Von Peter Blickle
»Die von Stainhaim haben begert, mit irem pfarrer zu verschaffen, inen das wort gotz wie hinnen zu predigen, vnd das er in das sacrament in baiderlai gestalt reichen wel«, notiert der Stadtschreiber am 16. Februar 1525 im Ratsprotokoll. Die Landschaft der Reichsstadt Memmingen, ihr Territorium, zu dem annähernd 25 Dörfer gehörten, forderte die kirchlichen Errungenschaften der Stadt Memmingen auch für die Dörfer ein. Doch es blieb nicht bei religiösen Forderungen. Die Steinheimer verlangten auch, daß man ihnen »ain pletzen holtz eyngeb«, offensichtlich fehlte es ihnen an Holz zum Bauen, Heizen und Zäunen. Die Bauern von Pleß forderten freie Jagd und Fischerei. Auch verlangten sie, »das sich ain yeder verhewraten mug, wie er wel«, was aufgrund der bestehenden Leibeigenschaft nicht möglich war. Der Ehrschatz, eine Abgabe, die zu zahlen war, wenn der Hof den Besitzer wechselte, sollte entfallen, und »wan ainer sterb, das man das gut nit heher staig mit den erben«. Güter sollten den Kindern zu den gleichen Bedingungen verliehen werden, was eine gravierende Neuerung war, denn die Güter waren »einleibfällig«, wurden nur auf die Lebenszeit eines Bauern verliehen und konnten dann wieder zu neuen Bedingungen vergeben werden. »Gepot vnd verpot sollen nach dem kayserlichen rechten gehalten werden«, heißt es weiter in der Beschwerde der Pleßer, offenbar mißfielen ihnen die Satzungen ihres Ortsherrn, des Memminger Bürgers Wilhelm Besserer.
Daß »alle heltzer frei sein sollen«, war in Erkheim zu hören. In Holzgünz klagten die Bauern, »sy seien beschwert wan ainer sterb so beschwer man im das güt oder nem Ime etwas darauß«. Todfall nannte man diese Abgabe, deren Rechtsgrund gleichfalls die Leibeigenschaft war. Auch seien die Güter zu hoch mit Abgaben belastet, und weiter fehle es ihnen »an holtz, haben gar kains vnd messens erkauffen«.
Die Steinheimer schließlich beklagten sich über die neuerlich eingeführte Gefangennahme bei Straftaten, man möge doch die alten Bräuche wieder in Kraft setzen.
Die Beschwerden, so unvollständig sie auch überliefert sind, berühren die Leibherrschaft, die Grundherrschaft und die Gerichtsherrschaft, die Nutzungsrechte am Wald, an der Allmende, und sie nehmen kirchliche und naturrechtliche Forderungen auf. Reformen auf breiter Front wollten die Bauern.
Daß sie ungewöhnlich waren, belegen die kursorischen Nachrichten, die über ihr Zustandekommen überliefert sind. Offensichtlich nämlich gab es ganz unterschiedliche Meinungen in den Dörfern. Als die Bauern von Pleß sich zusammen verschworen, um ihre Interessen durchzusetzen, weigerten sich der Ammann und die Dorfvierer, diesen Eid zu leisten. In Erkheim hatte ein Bauer »durch sich selbs ain gemaind […] samlen laßen«, ihr seine persönlichen Schwierigkeiten vorgetragen und seine Nachbarn ermutigt, sich auch zu wehren, »vnd darauf die gemaind siben außgeschoßen, was die von der gemaind handien, das sol sein«. Innerhalb der Gemeinde mußte sich erst ein Willensbildungsprozeß vollziehen; an seinem Ende waren keinesfalls immer alle von der Mehrheitsmeinung überzeugt, aber solidarisch wurde dennoch gehandelt: man unterwarf sich dem Mehrheitsbeschluß, wie die Beschwerden zeigen, die immer als Gemeindebeschlüsse ausgefertigt wurden.
