Michel Foucault, Was ist ein Autor?: „Der Autor ist genau genommen weder der Eigentümer seiner Texte, noch ist er verantwortlich dafür; er ist weder ihr Produzent noch ihr Erfinder. Der Autor ist sicherlich derjenige, dem man das Geschriebene oder Gesagte zuschreiben kann. Aber die Zuschreibung – selbst wenn es sich um einen be­kannten Autor han­delt – ist das Ergebnis komplizierter kritischer Operationen.“

Was ist ein Autor?

Von Michel Foucault

Französische Gesellschaft für Philosophie Sitzung vom Samstag, den 22. Februar 1969

Michel Foucault, Professor am Centre Universitaire Experimental in Vincennes, möchte vor den Mitgliedern der Französischen Ge­sellschaft für Philosophie folgende Argumente ent­wickeln:

»Wen kümmert’s, wer spricht?« In dieser Gleichgültigkeit äußert sich das wohl grundlegend­ste ethische Prinzip zeitgenössischen Schreibens. Das Zurücktreten des Autors ist für die Kri­tik zu einem mittlerweile alltäglichen Thema geworden. Wesentlich ist jedoch nicht, einmal mehr sein Verschwinden festzustellen, sondern als – ebenso gleichgültige wie zwingende – Leerstellen die Orte aus­findig zu machen, an denen er seine Funktion ausübt.

1. Autorname: man kann ihn nicht wie eine festgelegte Beschrei­bung behandeln; aber man kann ihn ebensowenig wie einen ge­wöhnlichen Eigennamen behandeln.

2. Aneignungsverhältnis: der Autor ist genau genommen weder der Eigentümer seiner Texte, noch ist er verantwortlich dafür; er ist weder ihr Produzent noch ihr Erfinder. Wie ist der »speech act« beschaffen, der es erlaubt, von einem Werk zu sprechen?

3. Zuschreibungsverhältnis: der Autor ist sicherlich derjenige, dem man das Geschriebene oder Gesagte zuschreiben kann. Aber die Zuschreibung – selbst wenn es sich um einen be­kannten Autor han­delt – ist das Ergebnis komplizierter kritischer Operationen. Un­sicherheiten des »Opus«.

4. Position des Autors: Position des Autors im Buch (Verwendung von Einschüben; Funktio­nen von Vorwörtern; Trugbilder vom Schreiber, Vortragenden, Vertrauten, Memoirenschrei­ber. Position des Autors in den verschiedenen Diskurs-Typen (im philosophischen Diskurs zum Beispiel). Position des Autors in einem diskursiven Feld (Was ist das, der Begründer eines Fachs? Was kann die »Rück­kehr zu . . .« als entscheidendes Moment für die Transfor­mation eines Redefeldes bedeuten?). [7]

Sitzungsbericht

Die Sitzung wird um 16.25 Uhr im College de France, Saal 6 unter dem Vorsitz von Jean Wahl eröffnet.

Jean Wahl. – Wir freuen uns, heute Michel Foucault bei uns zu haben. Wir waren etwas ungeduldig, bis er kam, und etwas beun­ruhigt über seine Verspätung, aber er ist da. Ich stelle ihn Ihnen nicht vor, das ist der »richtige« Michel Foucault, der von Les Mots et les Choses, der mit der Doktorarbeit über den Wahnsinn. Ich erteile ihm sofort das Wort.

Michel Foucault. – Ich glaube – ohne übrigens ganz sicher zu sein daß es Tradition ist, dieser Gesellschaft für Philosophie das Ergebnis schon fertiger Arbeiten mitzubringen, um sie ihrer Prü­fung und Kritik vorzulegen. Leider ist das, was ich Ihnen heute mit­bringe, viel zu unbedeutend, so fürchte ich, um Ihre Aufmerksam­keit zu verdienen: einen Plan möchte ich Ihnen vorlegen, den Ver­such einer Analyse, deren große Linien ich selbst noch kaum sehe; es schien mir jedoch, daß, bemühte ich mich, diese Linien vor Ihnen nachzuzeichnen, und bäte ich Sie, sie zu beurteilen und zu berich­tigen, ich als »guter Neurotiker« auf der Suche nach einem doppel­ten Vorteil sei: zunächst dem, die Ergebnisse einer noch nicht exi­stierenden Arbeit vor der Strenge Ihrer Einwände zu bewahren, und dem, im Augenblick ihrer Entste­hung ihr nicht nur Ihre Patenschaft, sondern auch Ihre Anregungen zugute kommen zu lassen.

