Hans Joachim Iwand, Über den Verlust der theologischen Existenz heute (1953): „Wir haben nach 1945 nichts Eiligeres zu tun gehabt (und zwar unter dem Segen der liberalen, der sogenannten ‚freien Wissenschaft‘), als unsere Häuser noch mal mit demselben Stroh zu decken, das uns eben über dem Kopf in Flammen aufging, denn wir sind offenbar nicht gewillt (als Wissenschaftler nicht willens) zu sehen, dass das längst fällige Gericht über den modernen Wissenschaftsbegriff, der kein Wahrheitszeugnis mehr abgibt, von Gott her, d. h. notwendig und nicht durch Zufall erfolgt ist. Gott muß abreißen, ehe er aufbaut. Von ihm her sollten wir begreifen, was durch seine Gerichte niedergelegt worden ist. Wir sollten bereit sein, uns mit dem 19. Jahrhundert kritisch ausein­anderzusetzen, und nicht die Sünden unserer Väter, über die ein solches Gericht ergangen ist, wiederholen.“

Über den Verlust der theologischen Existenz heute

Von Hans Joachim Iwand

I.

Es sind zwei Fragen, oder sagen wir lieber, zwei Sorgen, die wohl jeden ergreifen, der die Lage der evangelischen Theologie heute in Deutschland zu überblicken, der sie von innen her zu erfassen und ihre Bewegung, zumal seit 1945, zu verstehen sucht. Da ist zunächst [510] einmal das Ungeordnete, das Ziel- und Gestaltlose, was uns auffällt[1]. Was für ein Unter­schied zu der Situation vor zwanzig Jahren! Damals stand die Frage nach der Theologie, das heißt nach dem sachlichen Gehalt der Aussage, im Vordergrunde, die Methode war in die wissenschaftliche-Dienststellung zurückgetreten, wohin sie gehört und. auch jeweils zu stehen kommt, sobald eine Zeit wieder etwas sachlich zu sagen, etwas neu zu entdecken und zu erkennen vermag. Die Sache der Theologie schob sich gebieterisch in den Vordergrund. Was war auch auf dem Gebiet der Theologie seit dem Ende des ersten Weltkrieges alles geschehen! Es war eine Wendung eingetreten, ein Durchbruch, der uns auf die Höhe der biblisch-reformatorischen Fragestellung führte. Wir sahen uns herausgerufen aus dem Flachland der Religionsgeschichte und aller ihrer Verzweigungen, wir wandten uns der Offenbarung zu. Das Wort Gottes als Größe sui generis war vor uns hingetreten, in seinem Geheimnis, in seiner Unzugänglichkeit von außen her und seiner gnadenvollen Nähe zu den verlorenen Menschen von ihm selbst her. Wir ahnten damals noch nicht, was diese Entdeckung einmal im Kampf der Kirche, in der Scheidung der Geister bedeuten sollte. Genug, sie war auf dem. Plan, und wir konnten sie nicht mehr übersehen. Da war Karl Barths Römerbrief, da waren Schlatters Kommentare zu den Evangelien, das war Holls Luther und da war die von Georg Merz so meisterhaft redi­gierte Zeitschrift: „Zwischen den Zeiten“. Irgendwie fühlt man sich heute beschämt, man ermißt den qualitativen Abstand, wenn man einen der Aufsätze von damals, die ereignishaft waren, in die Hand nimmt. Was ist eigentlich geschehen, daß wir so weit­gehend in das bloß Stoffliche oder auch ins rein Methodische abgeglitten sind? Haben wir das Ziel verloren? Ist uns bange geworden vor dem, was Theologie als solche bedeutet? Was sie für Wissenschaft und Kirche in gleicherweise bedeuten würden, wenn — ja wenn sie in ihrer Reinheit und Souveränität ernst genommen, wieder einmal ganz ernst ge­nommen würde? Haben wir vergessen, daß in den Jahren zwischen 1919 und 1933 ein neues Fundament gelegt wurde, daß hier der Felsen freigelegt und entdeckt wurde, auf dem die evangelische Kirche, die in letzter Not und Drangsal ratlos gewordene Kirche ihre Standfestigkeit wiedergewann? Haben wir vergessen, daß die paar Sätze, mit denen 1933 zum Sammeln gerufen wurde, theologische Sätze waren? Woher die Verachtung der Theologie, der man heute in heimlicher oder offener Form so häufig begegnet?