Angesichts der Unruhe auf der Landschaft forderte der Memminger Rat am 23. Februar die Bauern seiner Dörfer auf, aus jedem Gericht einen vierköpfigen Ausschuß zu bilden, der die Beschwerden sammeln und vor dem Rat vertreten sollte. Tags darauf trat dieser Ausschuß aus 27 Dörfern, in der Stadt zusammen – man kann das eine Art Landtag nennen – , legte aber zum Erstaunen der Räte keine konkreten Einzelbeschwerden vor, sondern eine ganz summarische, dafür um so prinzipiellere Forderung: »Nachdem ain ersamer Rat gut Wißen tregt, wie das hailig Evangelium nun me bei zwai Jaren ongefarlich bei euch und an andern Orten verkindt und offenbar ist, allain aus Gnaden Gottes, wölchem sei Lob und Er, weil nun sich erfinden wil vil böser Mißbreüch, so dem Wort Gottes ganz entgegen und zuwider seind, auch dem gemainen armen Man vast beschwerlich und unleidenlich, damnach ist unser diemietig Bit und Beger an E.e.W., ir wollen uns nach Ausweisung und Inhalt des götlichen Worts halten und bei demselben bleiben laßen. Was uns dann dasselbig götlich Wort nimpt und gibt, wöl wir alzeit gern annemen und bei demselben bleiben«. Das »Wort Gottes«, das »göttliche Wort«, sollte über die Pflichten, welche die Bauern auf der Landschaft der Stadt als ihrer Obrigkeit gegenüber hatten, entscheiden. Damit war – sollte sich die Memminger Landschaft durchsetzen – ein völlig neuer Maßstab für die Gestaltung der gesellschaftlichen und der politischen Ordnung gewonnen. Die herausragende Bedeutung dieser neuen Legitimation weltlicher Ordnungen kann man nur dann richtig einschätzen, wenn man sich vergegenwärtigt, daß Europa sein positives Recht nie aus seinen religiösen Quellen, etwa der Bibel, geschöpft hat.
Nach dieser gewiß absichtlich grundsätzlichen Erklärung versprachen die Bauern, ihre Forderungen zu konkretisieren und dem Rat einzureichen. Allerdings verzichteten sie auf eine Differenzierung der materialen Forderungen von Dorf zu Dorf, sondern brachten, spätestens vier Tage später, von allen gebilligte »Articel, so die erbern Underton der Bauersleut und Hindersäß der Stadt Memingen […] furhalten«, ein.
»Fürs erste«, so beginnt die Artikelschrift, »ist unser diemutigist, höchst Bit und Beger, das wir nun hinfuro selb ainen Pfarrer erkiesen und erwollen [wählen, P. B.], der uns das gotlich, allmechtig, lebendig Wort und hailig Ewangelion, welhes ist ain Speiß unserer Sell, rain, lauter und dar nach rechtem Verstand verkind und predige on allem Menschenzusatz, Ler und Gepott«. Das reine Evangelium muß der Pfarrer predigen. Tut er das , wird er von der Gemeinde unterhalten, tut er es nicht, soll man »ainen andern an sein Stat wollen [wählen, P. B.], das alweg mit Wißen ainer ganzen Gemaind, dann wir je unverkinden des gotlichen Worts nit selig werden mugen« (Artikel 1). Der Zehnt soll, weil biblisch nicht begründbar, aufgehoben werden, zumal jede Gemeinde sich bereit erklärt, den Pfarrer zu unterhalten (Artikel 2). Bisher sei es Brauch gewesen, »das wir für euer aigen, arm Leut gehalten worden seien, welches zu erbarmen ist, angesehen, daß uns Cristus all mit seinem teuren Blut erlöset und erkauft hat, den Hirten gleich sowol als den Kaiser«. ›Eigenleute‹ darf es nicht mehr geben, die Leibeigenschaft muß aufgehoben werden, doch beeilen sich die Bauern zu versichern, daß sie damit nicht jede Obrigkeit abschaffen wollten (Artikel 3). Das zu betonen war dringlich, denn in Oberschwaben und besonders im Allgäu war die Leibeigenschaft weitgehend Rechtsgrundlage und Legitimationsbasis obrigkeitlicher Rechte. Biblisch wird nicht nur die Aufhebung der Leibeigenschaft begründet, sondern auch die Freigabe von Jagd und Fischerei, »wann als Got der Her den Menschen erschaffen, hat er im Gewalt geben über den Fisch im Waßer, dem Fogel im Luft und über alle Tier auf Erden« (Artikel 4). Die Dienste, Fronen werden sie sonst oft auch genannt, »die von Tag zu Tag sich gemert und zugenommen haben«, sollen auf das Maß zurückgenommen werden, wie es in der letzten Generation üblich war (Artikel 5). Der Ehrschatz soll aufgehoben werden (Artikel 6). Die Bußen, die auf schweren Verbrechen stehen, sind dem alten Herkommen entsprechend zu vermindern (Artikel 7). Ehemaliges Gemeindeland ist den Dörfern zurückzugeben (Artikel 8). Landwirtschaftliche Erzeugnisse wollen die Bauern frei verkaufen dürfen – eine Forderung, die sich offensichtlich gegen den Marktzwang der Stadt richtet –, und die Gülten, die Abgaben, die auf den Gütern liegen, sollen bei Mißernten entsprechend verringert werden (Artikel 9), wie überhaupt die Gültabgaben zu ermäßigen sind, weil die Höfe die Belastung nicht tragen können (Artikel 9).