Und ich möchte Sie noch um etwas anderes bitten; seien Sie mir nicht böse, daß ich, wenn ich Sie gleich Ihre Fragen werde stellen hören, noch immer und vor allem hier das Fehlen einer Stimme spü­re, die mir bislang unerläßlich war; Sie werden sicher verstehen, daß ich gleich fast zwangsläufig auf meinen ersten Lehrer [1] zu hören versuche. Schließlich habe ich über meinen ersten Arbeitsplan zu­nächst mit ihm gesprochen. Ganz sicher hätte ich seiner Unter­stüt­zung auch für diesen Entwurf bedurft und seiner neuerlichen Hilfe in meiner Unsicherheit. Doch da ja schließlich die Abwesenheit der erste Ort des Diskurses ist, gestatten Sie mir bitte, daß ich mich heute Abend in erster Linie an ihn wende. [9]

Das Thema, das ich mir vorgenommen habe: »Was ist ein Autor?« muß ich wohl vor Ihnen etwas rechtfertigen.

Wenn ich mich dazu entschlossen habe, diese vielleicht ein wenig sonderbare Frage zu beh­andeln, so geschieht dies zunächst, weil ich da und dort Kritik üben wollte an dem, was mir früher einmal beim Schreiben unterlaufen ist. Und ich wollte auf eine Reihe von Un­vorsich­tigkeiten zurückkommen, die ich begangen habe. In Les Mots et les Choses habe ich versucht, Wortmassen zu untersuchen, in ge­wisser Weise Diskursschichten, die nicht nach den üblichen Einhei­ten Buch, Werk, Autor gegliedert sind. Ich sprach allgemein von der »Naturgeschichte« oder der »Analyse des Reichtums« oder von »politischer Ökonomie«, jedoch nicht von Wer­ken und Schriftstel­lern. Allerdings habe ich durch den ganzen Text hindurch naiv, und das heißt barbarisch, Autorennamen verwendet. Ich habe von Buffon, Cuvier, Ricardo, usw. ge­sprochen und habe diese Namen in sehr peinlicher Mehrdeutigkeit stehen lassen. Deshalb konnten gerechter­weise zwei Haupteinwände vorgebracht werden, die in der Tat auch vor­gebracht wurden. Die einen haben mir gesagt: Sie beschreiben weder Buffon noch sein Gesamtwerk, wie es sich gehört, und das, was Sie über Marx sagen, ist lächerlich wenig verglichen mit dem Marxschen Denken. Diese Einwände waren zwar begründet, aber ich glaube nicht, daß sie ganz das trafen, was ich gemacht hatte; denn mein Problem war nicht, Buffon oder Marx zu beschreiben oder wiederzugeben, was sie gesagt hatten oder hatten sagen wol­len: ich versuchte einfach, die Regeln zu finden, mit denen sie eine bestimmte Zahl von Begriffen oder theoretischen Einheiten gebildet hatten. Und noch einen anderen Einwand hat man vorgebracht: Sie gründen ungeheuerliche Familien, Sie bringen so offensichtlich ge­gensätzliche Namen wie Buffon und Finne zusammen, Sie stellen Cuvier neben Darwin, und das entgegen aller sichtbaren Familien­bande und natürlicher Ähnlichkeiten. Auch hier würde ich sagen, scheint der Einwand nicht ganz zutreffend, denn ich habe niemals versucht, einen Stammbaum geistiger Individualitäten zu schaffen, ich habe kein intellektuelles Daguerreotyp des Gelehrten oder Natur­forschers im 17. und 18. Jahrhundert machen wollen; ich habe keine Familie gründen wollen, keine heilige und auch keine perverse, son­dern ich habe einfach – und viel bescheidener – nach den Funktions­bedingungen bestimmter diskursiver Praktiken gesucht. [10]