Tatsächlich liegen die Dinge ja ganz anders. Tatsächlich ist heute alles mehr oder weniger „theologisch“ infiziert, die Politik nicht minder wie die Ideologie der Parteien, die Dich­tung genau so wie die Kunst. Nur wer sich einigermaßen auf Theologie versteht, wird die Vorgän­ge begreifen, die sich heute in der geistigen Auseinandersetzung abspielen. Insofern nimmt die Bedeutung der Theologie zu, jedenfalls der von ihr her stammenden Denkformen. Aber Theologie bedeutet immer systematische Theologie, dieses „Fach“, das als einziges kein „Stoffgebiet“ sein eigen nennt, ist doch das vorzüglichste aller echten Theologie. Denn hier geht es um den Zusammenhang, um das Ineinander­greifen der einzelnen Glieder (articuli) zu einem Ganzen, und ohne diesen Willen zur Ein­heit gibt es keine Wahrheit im wissenschaftlichen Prozesse. [511]

Das ist die eine Seite der uns heute solche Sorge machenden Angelegenheit. 1933 hatten wir ein reiches, unerschöpftes theologisches Arsenal, gleichsam durch die providentia Dei vorbereitet, damit wir in den Zeiten der Dürre einen Vorrat hätten. Dafür war damals die kirchliche Tätigkeit, die Wirksamkeit in den verschiedensten Zweigen des öffentlichen Lebens eine sehr spärliche. Heute ist dieses Gebiet durch mannigfache Organisationen aufs reichhaltigste entwickelt. Ich erinnere nur an die kirchlichen Akademien und das erstaunliche Organisationswerk des „Kirchentages“. Wir wollen das alles nicht unterschätzen. Wir werden uns nicht ohne Schaden aus diesen Verpflichtungen und Aufgaben wieder zurückziehen können. Wir müssen auch dort die Position halten. Aber die gegenwärtige theologische Arbeit steht im umgekehrten Verhältnis dazu. Wie auch sonst im geistigen Leben dieser restaurativen Epoche überwiegt die Praxis, eine weithin undurchdachte, nur durch den momentanen Erfolg imponierende Praxis. Die Theologie und damit auch die Predigt und damit schließlich wieder die Seelsorge — diese drei „liturgischen“ Funktionen der Kirche hängen untrennbar zusammen — geraten mehr und mehr in Verfall. Genau diese drei Gebiete sind es aber, die das innere Wachstum der Kirche und ihre letztlich unüberwindliche Kraft darstellen. Sollte man nicht darum in Sorge sein um die Theologie, die evangelische Theologie?

Was wir an der auch heute nicht stillstehenden theologischen Arbeit als solcher bemerken, ist zunächst einmal Stofffülle. Der Stoff herrscht. Man meint, man müsse erst einmal etwas wissen, sammeln, zusammentragen. Daher das Übergewicht der Fachwissenschaft. Daß niemand etwas weiß, es sei denn, er wisse auch, wie man Wissen gewinnt und sich aneignet, diese alte sokratische Frage scheint nur als lästige Verzögerung zu wirken. Jeder, junge Dozenten wie alte Studenten, sind von der Manie besessen, sie müßten nachholen und so erst einmal die verlorenen Jahre wettmachen — als ob wir wirklich aus­machen könnten, was verlorene Jahre sind![2]

Restaurationszeiten sind offenbar darum immer wieder so tief ungläubige Zeiten, weil sie von der Idee besessen sind, man könnte etwas „ungeschehen“ machen. Das kann nur der, welcher durch sein Wort der Vergebung das Vergangene vergangen sein läßt, aber niemand sonst. Wir verkaufen uns sonst nur der Vergangenheit und ihrem Totenreich. Damit mag es Zusammenhängen, daß wir neuerdings wieder einem abgestandenen Begriff innerhalb der wissenschaftlichen Arbeit in der Theologie begegnen, von dem wir nie gemeint hätten, daß er zu unseren Lebzeiten noch einmal wagen würde, sein Haupt zu erheben. Ich meine den Begriff des sogenannten „objektiven Tatbestandes“ in der Ideologie. Es will doch schon etwas heißen, wenn man heute, nach fast zwei Menschenaltern, in Kählers Kampfschrift wider den historischen Jesus greift, weil m.an sich der neu aufkommenden „Leben-Jesu-Bilder“ nicht anders erwehren kann. Es gibt heute schon wieder Zielsetzungen wie die, die ipsissima verba Jesu her­auszustellen[3] (und das nach Julius Schniewinds Kommentaren zu Matthäus und Markus!), und was das erstaunlichste ist, solche Zielsetzungen, die auf uns. als Studenten wie die Bemühung um das perpetuum, mobile gewirkt hätten, finden bemühte und gläubige Hörer und discipuli. Ein seltsames Vertrauen, welches auf einmal der „Wissenschaft“ als solcher entgegengebracht wird, der Fachwissenschaft notabene, nachdem man sie nicht genug [512] verachten konnte. Hinter diesem Rückzug hinter die Fachwissenschaft steht das auch sonst bemerkbare Bestreben, eine neutrale Position zu gewinnen, die dem erkennenden Subjekt die Entscheidung abnimmt, wo wir also nur Forscher, nur Auge, nur Okular sein können. Die meisten, die die Wissenschaft so betreiben, wissen wohl nicht, was sie damit tun. Das mag sie entschuldigen. Denn dieser Zerfall zwischen „objektiver Feststel­lung“ und „persönlicher Glaubensentscheidung“, auf den sie herauskommen, ist ja der endgültige Verzicht auf die Einheit von Erkennen und Existenz. Ihre Existenz, auch ihre vermeintlich christliche, muß blind sein, und ihre Erkenntnisse, auch ihre vermeintlich dogmatisch einwandfreien, müssen leer sein.

