellen kann, statt elementar zu fühlen, daß man diesem seinem Volk mit Leib und Leben verhaftet ist“, — vollends nicht, da doch andere Lehrer und Prediger „ganz anderes sagen“. Die „Tragik“ des Falles besteht darin, daß Dehn „offenbar nicht imstande“ ist, dem, was „seine Gegner positiv wollen, einfühlend gerecht zu werden“, und daher bloß die Schuld der andern sieht und ihre Verurteilung „noch in der schroffsten Form zum Ausdruck bringt“.
Der Name des Verfassers und die weite Verbreitung dieses Aufsatzes machten ihn zur „Quelle authentischer Information“ für die vielen, die Dehn überhaupt nicht zu erreichen vermochte, und da dabei Dehn „restlos ins Unrecht gesetzt und den Studenten das Recht ihres Kampfes ebenso restlos bestätigt wurde“[17], wirkte er als ein Eimer voll Öl ins Feuer. Die in der Einleitung angekündigte Prüfung der Dehnschen Sätze besteht darin, daß sie als „dialektische Theologie“ gekennzeichnet werden und damit für verurteilt gelten. Auch nicht mit einem Wort versuchte Eger, Verständnis für Dehns Haltung zu erwecken. Rade sprach in der Christlichen Welt mit Recht davon, der Fall Dehn sei zu einem „Fall Eger“ geworden.
Jetzt findet auch die Hallische Theologenschaft (Hallische Universitätszeitung 3. Februar 1932), daß Dehn „die Kluft zwischen sich und den Studenten so vergrößert hat, daß es ein Herüber und Hinüber nicht mehr gibt. Wir sind in unseren vaterländischen Gefühlen und Idealen erneut von D. Dehn angegriffen und beleidigt worden …“, der Friede ist gestört „und das wissenschaftliche Arbeiten aufs schwerste geschädigt worden“. Sie fordert die Abberufung Dehns und legt „ihm nahe, um des Friedens der Universität willen das Amt eines Hochschullehrers niederzulegen“. „Wir Studenten der Theologie werden im kommenden Sommersemester die Universität Halle meiden, wenn D. Dehn seine Lehrtätigkeit im Sommersemester weiter ausübt.“ Die Rede des Vorsitzenden der Versammlung, in der dieser Beschluß gefaßt wurde, ist eine Wiedergabe der Sätze Egers in der Wir-form. „Nie ist der einheitliche Wille der gesamten Theologenschaft so stark zum Ausdruck gekommen wie an diesem Tage“, versichert die Universitätszeitung.Die Nummer der Hallischen Universitätszeitung vom 3. Februar 1932, in der sie abgedruckt ist, enthält eine Karikatur Dehns und ein „Spottgedicht“. Die Studentenschaft, die zunächst von dem „Gedicht“ abgerückt war, protestierte dennoch heftig gegen die am 11. Februar ausgesprochene Relegation des Schriftleiters: „Nicht unser Kommiliton ist der größte Schädling der Universität, wie seine Magnifizenz behauptet hat, sondern jener Professor“, „der die gesamte deutsche Jugend … aufs schwerste beleidigt und der die ethischen und sittlichen Bindungen eines Volksangehörigen an die Gesamtheit in Frage stellt“ und dennoch den Schutz der Universität genießt[18]! Auch die DCSV [Deutsche Christliche Studentenvereinigung], deren Vorsitzender Dr. [Reinold] Thadden-Trieglaff vorher eine tapfere Erklärung abgegeben hatte und die Dehn noch zu ihrer Weihnachtsfeier eingeladen hatte, veröffentlichte nun die Erklärung: „Wir sind nicht berufen oder befugt, über irgend einen Menschen zu richten. Wir können es uns aber nicht länger verhehlen, daß wir in einem Mann, der dem heißen Wollen und Ringen unserer Generation immer wieder mit eiskaltem Wenn und Aber und eben jetzt mit einer offenen Kampfansage entgegengetreten ist, … nicht den Führer und Lehrer gefunden haben, dem wir in dieser Schicksalsstunde unseres Volkes mit ungebrochenem Vertrauen zu folgen vermöchten.“ „Wir erkennen heute in der Not unseres Volkes das Zeichen Gottes, der uns den Platz anweist. So stellen wir uns mit unbedingtem Gehorsam und unbeirrbarer Leidenschaft mitten in den Kampf um die Zukunft unseres Volkes[19].“ Immerhin fanden sich siebenundzwanzig tapfere Hörer Dehns, die sich zu ihm bekannten; ihre Eingabe an Rektor und Senat trägt freilich die Nachschrift: „Bemerken möchten wir noch, daß eine Reihe anderer Hörer, die sachlich durchaus hinter dieser Erklärung stehen, mit Rücksicht auf die außerordentlich gespannte Situation ihre namentliche Unterschrift trotz mündlicher Zustimmung versagt haben[20].“