Warum haben Sie dann, werden Sie mir sagen, in Les Mots et les Choses Autornamen ver­wendet? Man hätte sich entweder ihrer überhaupt nicht bedienen oder die Art und Weise defi­nieren sollen, in der Sie sie gebrauchen. Dieser Einwand ist, glaube ich, völlig richtig: ich habe versucht, seine Implikationen und Konsequenzen in einem Text[2] zu ermessen, der bald erscheinen wird; ich versuche dort, für große diskursive Einheiten ein Statut zu finden, für das, was wir Naturgeschichte oder politische Ökonomie nennen; ich habe mich gefragt, mit welchen Methoden und welchen Instrumen­ten man sie finden, gliedern, analysieren und beschreiben kann. Das ist der erste Teil einer Arbeit, die ich vor einigen Jahren begonnen und jetzt abgeschlossen habe.

Aber eine andere Frage stellt sich: die nach dem Autor – und dar­über möchte ich mich jetzt mit Ihnen unterhalten. Der Begriff Autor ist der Angelpunkt für die Individualisierung in der Geistes-, Ideen- und Literaturgeschichte, auch in der Philosophie- und Wissenschafts­ge­schich­te. Selbst wenn man heute die Geschichte eines Begriffs, einer literarischen Gattung oder eines bestimmten Philosophietyps nachzeichnet, glaube ich, betrachtet man diese Einheiten wohl als relativ schwache, zweitrangige und überlagerte Ordnungsprinzipien verglichen mit der ersten, soliden und grundlegenden Einheit: Autor und Werk.

Zumindest für den Vortrag heute Abend möchte ich die historisch-soziologische Analyse der Autor-Person beiseitelassen. Wie sich der Autor in einer Kultur wie der unseren individuali­siert hat, welchen Status man ihm zugewiesen hat, seit wann man sich zum Beispiel daran gemacht hat, Authentizitäts- und Zuschreibungsuntersuchun­gen anzustellen, in welches Wertsystem der Autor eingeordnet wur­de, von welchem Zeitpunkt an man begonnen hat, nicht mehr das Leben von Helden, sondern das von Autoren zu erzählen, wie sich die Grund­kategorie der Kritik »Mensch und Werk« herausgebildet hat – all das wäre sicher wert, unter­sucht zu werden. Für den Mo­ment möchte ich nur den Bezug Text-Autor ins Auge fassen, die Art, in der der Text auf jene Figur verweist, die ihm, wenigstens dem Anschein nach, äußer­lich ist und ihm vorausgeht.

Die Formulierung des Themas, von dem ich ausgehen möchte, [11] übernehme ich von Be­ckett: »Wen kümmert’s, wer spricht, hat je­mand gesagt, wen kümmert’s, wer spricht.« In dieser Gleichgültig­keit muß man wohl eines der ethischen Grundprinzipien heutigen Schrei­bens erkennen. Ich sage »ethisch«, denn diese Gleichgültigkeit kennzeichnet nicht eigentlich die Art, wie man spricht oder schreibt; sie ist eher eine Art immanenter Regel, die immer wieder aufge­griffen wird und deren man sich doch nie ganz bedient, ein Prinzip, das das Schreiben nicht als Ergebnis kennzeichnet, sondern es als Praxis beherrscht. Diese Regel ist so bekannt, daß man sie nicht noch lange analysieren muß; es soll hier damit getan sein, sie durch zwei ihrer großen Themen zu spezifizieren. Zunächst läßt sich sagen, daß sich das Schreiben heute vom Thema Ausdruck befreit hat: es ist auf sich selbst bezogen, und doch wird es nicht für eine Form von Innerlichkeit gehalten; es identifiziert sich mit seiner eigenen ent­falteten Äußerlichkeit. Dies besagt, daß das Schreiben ein Zeichen­spiel ist, das sich weniger nach seinem bedeuteten Inhalt als nach dem Wesen des Bedeutenden richtet; dies besagt aber ebenso, daß man mit dieser Schreibregularität immer wieder von seinen Grenzen her experimentiert; immer übertritt und kehrt es diese Regularität um, die es anerkennt und mit der es spielt. Das Schreiben entwickelt sich wie ein Spiel, das zwangsläufig seine Regeln überschreitet und so nach außen tritt. Im Schreiben geht es nicht um die Bekundung oder um die Lobpreisung des Schreibens als Geste, es handelt sich nicht darum, einen Stoff im Spre­chen festzumachen; in Frage steht die Öffnung eines Raumes, in dem das schreibende Subjekt immer wieder verschwindet.