Der Mangel an systematischer Umsicht und Zielstrebigkeit im einzelnen der theologischen Arbeit einerseits und ein ausgesprochen positivistischer — und allein darum antiidealistischer — Zug innerhalb der theologischen Fachwissenschaft sind Gefahren, denen die theologische Arbeit in ihrem Fortgange ausgesetzt ist. Viele wollen nicht wahr haben, daß das Gefahren sind, sie sehen darin Leistungen! Auch das an sich zu begrüßende Interesse an der Exegese verkehrt sich unter diesem Aspekt und durch diese insgeheim ihm innewohnende Tendenz in ihr Gegenteil. Sie führt zum Haften und Kleben am Text als an dem „Gegebenen“. Das Wort Gottes eint nicht mehr das Ganze der Heiligen Schrift, sondern dieses zerfällt neuerdings wieder in eine unabsehbare Mannigfaltigkeit besonders gearteter „Texte“, deren religiöse, theologische, kulturelle oder auch geistesgeschicht­liche Herkunft Gegenstand spezieller Untersuchung wird. Was uns fehlt, ist eine neue Grundlagenlehre, eine Art Enzyklopädie der Theologie[4], die aber nicht schon dadurch gewonnen ist, daß man ein „System“ aufstellt, sondern die Ausdruck einer echten Ein­heit sein müßte von Theorie und Praxis. Die Wirklichkeit, in der wir leben, auch die „kirchliche“, will begriffen sein. Sie will nicht nur gelebt oder erlitten werden, sie will begriffen sein. Leistet das die Theologie? Ist sie in der Lage, hierin die idealistische bzw. die positivistische Philosophie‘ abzulösen? Wie gestaltet sich überhaupt das Nebeneinander oder vielmehr Ineinander von Theologie und Wissenschaft, nachdem auch die melanchthonische Vermittlung zwischen Christentum und Humanismus stark bedroht ist (und eigentlich nur noch innerhalb der katholischen Theologie weiterentwickelt wird)?

II.