»Zum Beschluß«, so endet die Beschwerdeschrift, »ist unser entliehe Mainung und Wil, wa wir ainen oder mer Articel alhie gesteh hetten, so dem Wort Gottes nit gmeß weren, als wir dann nit vermainen, dieselben Articel solten uns nicht gelten. Dergleichen, wa uns schon Articel zugelaßen werde, und sich nachmals durch das Wort Gots dar befunde, Unrecht sein, wolten wir das gar nit haben. Herwider, wa wir ain oder mer Articel nachmals befunden, so dem Wort Gottes entgegen und zuwider weren, ist unser Beger, dieselbigen alzeit ainem ersamen Rat furzuhalten und anzuzaigen«. Damit wird nochmals das leitende Prinzip aller Beschwerden, das schon in der Stellungnahme vom 24. Februar formuliert worden war, bekräftigt.
Die »Memminger Artikel« verdienen über ihre regionale Bedeutung hinaus Beachtung. Das ›göttliche Wort‹ hatte bislang eine solche Last, wie die Memminger Bauern sie ihm zumuteten, nicht tragen müssen. Erst jetzt wurden weitgehende wirtschaftliche, soziale und politische Forderungen – weltliche Angelegenheiten durch und durch – von der Überzeugung getragen, sie seien durch das Evangelium gerechtfertigt.
Die »Memminger Artikel« decken sich erwartungsgemäß weitestgehend mit den Einzelbeschwerden, aber eben nur weitestgehend: von der Pfarrerwahl, den zu vielen Fronen und der biblischen Begründung war in ihnen nichts zu hören.
Der Memminger Rat hat sich mindestens zwei Mal mit diesen Beschwerden befaßt, in beiden Fällen in einer den Bauern entgegenkommenden Weise, die anderwärts die Obrigkeiten durchaus vermissen ließen.
Zwar sah sich der Rat außerstande, die Rechtstitel fremder Patronatsherren zu schmälern und die von ihm selbst bestellten Pfarrer zu entlassen, denn das wäre blanker Rechtsbruch gewesen, doch wollte er die Geistlichen auffordern, das reine Evangelium zu predigen und im Weigerungsfall nach geeigneten Maßnahmen suchen. Nach dem Tod der amtierenden Geistlichen, und falls sich die Schriftgemäßheit der Forderung bestätigen sollte, »mag dan aine yede gemaind Iren pfarrer erwelen«. Der Zehnt soll, soweit er caritativen Einrichtungen wie Spitälern zufließt, weiter entrichtet werden, doch kann er abgelöst werden. Aus der Leibeigenschaft will die Stadt ihre Bauern »gern erlassen und frey sagen«, doch dürfen dadurch die städtischen Hoheitsrechte, die Steuer- und Wehrhoheit und die Satzungskompetenz, nicht geschmälert werden. Soweit die Stadt die Forst- und Jagdhoheit besitzt, ist sie bereit, den Bauern das Jagdrecht einzuräumen, die Fischerei jedoch könne man nur insofern freigeben, als die Bauern ihre vermeintlich älteren Rechtsansprüche rechtsförmig belegen könnten.
Verärgert reagiert der Rat auf die Beschwerde über erhöhte Dienste. »In dem nimpt ain Rat unpillich das seine Underthanen in dem ainich beschwerung haben, hetten sich des zu den Iren nit versehen, dann wen die Underthanen bedechten wie anderer Herrschafften Underthanen neben und umb Inen sitzen und wie etlich all Wochen 2 Dienst thun müssen so hetten Sy solch Ir vormaintlich beschwärung billich erspart«. Der Ton ist rauh und entspricht in keiner Weise dem sprachlichen Duktus der übrigen Antworten.