Das zweite Thema ist noch vertrauter; es ist die Verwandtschaft des Schreibens mit dem Tod. Diese Verbindung kehrt ein jahrtau­sendealtes Thema um; die Erzählung oder das Epos der Griechen war dazu bestimmt, die Unsterblichkeit des Helden zu verewigen, und wenn der Held zustimmte, jung zu sterben, so geschah dies, damit sein geweihtes und durch den Tod erhöhtes Leben in die Unsterblichkeit eingehen konnte; die Erzählung löste den hingenom­menen Tod ein. In anderer Weise hatte auch die arabische Erzählung – ich denke an Tausend­undeine Nacht – das Nichtsterben zur Mo­tivation, zum Thema und zum Vorwand: man sprach, man erzählte bis zum Morgengrauen, um dem Tod auszuweichen, um die Frist hinaus­zuschieben, die dem Erzähler den Mund schließen sollte. Die [12] Erzählungen Scheherazades sind die verbissene Kehrseite des Mords, sie sind die nächtelange Bemühung, den Tod aus dem Bezirk des Lebens fernzuhalten. Dieses Thema: Erzählen und Schreiben, um den Tod abzuwenden, hat in unserer Kultur eine Metamorphose er­fahren; das Schreiben ist heute an das Opfer gebunden, selbst an das Opfer des Lebens; an das freiwillige Auslöschen, das in den Büchern nicht dargestellt werden soll, da es im Leben des Schriftstellers selbst sich voll­zieht. Das Werk, das die Aufgabe hatte, unsterblich zu machen, hat das Recht erhalten, zu töten, seinen Autor umzu­bringen. Denken Sie an Flaubert, Proust, Kafka. Aber da ist noch etwas anderes; die Beziehung des Schreibens zum Tod äußert sich auch in der Verwischung der individuellen Züge des schreibenden Subjekts. Mit Hilfe all der Hindernisse, die das schreibende Sub­jekt zwischen sich und dem errichtet, was es schreibt, lenkt es alle Zeichen von seiner eigenen Individualität ab; das Kennzeichen des Schriftstellers ist nur noch die Einmaligkeit seiner Abwesenheit; er muß die Rolle des Toten im Schreib-Spiel übernehmen. All das ist bekannt; und schon seit geraumer Zeit haben Kritik und Philosophie von diesem Verschwinden oder diesem Tod des Autors Kenntnis genommen.

Ich bin jedoch nicht sicher, ob man auch rigoros alle notwendigen Konsequenzen aus dieser Feststellung gezogen und ob man das Er­eignis in seiner Tragweite ganz erkannt hat. Genauer gesagt, es scheint mir, daß eine Reihe von Begriffen, die heute das Privileg des Autors erset­zen sollen, es eigentlich blockieren und das umge­hen, was im Grunde ausgeräumt sein sollte. Ich nehme einfach zwei von diesen Begriffen heraus, die meiner Meinung nach heute ganz besonders wichtig sind.