Im Ausgang der geistigen Situation des 19. Jahrhunderts hat man sich, was das Verhält­nis der Theologie als Wissenschaft anging, mit dem Begriff des Werturteils gehol­fen. Bis heute ist das noch in der Theologie unserer Existentialisten die letzte Ausflucht. Religiös verbindlich wird eine theologische Aussage dadurch, daß sie „für mich“ gilt. Auf der Nadelspitze des pro nobis balanciert ihnen die theologische Prinzipienfrage, gewiß eine ziemlich einfache, darum auch sehr verbreitete und gängige Methode, aber leider ebenso einfach und leer wie die seinerzeit beliebte Rede vom Glaubenssprung, die auf die Antiidealisten des 18. und 19. Jahrhunderts zurückgeht. Wenn man sich freilich der Denkform der Aufteilung in Naturwissenschaften und Geschichtswissenschaften bedient, wie sie die Heidelberger Schule entwickelt und wie sie ihren typischen Ausdruck in Max Webers „Wissenschaft als Beruf“[5] gefunden hat, dann dürfte damit alles preisgegeben sein (für das Linsengericht relativer Wissenschaft­lichkeit!), was wir als Theologie und theologische Existenz begriffen hatten. Ein Satz Max Webers mag genügen, weil er schonungslos die Genesis dieses Wissenschaftsbegriffs aufdeckt: „Die zunehmende [513] Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran, daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge — im Prinzip — durch Berechnung beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzaube­rung der Welt.“ Es ist nicht zu verwundern, daß bei den von diesem Wissenschaftsbegriff ausgehenden Theologen das Thema der Entmythologisierung eine so bedeutsame Rolle spielt. Dahinter steht einfach die Frage: Was hält dieser im Zuge der modernen Intellek­tualisierung unvermeidlichen Entzauberung der Welt noch stand? Wo ist die Grenze der Entzauberung erreicht? Fällt vielleicht auch Gott, Gott selbst, diesem Entmythologisierungsprozesse anheim? An diesem Abgrund kämpfen heute die einen unter uns ihren Kampf. Sie wollen nicht die Offenbarung und „den Offenbarer“ preisgeben, und doch wollen sie sich andererseits zu dem Grundsatz bekennen, daß, „wo immer der Mann der Wissenschaft mit seinem eigenen Werturteil kommt, das volle Verstehen der Tatsachen aufhört“ (M. Weber). Die Tatsache, daß ich Christ bin, daß ich Glied der Gemeinde bin, daß mich selbst das Wort der Schrift, das ich auszulegen habe, trifft (und zwar in Seinem und in meinem Heute!), daß ich im tieferen Sinne auch dogmatisch festgelegt bin und nicht einfach aus der Proszeniumsloge des Unbeteiligten die Kämpfe der Väter um das Bekennt­nis zur Notiz nehmen oder zur Darstellung bringen kann — das und manches andere mehr muß eingeklammert werden, wenn ich zum objektiven Verstehen oder auch zum rechten kritischen Urteil gelangen will. So will es dieser Wissenschaftsbegriff, für den das Urteil des Glaubens lediglich in der Sphäre des subjektiven, der für den Tatbestand unmaßgeblichen Werturteile seinen Platz hat, es ist immer „sekundär“, kommt „hinterher“.

Damit ist ein Prozeß innerhalb der Theologie eingeleitet, über den man sich seit Nietz­sches Deutung des modernen Historismus klar sein sollte: der einer ins Unendliche gehen­den Relativierung. Daß der eine oder der andere dann hier oder dort seine Herberge bezieht, der eine vielleicht noch in einem „mythenfreien“, das heißt dann immer „ethi­schen“ Christentum, der andere in einem philanthropischen Humanismus, ein dritter, müde der eigenen Wahl, bei einem handfesten Dogmensystem, das alles gehört in die „private“ Sphäre, hat bestenfalls biographisches oder psychologisches, aber nie ein allgemein ver­bindliches d. h. sachliches Interesse. Unter den Tatsachen, die die Wissenschaft als solche untersucht und herausstellt, sind Gottes Taten grundsätzlich nicht zu finden. Das ist der Preis, der der Theologie an diesem Portal abverlangt wird. Und darum darf sie dann — wenn sie von diesen Tatsachen zu reden hat — sich nicht in Seinsausagen bewegen, etwa Jesus Christus ist auferstanden, er ist der Sohn des leben­digen Gottes, er ist das fleischgewordene Wort, sondern sie muß ein „pro me“ einschie­ben: nach dem für mich geltenden religiösen und ethischen Wertsystem ist das so.

Ist es nicht erstaunlich, mit welcher Beharrlichkeit, wir in dieses alte Gehäuse zurückgekrochen sind, obschon doch die politischen Ideologien von links und rechts seine Brüchigkeit erwiesen, seine endgültige Liquidierung sich zum Ziele gesetzt haben. Wir haben nach 1945 nichts Eiligeres zu tun gehabt (und zwar unter dem Segen der liberalen, der sogenannten „freien Wissenschaft“), als unsere Häuser noch mal mit demselben Stroh zu decken, das uns eben über dem Kopf in Flammen aufging, denn wir sind offenbar nicht gewillt (als Wissenschaftler nicht willens) zu sehen, daß das längst fällige Gericht über den modernen Wissenschaftsbegriff, der kein Wahrheitszeugnis mehr abgibt, von Gott her, d. h. notwendig und nicht durch Zufall erfolgt ist. Gott muß abreißen, ehe [514] er aufbaut. Von ihm her sollten wir begreifen, was durch seine Gerichte niedergelegt worden ist. Wir sollten bereit sein, uns mit dem 19. Jahrhundert kritisch ausein­anderzusetzen, und nicht die Sünden unserer Väter, über die ein solches Gericht ergangen ist, wiederholen.

III.