Der Ehrschatz – fahrt das Protokoll über die Beratungen des Rates moderater fort – habe seine Berechtigung, weil er in Lehensbriefen verurkundet sei, doch will die Stadt auf ihn verzichten, wenn die Bauern bereit sein sollten, ihre Höfe jedes Jahr neu in Bestand zu nehmen. Der Rat könne mit den Gütern durchaus so verfahren, »wie dan seine Underthanen begern das es mit Iren pfarherrn hinfur gehalten werden sol«, nämlich sie wegzuschicken, wenn sie ihr Geschäft nicht ordnungsgemäß erledigten, in diesem Fall den Hof nicht ordentlich bebauten. Wer will dem Rat bestreiten, daß das eine äußerst pfiffige Gegenargumentation war; ein Schuß pragmatischen Humors schleicht sich in die oft so ernste Erörterung der religiösen und religiös verbrämten Probleme. Die Beschwerde über die Bußen sei zu undifferenziert und solle detaillierter begründet werden, verlangt der Rat, hingegen könne man den Verkauf der landwirtschaftlichen Produkte freigeben und bei Mißernten hinsichtlich der Abgaben »ain christenlich und bruederlich eynsehen haben«.
Das Entgegenkommen des Rates ist bemerkenswert, zumal er, wie abschließend zum Ausdruck kommt, der Überzeugung war, »das seine Underthanen gegen [im Vergleich zu, P.B] andern Herrschafft Underthanen gar nicht beschwert seien«.
Eine definitive Antwort auf die »Memminger Artikel« war dies nicht. Sie erfolgte, nachdem Gutachten von Theologen eingeholt worden waren, am 15. März. Viel wurde im abschließenden Ratsbescheid allerdings nicht geändert: Bei den Patronatsherren wollte man sich für die Bestellung evangelischer Pfarrer einsetzen oder die Pfarrerwahl für die Gemeinde erreichen; in der Zehntfrage entschied man restriktiver, aber auch unbestimmter – da Verhandlungen zwischen allen oberschwäbischen Bauern und dem Schwäbischen Bund anstünden, seien deren Ergebnisse abzuwarten; die Freilassung aus der Leibeigenschaft sollte bleiben, die daraus folgenden Rechtsveränderungen jedoch wurden präzisiert: die freie Heirat wird gestattet, aber auf Freie beschränkt; die Freizügigkeit wird gewährleistet, wenn alle Verpflichtungen, zu denken ist wohl an Schulden, erfüllt sind; Steuer-, Wehr- und Gebotshoheit des Rates bleiben von der Aufhebung der Leibeigenschaft unberührt. Die übrigen Artikel wurden im wesentlichen dem ersten Ratschlag folgend entschieden.
Das legitimierende Prinzip des göttlichen Worts nahm schließlich auch der Rat für sich in Anspruch. Falls er in seinen Zugeständnissen weiter gegangen sein sollte, als »das wort gottes« erlaubt, behält er sich Änderungen vor, »inmaßen vnd wie sein vnderthonen in iro artickel auch begert haben«.
Die Stadt hat pragmatisch den Konflikt mit ihrer Landschaft bereinigt, die Zugeständnisse später, als das politische Klima das erlaubt hätte, nicht zurückgenommen. Sicher ist es darauf zurückzuführen, daß sich Memminger Bauern am Bauernkrieg kaum beteiligten. Während ganz Oberschwaben im Aufruhr war, blieb es auf der Memminger Landschaft ruhig.
Die bauernfreundliche Politik der Stadt zeitigte aber noch weitere Folgen, die Memmingen noch in schwere außenpolitische Bedrängnis bringen sollten – die oberschwäbischen Bauern machten Memmingen zum Tagungsort ihres »Bauernparlaments«. Im März 1525 war Memmingen die Kommandozentrale der »Revolution des gemeinen Mannes«.
Quelle: Peter Blickle, Memmingen – Ein Zentrum der Reformation, in: Joachim Jahn/Hans-Wolfgang Bayer (Hrsg.), Die Geschichte der Stadt Memmingen. Von den Anfängen bis zum Ende der Reichsstadt, Stuttgart: Theiss 1997, S. 351-418, hier 388-393.