Zunächst der Begriff Werk. Man sagt ja (und das ist eine weitere sehr bekannte These), daß das Besondere der Kritik nicht darin be­stehe, die Beziehungen zwischen Werk und Autor aufzudecken oder mit Hilfe der Texte, Denken oder Erfahrung zu rekonstruieren; die Kritik soll vielmehr das Werk in seiner Struktur analysieren, in seinem Bau, in seiner inneren Form und im Wechselspiel seiner in­neren Beziehungen. Nun muß man aber gleich eine Frage stel­len: »Was ist ein Werk?« was ist das für eine komische Einheit, die man mit dem Namen Werk bezeichnet? aus welchen Elementen besteht es? ist ein Werk nicht das, was der ge­schrieben hat, der Autor ist? [13] Man sieht Schwierigkeiten auftauchen. Wenn nicht ein Indi­viduum Autor wäre, könnte man dann sagen, daß das, was es geschrieben oder gesagt hat, das, was es in seinen Papieren hinterlassen hat, das, was man aus seinen Äußerungen anführen kann, »Werk« genannt werden könnte? Wäre also Sade kein Autor, was wären dann seine Papiere? Papierrollen, auf denen er während seiner Gefängnistage endlos seine Wahnvorstel­lungen entrollte.

Aber nehmen wir an, daß man es mit einem Autor zu tun hat: ist alles, was er geschrieben hat, alles, was er hinterlassen hat, Teil seines Werks? Ein zugleich theoretisches und technisches Problem. Wenn man zum Beispiel an die Veröffentlichung der Werke Nietz­sches geht, wo soll man Halt machen? Man soll alles veröffentli­chen, ganz sicher, aber was heißt denn dieses »alles«? Alles, was Nietzsche selbst veröffentlicht hat, einverstanden. Seine Werkent­würfe? zweifellos. Aphorismusprojekte? ja. Aber wenn man in einem Notizbuch voller Aphorismen einen Bezug, einen Hinweis auf ein Rendezvous oder eine Adresse oder eine Wäschereirech­nung findet: Werk oder nicht Werk? Aber warum nicht? Und so weiter ad infinitum. Wie kann man aus den Millionen Spuren, die jemand nach seinem Tod hinterläßt, ein Werk be­stimmen? Die Werktheorie exi­stiert nicht und denen, die naiv beginnen, ein Werk herauszu­geben, fehlt eine solche Theorie, so daß ihre empirische Arbeit deshalb sehr rasch ins Stocken gerät. Und man könnte fortfahren: Kann man sagen, daß Tausendundeine Nacht ein Werk ist? und die Stromaten von Clemens von Alexandrien oder die Vitae des Diogenes Laertes? Man sieht, wie es um den Werkbegriff herum vor Fragen wimmelt. Deshalb ist es nicht genug, wenn man sagt: verzichten wir auf den Schriftsteller, verzichten wir auf den Autor, unter­suchen wir nur das Werk in sich selbst. Das Wort »Werk« und die Einheit, die es bezeichnet, sind wahrscheinlich genauso problematisch wie die In­dividualität des Autors.

Ich glaube, noch ein anderer Begriff blockiert die Feststellung vom Verschwinden des Autors und hält das Denken in gewisser Weise am Rande dieses Verlöschens fest; listenreich sichert er noch immer das Fortleben des Autors. Es handelt sich um den Begriff Schreiben. Streng genommen müßte er nicht nur die Bezugnahme auf den Autor überflüssig machen können, sondern seiner ja neuen Abwe­senheit das entsprechende Statut zuweisen. In dem Statut, das augen-[14]blicklich für den Begriff Schreiben gilt, geht es denn auch nicht um die Geste des Schreibens, auch nicht um die Kennzeichnung (Sym­ptom oder Zeichen) dessen, was jemand hätte sagen wollen; man be­müht sich beachtenswert tiefgründig, die Bedingungen des Textes schlechthin zu durchdenken, zugleich die des Raumes, in dem er sich verliert, und der Zeit, in der er sich entfaltet.