Ich kann diese Restauration eines bloß formalen Wissenschaftsbegriffs, die sich heute in der theologischen Debatte mit sentimentaler, fast axiomatischer Entschlossenheit voll­zieht, nur kurz andeuten. Daß es sich um ein schweres Ringen handelt zwischen der Selbst­offenbarung Gottes einerseits und dem eine solche Offenbarung grundsätzlich relativie­renden und historisierenden Begriff der „Entzauberung der Welt“ andererseits dürfte einsichtig sein. Aber im Grunde hat nicht die Wissenschaft die Welt entzaubert, nicht die Gelehrten haben dem neuen und grausam-echten Mythos des Rassismus widerstanden, sondern die, die in dieser Stunde der Anfechtung Gott in Jesus Christus neu glauben und bekennen lernten. Heinrich Scholz hat das eben Jaspers gegenüber unverhohlen zum Aus­druck gebracht[6]. Die Theologie hat in dieser Stunde der Sichtung eine Auszeichnung erfahren, deren sie sich heute nicht zu schämen braucht. Aber neben dieser Wiederbegegnung mit dem eine Zeitlang schon als überwunden angesehenen, formalen „Wissenschaftsbegriff“ (als einer alles relativierenden Methode) vollzog sich die Wiederbegeg­nung der Theologie mit der „stehen gebliebenen“ Kirche nicht viel besser. Auch hier ist sie dem erlegen, was sie vorfand. Nur daß dieser Prozeß sehr viel weiter in die geschicht­lichen und kirchengeschichtlichen Vorgänge verwoben ist als jener Anschluß der Theologie an den alten Wissenschaftsbegriff. Denn durch die Auflösung Preußens, durch den Wegfall dreier angestammter protestantischer Provinzen im Osten, die Schwächung der evangelischen Union, wie sie von den Hohenzollern seit Johann Sigismund traditionell ge­pflegt wurde, trat äußerlich eine Verschiebung der Machtverhältnisse in den evangelischen Kirchen Deutschlands ein, die ein völliges Novum darstellte. Vor allem machte sich sofort eins bemerkbar: eine fast hundert Jahre vergessene, in einer merkwürdigen Inkubation ruhende Theologie, eine zu ihrer Zeit „unzeitgemäße“, in ihrer sachlichen Leistung irgendwie großartig geschlossene, in ihrem Gehalt schon damals bewußt restaurative Theologie trat auf einmal auf den Plan. Zum mindesten mit ihren Grundideen. Ich meine die von Schelling und dem Konvertiten Haller so tief beeinflußte Erlanger Theologie des frühen und mittleren 19. Jahrhunderts. Es ist bis heute die Theologie der konfessionellen Lutheraner, die in der Union nur das Werk der alles nivellierenden Aufklärung zu sehen vermochten. Dahin gehört auch die Theologie Fr. J. Stahls, die den Kampf gegen die Ideen der Revolution zum Prinzip erhob, die christlich-konservative Politik als Einheit proklamierte und nicht erst im Sozialismus, sondern (wie Vilmar) be­reits in der Demokratie den Beginn aller Übel, die „Ächtung der Autorität“ heraufziehen sah. Durch das Bismarcksche Reich, von den Süddeutschen als „Revolution von oben“ ab­gelehnt, und die unionistische Theologie Schleiermachers und die „wilhelminische“ Ritschls waren diese Tendenzen zunächst nicht zum Zuge gekommen. Aber jetzt meldete sie sich. Sie boten sich an als ein System, das zugleich eine gestaltende Kraft für die Re­organisation der evangelischen Kirche zu enthalten vorgab. Hier sah man die Katastrophe mit den Vorgängen der Bismarckschen Politik und der preußischen Konsistorialverwaltung im engsten Zusammenhang. Man wähnte den Moment gekommen, um endlich die Rekonfessionalisierung der evangelischen Kirche, das heißt ihre Ein- und Aufteilung in das „lutherische“ und das „reformierte“ Bekenntnis vorzunehmen. Die lutherischen Väter hatten es lange genug proklamiert, daß allein die Episkopalordnung die dem [515] lutherischen Bekenntnis gemäße Kirchenordnung sei, wenn man die Kirche von den welt­lichen, insbesondere staatlichen Einflüsse befreien wollte, und es störte ihre Enkel nicht, daß es gerade Hitler war, der diese Ordnung der evangelischen Kirche aufgezwungen hatte. Durch das gleiche Vorurteil gehemmt vermochten sie nicht zu sehen, daß Sy­noden auch im 20. Jahrhundert sich als das kräftigste und beweglichste Bollwerk gegen jeden kirchlichen oder staatlichen Machtanspruch erwiesen hatten, das Wort Stahls an Bunsen: „Der Synodalismus ist der contrat social in der Kirche“ klingt noch nach, und Rousseau gilt den Führern dieser restaurativen und konfessionellen Bewegung auf dem staatlichen und gesellschaftlichen Gebiet als ebenso unerträglich wie die „Spiritualis­ten“ auf kirchlichem.