Die protestierenden Theologen aber bekamen nun die Unterstützung der beiden Göttinger Professoren Dörries und Hirsch, die ihre Stellungnahme in der „Deutschen Allgemeinen Zeitung“ vom 31. Januar veröffentlichten. Auch sie gehen davon aus, daß Dehn den „Burgfrieden“ gebrochen habe. Sie fordern freilich die Freiheit zum unbefangenen Durchdenken der Probleme für den Hochschullehrer, selbst auf die Gefahr hin, daß er „bei diesem Bemühen, wie D. Dehn selber“, „zu einem ethisch falschen Ergebnis kommt“. „Zweierlei“ ist aber von einem deutschen Theologen zu fordern: „zunächst die Erkenntnis, daß die Nation und ihre Freiheit bei aller Fragwürdigkeit des kreatürlichen Lebens auch für den Christen von Gott geheiligte Güter sind, die eine ganze Hingabe des Herzens und des Lebens fordern“, und das daraus folgende „Bekenntnis zu dem leidenschaftlichen Freiheitswillen unseres Volkes, das von macht« und habgierigen Feinden geknechtet und geschändet wird“. Diese Erkenntnis und dieses Bekenntnis vermißte die Jugend bei Dehn. „Wie das Nachwort Dehns zeigt“, hat sie damit „recht gehabt“, denn er erklärt „den in unserer Jugend lebendigen Geist mit seinem stürmischen Ja zu Volk und Freiheit für eine Dämonie, der jede Idealität mangele“ und der im Namen Gottes Widerstand zu leisten sei. Damit hat Dehn „unserer Auffassung nach sein Wirken als theologischer Lehrer und Erzieher“ unter jungen deutschen Menschen selbst untergraben. „Wir wollen seinem Urteil die einfache Aussage entgegenstellen, daß wir uns — trotz manchem Gärenden und der Läuterung Bedürftigen, das wir wahrnehmen — mit dem Willen der deutschen Jugend zu Volk und Freiheit einig wissen, ja, daß wir ihr zu danken haben, weil sie uns in der verzweifelten Lage unseres Volks neu die Hoffnung auf Deutschland schenkt.“ Dörries hat seine Stellungnahme in einem langen Aufsatz in der „Wartburg“[21] begründet. Er empfindet Dehns Nachwort als „Worte eines fanatischen Parteimannes“; die Bemühung Dehns, Volk und Kirche zu unterscheiden, stellt er in Parallele zum Investiturstreit; „das ist das schlechthin Unerträgliche im Vorgehen Dehns und seiner Richtung, daß sie die ihres Rechtes bewußte, aber noch schwankende und unsichere junge Freiheitsbewegung ihres guten Gewissens berauben will“. „Indem sie Gottes Willen für die Gegenwart auf einen (wie immer gemäßigten) Pazifismus deuten, schwächen sie die ohnehin noch matte Abwehrkraft, hindern sie die künftige Erhebung. Wir aber halten solche Versuche für tief unsittlich.“ Er fordert von den Studenten, „daß sie sich von jeder Verunglimpfung der Person Dehns fernhalten“. „An Günther Dehn aber wird man das Verlangen richten müssen, daß er ablasse, die Sache seiner Gegner zu verunglimpfen. Denn die Worte, die er gegen sie gebraucht hat, sind mehr als eine Beschimpfung, sie sind ein Anathem.“
Am 15. Februar 1932 nahm dann Karl Barth in der „Frankfurter Zeitung“ das Wort: es geht wirklich um die von Dehn vertretene Theologie; der Kampf müßte daher ehrlicherweise gegen die ganze dialektische Theologie, nicht bloß gegen den einen, „doch vielleicht kleineren Dieb“ geführt werden. Zweitens: „Sei es denn leidenschaftlich, aber wissenschaftlich“! Er ruft gegen ein ausführlich angeführtes Hitlerzitat zur Rückkehr zu wissenschaftlicher Haltung und wendet sich gegen Hirsch mit den Worten: „Ich fürchte, daß er und ich uns weder theologisch noch politisch je verständigen werden. Ich hoffe aber, daß sein und mein primäres Interesse der Theologie und nicht der Politik gehört.“ Die Pressefehde, die sich daraus entspann und die Hirsch in Stapels „Deutschem Volkstum“ ausfocht, das sich bisher schon auch in dieser Sache auf seine Weise hervorgetan hatte, braucht hier nicht verfolgt zu werden[22]. Sie zeigte nur, wie wenig auch Barth die Barbarei dieses Kampfes zu begreifen in der Lage war. Daß auch das Protestantenblatt sich zu Wort meldete, indem der Herausgeber Schubring mit einem gewissen Triumph feststellte, daß die Jugend die Diastasentheologie ablehnte und daraus die Folgerung zog: „Also ist für uns — die Veralteten — das Tor der Zukunft keineswegs geschlossen“, sei nur am Rande vermerkt[23]. Ganz anders war auch hier die Stellung Rades in der „Christlichen Welt“, und die „Mitteilungen aus dem Bund für evangelische Freiheit in der Provinz Sachsen“ brachten mehrmals ruhige und sachliche Aufsätze.