In der Begegnung mit dieser bewußt restaurativen, philosophisch gut fundierten, im poli­tischen Sinne streng antirevolutionären Theologie vollzog sich die andere Metamorphose unter den Theologen der Bekennenden Kirche. Es hatte natürlich Ansätze dazu längst gegeben. Aber jetzt bildete sich hier ein organischer, man möchte fast sagen fundamentalistischer Dogmatismus heraus, der im System der christlichen Heilswahrheiten zugleich seine weltanschauliche (in Wahrheit gnostische) Erkenntnis wiederfand, die auf dem rein säkularen Gebiet zerbrochen war. Hier soll nun wirklich das Dogma zu Ehren ge­bracht werden, als alles umfassende Lehre der Kirche, zwar noch (bei den Lutheranern) be­gründet aus der Schrift und übernommen von den Vätern, aber eins fehlt dabei: Die Sou­veränität des Wort Gottes selbst! Das diesem Dogma vorangehende, es begrenzende, um­formende, nie in ihm aufgehende Verbum Dei in dieser seiner Freiheit fehlt! In diesem Dogmatismus, in seinem System der Heilwahrheiten, in seiner Darstellung der Heilsge­schichte geht das Wort Gottes auf und unter, fällt mit ihm zusammen wie die Idee im Hegelschen Prozesse des Begriffs. Und von hierher gesehen gilt die Theologie des Wortes Gottes wie sie uns aufgegangen und zur Sammlung, zum Angriff gerufen hatte, als etwas viel zu „Aktuelles“, viel zu „Modernes“, viel zu sehr von Karl Barth und seiner „Schule“ Abhängiges, als daß man sie zum Ausgangspunkt der Neuordnung machen könnte. Sie gilt bei den konfessionellen Theologen als eine der vielen Früchte auf dem Baum der „Bekenntnisse“ (und zwar als eine keineswegs einwandfreie) und wurde noch während des Kirchenkampfes ersetzt durch eine Theologie der Bekenntnisschriften, die das Fun­dament aller theologisch dogmatischen Arbeit bilden soll.

Es ist klar, daß zwischen diesen beiden Entwicklungen, die beide mehr oder weniger aus der Theologie der Bekennenden Kirche hervorgegangen sind, ein tiefer Graben klafft: einfach die Frage, ob jene Theologie der Bekenntnisschriften auf der Exegese von damals ruhen bleiben darf. Von den Exegeten zur Rechten (Schlier u. a.) und zur Linken (Käsemann, Vielhauer) wird das bestritten. Umgekehrt erwägen die lutherischen Bischöfe, wie sie vom Bekenntnis her die gegenwärtige Schriftauslegung sichern können. Das ist die im letzten Grunde „geistlose“ Situation, in der wir festgefahren sind, ist unsere „verlorene theologische Existenz heu­te“, wir sind durch die Anlehnungen an einen restaurativen Wissenschaftsbegriff und an einen ebenso restaurativen, keineswegs aus dem Worte Gottes selbst gewonnenen Verständnis von Dogma in eine Sackgasse geraten und unsere Theologie ist in Gefahr, bei Fremden ein Unterkommen suchen zu müssen, wo ihre Kraft ausgezehrt und ihre Gaben nicht gebraucht werden.

IV.

Die Begegnung mit der Theologie, wie sie in Karl Barths Kirchlicher Dog­matik vorliegt, ist noch nicht vollzogen[7]. Die Auseinandersetzung mit der Theologie [516] des „Römerbriefes“ war von Anbeginn sehr lebhaft, stark polemisch; was wurde nicht alles aufgeboten, um diese „Theologie der Negation“ als unmöglich zu erweisen. Der „Kirchlichen Dogmatik“ gegenüber verhält man sich anders. Alles schweigt[8]. Als ob man Angst hätte, sich mit ihr einzulassen. Als ob die Waffenrüstung, in der nun der „alte Barth“ seine Sendung an die Theologie seiner Zeit durchführt — in einer erstaunlichen, so seit langem nie mehr dagewesenen Weite der Bezüge — zu imponierend wäre, als daß man dagegen anzugehen sich getraute. Es ist bezeichnend, daß die beste Einführung in das Werk das Buch eines katholischen Theologen ist[9]. Die beiden eben erwähnten the­ologischen Richtungen, die existentialistische und die konfessio­nelle, lehnen diese Ent­wicklung der Theologie in Karl Barths dogmatischer Arbeit nicht nur ab, sondern ver­halten sich beziehungslos ihr gegenüber. Sie verteidigen noch ein paar Forts einer längst gefallenen Festung. Die einen verteidigten das „Vorverständnis“, früher nannte man das das „religiöse apriori“. Oder sie verteidigen gegenüber Barths Exegesen die „histo­risch-kritische Methode“. Aber es ist auffällig, daß sie sich eine Untersuchung, eine Über­prüfung dieser ihrer Positionen vom Grundsätzlichen her nicht gefallen lassen. Sie ver­teidigen alte, lieb gewordene Sätze und Methoden, sie verteidigen sie, weil sie ihnen gleicherweise nötig sind für die wissenschaftliche wie für die praktische Arbeit. Es gehört zum Wesen aller restaurativen Haltung, daß man eine — wie man meinen müßte, doch wohl notwendige — Überprüfung der letzten Voraussetzungen des Denkens und Le­bens eben nicht zuläßt. So verteidigt man auf der „anderen“ Seite die Zwei-Reiche-Lehre, sie ist ein eingefahrenes Schema, man hat weder Kraft noch Mut noch Glauben, es zu über­holen und ein Neues zu setzen. Oder man verteidigt leidenschaftlichst die in der FC fest­gelegte, aber doch keineswegs in der Reformation durchgängig gelehrte Ordnung von Gesetz und Evangelium. Man verteidigt einen Sakramentsbegriff, der sich immer weiter vom Worte Gottes als solchem entfernt und geradezu als Ergänzung, als Füllung desselben wirken soll. Alles das wird unbesehen verteidigt, ist aus dem 19. Jahrhundert über­nommen, und die Bewegung, in welche Barths Dogmatik diese Schemata und Theologoumena vom Worte Gottes her versetzt hat, wird als „Erschütterung“ der Fundamente an­gesehen. Nicht als ob es nicht noch den oder jenen unter uns gäbe, der von dieser großen und gewaltigen Arbeit ergriffen sich in ihren Zug mithineinstellte. Vogels Christologie (wenn auch sehr anders und selbständig gefaßt), Bonhoeffers ethische Versuche und Aus­blicke, Ernst Wolfs bedeutsame Leistung in der Fortführung der „Evangelischen Theologie“ und „Verkündigung und Forschung“[10], auch einige Hefte der Reihe „Theologische Existenz“, die von K. G. Steck herausgegeben wird, lassen erkennen, daß es noch einen dritten Weg gibt, daß irgendwo und irgendwie der erste Satz von Barmen, daß Chri­stus das eine Wort Gottes ist, noch als Kanon für den Kanon! empfunden wird, daß irgendwie noch die Glut der einstmals so lebendigen theologischen Erneuerung unter der Asche weiterglüht — aber für die Fragen, wohin führt der Weg der evangelischen Theolo­gie, bedeuten diese Ansätze noch nichts Entscheidendes. Die Entscheidung steht noch bevor. Die Entscheidung liegt in der von Seiten des Protestantismus noch nicht vollzogenen, bisher weithin (mit Ausnahme der alttestamentlichen Forschung, die darin der neutestamentlichen wieder einmal zuvorkommt) von den „Säulen“ abgelehnten Auseinander­setzung mit der kirchlichen Dogmatik Karl Barths[11]. [517]

Hier liegt die konkrete Aufgabe der protestantischen Theologie von heute. Sie kann einfach dieses Werk nicht mehr umgehen, sie kann die Überprüfung der Grundlegung theologischer Erkenntnis nicht ungeschehen machen, es wird ihr wenig helfen, wenn sie den Kopf in den Sand steckt — es gibt nun einmal theologiegeschichtliche Vorgänge, die ihre eigene Bewegung haben. Und das ist nun das Auffällige und Besondere in der Me­thode des hier vorliegenden umfassenden Theologisierens, das wir hier wiederfinden, was nun einmal — in der Zeit echter kirchlicher Entscheidungen — so beglückte: die Ein­heit von Erkenntnis und Tat! So muß das doch auch sein, wenn es sich um Gottes Wort selbst handelt. Darum heißt es ja das lebendige Wort. Niemand kann es erkennen, ohne es zu tun, niemand es tun, ohne daß es ihn erleuchtet und ihm aufgeht. Hier zer­bricht das ungute Nebeneinander von Theorie und Praxis und damit freilich ein einge­wurzeltes Schema unserer überkommenen Weltanschauung. Darum kann es nicht mehr zwei Offenbarungsquellen geben, keine Welt „in Christus“ neben einer anderen „außer Christus (so noch Theodosius Harnack in seiner Theologie Luthers), keine Eigengesetzlichkeit irdischer Vorgänge neben der Gottesgerechtigkeit usw. Aber darüber soll hier nicht weiter geredet werden. Das würde den Rahmen sprengen, der uns hier gesetzt ist. Die von mir vertretene These mag genügen: daß weder der theologische Existentialismus (mit seiner spezifischen Gesetzeslehre) noch der kirchliche Konfessionalismus (mit seinem heilsgeschichtlichen Weltsystem) uns zu rechter theologischer Existenz verhilft, daß beide Wege der Entscheidung ausweichen, daß sie darum theologische Sackgassen sind. Die mit der Sache der Bekennenden Kirche (einer theologisch längst zuvor fundierten und zwar wohl fundierten Sache) aufgebrochene Entscheidung theologischer Existenz heute wird und muß sich in der Begegnung und Auseinandersetzung mit dem vollziehen, was sich in der kirchlichen Dogmatik ereignet und ereignet hat. Hier hat die Theologie aufgehört „Reflexion über“ zu sein, „weder „über“ das Dogma noch „über“, die Existenz, hier ist sie Tat und Erkenntnis in einem, wie es jeder Begegnung mit dem Wort des lebendigen Gottes, mit Ihm selbst entspricht.