Die offizielle Kirche, deren Urteil doch die Grundlage aller Angriffe war, hat in alledem geschwiegen. Auf die Forderung Dehns, ihm den etwaigen theologischen Fehler seines Vortrages zu nennen, wurde ihm gesagt, „daß die Behörde sich darauf nicht einließe“. Auf die Frage Otto Pipers: „Warum schweigt die Kirche[24]?“ antwortete Generalsuperintendent Dibelius im „Tag“ und sah im Ganzen „nur ein Problem akademischer Pädagogik“, das die Kirche nicht weiter angehe[25]. Der Präsident des Evang. Oberkirchenrats D. Kapler sagte Dehn, es sei ihm ja doch (von der Kirche aus) nicht das Geringste geschehen, ein Konsistorium müsse doch noch das Recht haben, einen Pfarrer zur Vorsicht zu ermahnen. Im übrigen habe der Oberkirchenrat ja dadurch, daß er seine Ernennung zum Professor nicht beanstandet habe, deutlich zum Ausdruck gebracht, daß nichts Belastendes gegen ihn vorliege[26]. Daß die Öffentlichkeit von dieser Art der Rehabilitierung nichts merken konnte, daß der Mißbrauch der Konsistorialbescheide weiter ging, daß die Berufung der Hallenser auf das Christentum eine kirchliche Äußerung geradezu forderte, hat man nicht zur Kenntnis genommen. In Halle aber ging es längst nicht mehr um Theologie, sondern einfach um die Vernichtung eines politischen Gegners. Die Studentenschaft hat „die entscheidende Frage“ folgendermaßen formuliert[27]: „Trägt Herr Dehn zum Daseinskampf, zum Freiheitskampfe unseres Volkes bei oder hilft er den niederziehenden Mächten moderner Humanitätsduselei und Weichlichkeit, die vor allem unserer Wehrkraft entgegenstehen, zu weiterem Vordringen? Wir sind der Meinung, daß Dehn nicht einem Fichte entspricht. Wir brauchen aber Professoren, die nach der Allmacht Gottes uns die Liebe zu Volk und Nation mit heißem Herzen lehren.“
In Halle hat man sich so geholfen, daß die Fakultät einen besonderen Lehrauftrag für praktische Theologie beantragte, der vom Ministerium nach anfänglichem Widerstreben genehmigt wurde, und daß auch Eger wieder Vorlesungen anzeigte. Dehn konnte auch im Sommer 1932 seine Vorlesung in Ruhe zu Ende führen, obwohl die Hallische Universitätszeitung vom 2. Mai im Fettdruck den Boykott seiner Vorlesungen gefordert hatte. Ein Gottesdienst in der Pauluskirche mußte freilich „infolge vorher bekanntgewordener Drohungen politischer Kreise“ abgesagt werden[28]. Nach diesem Semester ließ er sich ein Jahr beurlauben, das er wissenschaftlicher Arbeit widmen wollte. Damit hat er das Schlachtfeld verlassen. Inzwischen schwoll die nationalsozialistische Welle so an, daß Hitler am 30. Januar 1933 die Macht ergriff. Unter den ersten, die nach dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ beurlaubt wurden, war natürlich er. Die Barbarei nahm ihren Lauf. Sie führte Dehn über die Tätigkeit in der Bekennenden Kirche ins Gefängnis, dann in die Verbannung (nach dem württembergischen Oberland). Von dort wurde er 1946 durch einen ehemaligen Hallenser nach Bonn berufen. Von seinen ehemaligen Gegnern dürften die meisten in dem Krieg gefallen sein, für den sich ihre damaligen Führer so zielbewußt entschieden hatten.
Quelle: Festschrift für Günther Dehn zum 75. Geburtstag am 18. April 1957 dargebracht von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn, hrsg. v. Wilhelm Schneemelcher, Neukirchen: Verlag der Buchhandlung des Erziehungsvereins Neukirchen, 1957, S. 239-261.