Quelle: Junge Kirche 14 (1953), S. 510-517.


[1] In seinem Artikel: „Kritische Vorarbeiten zu einer Theologie des Alten Testaments“ aus dem Sammelband: „Theologie und Liturgie“ hat G. v. Rad davon gesprochen, „daß die Arbeit der Aktiven in unserem Fach etwas auffallend Unverbundenes hat“. Das hätte er ebensogut von der theologische Arbeit im Ganzen heute sagen können. Er wird auch darin recht haben, wenn er sagt, daß abgesehen von den äußeren Faktoren „die Gründe gewiß viel tiefer liegen in der eigentümlichen Problematik aller geistig-wissenschaftlichen Arbeit heute“. Wenn man nur wüßte, was das für eine Problematik ist! Wenn sie nur jemand beim Namen nennen könnte. Daß in diesem teilweise mit großem Fleiß zusammengetragenen Sammelband, der eine Übersicht über die theologische Arbeit zu geben bemüht ist, eine Darstellung der systematischen Theologie fehlen kann, ist bezeichnend. Dafür überwiegt die Pragmatik der Forschungsergebnisse und das praktisch-liturgische Interesse.

[2] Ich erinnere mich 1933 an eine ganze Reihe von Geisteswissenschaftlern bis hin zu heute noch bedeutenden Namen, die auf einmal entdeckten, daß ihre bisherige „abstrakte“ Tätigkeit ver­lorene Jahre gewesen seien.

[3] Bezeichnend für den Drang zu historisierender Objektivierung ist der Artikel E. Stauffers in „Theologie und Liturgie“. Vgl. demgegenüber den aus der theologischen Problematik gewonnenen Überblick über die neutestamentliche Forschung von Ernst Käsemann: „Probleme neutestamentlicher Arbeit in Deutschland“, in „Die Frei­heit des Evangeliums und die Gesellschaft“. 1952 Chr. Kaiser. Dort auch die theologisch und sachlich gute Einführung von H. J. Kraus: „Der gegenwärtige Stand der Forschung am Alten Testament“.

[4] Einen ersten Ansatz dazu bildet H. Diems „Einführung in das theologische Studium“.

[5] Max Weber. Wissenschaft als Beruf. 1919 (Zunächst als freier Vortrag in München gehalten.) Heute zu finden in M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre. S. 524.

[6] Vgl. Evangelische Theologie, Juli-Heft 1953.

[7] Eben hat Karl Barth mit KD IV/1 begonnen, die Versöhnungslehre, das Zentralstück der Dog­matik, aufzuarbeiten.

[8] Obschon der Absatz der einzelnen Bände staunenerregend ist und man sie ebenso in französi­schen, schweizerischen, holländischen, englischen, tschechischen wie deutschen Pfarrbibliotheken findet.

[9] Urs von Balthasar.

[10] Hermann Diems „Einführung in die Theologie“.

[11] Einen ersten bedeutsamen Schritt demgegenüber bildet das verdienstliche Werk Otto We­bers. Ein von Helmut Gollwitzer in Bonn gehaltener Vortrag über die „Bedeutung der Theologie Karl Barths für die Kultur“ ist leider noch nicht gedruckt. Es zeigt sich mehr und mehr, daß Barths Theologie den Rahmen einer Schule, wenn sie diesen je gehabt hat, heute endgültig gesprengt hat und daß nichts törichter ist, als uns als „Barthianer“ zu klassifizieren.

Hier der Text als pdf.


Hinterlasse einen Kommentar