[1] Wilhelm Niemöller, Kampf und Zeugnis der Bekennenden Kirche, Bielefeld 1948.
[2] Auf Vollständigkeit kann meine Darstellung keinen Anspruch machen. Die „Quellen“ sind weit zerstreut in Zeitungen, Zeitschriften, Flugblättern u. dgl. und wie die damaligen Darstellungen kaum mehr erreichbar. Ich benütze, was die Universitätsbibliothek und das Theol. Seminar in Bonn besitzen und einige Reste, die sich in Privatbesitz erhalten haben. Die Sammlung Dehns ist durch den Krieg zerstört. In einigen übrigens unbedeutenden Einzelheiten habe ich mir gelegentliche Erzählungen zunutze machen können. Zitate ohne weitere Quellenangabe sind der Dokumentensammlung Dehns: „Kirche und Völkerversöhnung“ etc., Furche Verlag o. J. [1931]/ entnommen. Die in Maschinenschrift vervielfältigte Denkschrift der Deutschen Studentenschaft (2 Teile) ließ sich für mich nicht mehr auftreiben. Von zeitgenössischen Darstellungen erwähne ich die von Sasse im Kirchl. Jahrbuch 1932 (vgl. Theol. Blätter 1933, Sp. 24 f.) und H. Schafft im Neuwerk, 13. Jahrgang (Februar/März 1932). — Zur Vorsicht bemerke ich, daß ich Dehn selbst nicht zu Rate gezogen habe.
[3] Abgedruckt im „Domgemeindeblatt“ Magdeburg 1928, Nr. 12, und in der „Christlichen Welt“ 1931, Nr. 5, endlich in Dehns Sammlung „Kirche und Völkerversöhnung“. Kritische Analyse von H. Dörries, Wartburg 31. Jahrgang (Febr. 1932).
[4] Der „Major a. D. L.“ ist verschwunden. Auch er hat den Vortrag nur aus dem Bericht von Fräulein L. gekannt.
[5] Vgl. auch Dibelius an den Heidelberger Senat, Dok. 11.
[6] Der Fall des Privatdozenten und späteren Professors Gumbel, der als radikaler Pazifist die Gefallenen als Mörder bezeichnet hat, die auf dem „Felde der Unehre“ gefallen seien, die Entgleisung aber später bedauert hat, hat damals viele Hochschulen erregt und wurde zu Beginn der 30er Jahre von den Nationalsozialisten wieder hervorgezogen. Den Unterschied hat wiederum M. Dibelius scharf hervorgehoben: dort ist die beanstandete Äußerung gefallen, und bei Gumbel handelte es sich um eine außerberufliche politische Tätigkeit, bei Dehn um die Ausübung seines Berufes.
[7] Darunter Namen wie Griesebach, Gundolf, Hellpach, Jaspers, Radbruch, Regenbogen, Alfred Weber, Freiherr von Weizsäcker.
[8] Dehn hat nie Beziehungen zur Friedensgesellschaft gehabt.
[9] Christliche Welt 1931, S. 1137.
[10] Theol. Blätter 1931, Sp. 361.
[11] Theol. Blätter, a. a. O., abgedruckt Christl. Welt 1932, S. 44 ff.
[12] Des von dem nationalsozialistischen Minister der Universität aufgedrängten „Rassen-Günther“.
[13] Theol. Blätter 1931, Sp. 360.
[14] Hallische Universitätszeitung 3. Febr. 1932.
[15] Westdeutsche Akad. Rundschau Febr. 1931.
[16] Daß Dehn den Polizeischutz ausdrücklich abgelehnt habe, ist oben festgestellt worden, wird von Eger aber nicht erwähnt, obwohl er es leicht hätte erfahren können.
[17] Sasse im Kirchl. Jahrbuch, S. 93.
[18] Hallische Universitätszeitung, a. a. O.
[19] Hallische Universitätszeitung, a. a. O.
[20] Christliche Welt 1932, S. 237.
[21] 31. Jahrgang, Heft 2, S. 47 ff.
[22] Auszüge bei Sasse, a. a. O., S. 108 ff., vgl. Theol. Bl. 1932, Sp. 285 f.
[23] 1932, Nr. 4; dazu Neuwerk 1932, S. 375.
[24] Vossische Zeitung vom 29. Jan. 1932, vgl. Neuwerk 1932, S. 372.
[26] Dokumente, S. 87.
[27] Denkschrift der Studentenschaft, S. 6, nach Neuwerk, S. 358.
[28] Die Predigt, die dabei gehalten werden sollte, ist veröffentlicht durch Pastor Jänicke in „Mut und Kraft“ 1932, Nr. 7.