Ich frage mich, ob dieser Begriff, wenn er wie manchmal auf seinen landläufigen Gebrauch reduziert ist, nicht die empirischen Charakterzüge des Autors in eine transzendentale Anony­mität über­trägt. Es kann geschehen, daß man sich damit zufrieden gibt, die offensichtlichsten Kennzeichen des empirischen Autors zu verwi­schen und spielt dabei, parallel oder gegenein­ander, zwei Charak­terisierungsarten aus: die kritische und die religiöse. Wenn man nämlich dem Schreiben ein ursprüngliches Statut zuweist, so ist das wohl nur eine Art, einerseits die theologische Behauptung vom geheiligten Charakter des Geschriebenen und andererseits die kri­tische Behauptung seines schöpferischen Charakters ins Transzen­dentale rückzuübersetzen. Wenn man zugesteht, daß das Schreiben durch den geschichtlichen Ablauf, der es erst mög­lich macht, in ge­wisser Weise dem Vergessen und der Unterdrückung anheimgestellt ist, heißt das dann nicht, das religiöse Prinzip vom verborgenen Sinn (mit der Notwendigkeit, ihn zu interpretieren) und das kritische Prinzip impliziter Bedeutungen, stillschweigender Determina­tionen und dunkler Inhalte (mit der Notwendigkeit, sie zu kommentieren) in transzendentalen Begriffen darstellen? Schließlich, wenn man das Schreiben als Abwesenheit begreift, heißt das dann nicht einfach, in transzendentalen Worten das religiöse Prinzip der zugleich un­wan­delbaren und nie erfüllten Tradition und das ästhetische Prin­zip vom Überleben des Werks, von seinem Fortbestand über den Tod hinaus, von seinem rätselhaften Überschuß im Verhält­nis zum Autor wiederholen?

Ich meine also, daß ein solcher Gebrauch des Begriffs Schreiben Gefahr läuft, die Privilegien des Autors im Schutz des a priori zu bewahren: er läßt im grauen Licht von Neutralisierungen die Vor­stellungen fortbestehen, die ein bestimmtes Autorbild geschaffen haben. Das Ver­schwinden des Autors, ein Ereignis, das seit Mallarme anhält, wird einer transzendentalen Blockierung unterworfen. Gibt es nicht eine augenblicklich wichtige Trennungslinie zwischen denen, [15] die immer noch glauben, die Brüche des Heute in der historisch-transzendentalen Tradition des 19. Jahrhunderts begreifen zu kön­nen, und denen, die sich davon endgültig zu befreien suchen?

Als Leeraussage zu wiederholen, daß der Autor verschwunden ist, reicht aber offenbar nicht aus. Ebenso reicht es nicht aus, endlos zu wiederholen, daß Gott und Mensch eines gemeinsa­men Todes ge­storben sind. Was man tun müßte, wäre, den durch das Verschwin­den des Autors freigewordenen Raum ausfindig zu machen, der Verteilung der Lücken und Risse nachzugehen und die freien Stellen und Funktionen, die dieses Verschwinden sichtbar macht, auszu­kundschaften.

Ich möchte Ihnen zunächst in wenigen Worten eine Vorstellung von den Problemen geben, die mit dem Gebrauch des Autornamens verbunden sind. Was ist ein Autorname? Und wie funktioniert er? Ich bin weit davon entfernt, Ihnen eine Lösung anbieten zu können, sondern ich will nur auf einige der Schwierigkeiten hinweisen, die er aufwirft.

Der Autorname ist ein Eigenname; er stellt die gleichen Probleme wie dieser. (Ich beziehe mich unter anderem auf die Untersuchun­gen von Searle.) Es ist offenbar nicht möglich, aus dem Eigennamen einfach einen Verweis zu machen. Der Eigenname (und der Autor­name ebenso) haben nicht nur hinweisende Funktionen. Er ist mehr als ein Hinweis, eine Geste, ein Fingerzeig; in gewisser Weise ist er das Äquivalent für eine Beschreibung. Sagt man »Aristo­teles«, so verwendet man ein Wort, das Äquivalent für eine Beschreibung oder eine Reihe von Beschreibungen ist, etwa von der Art: »Der Autor der Analytischen Schriften« oder der »Be­gründer der Onto­logie«, usw. Aber dabei kann man es nicht bewenden lassen; ein Eigenname hat nicht nur einfach eine Bedeutung; wenn man ent­deckt, daß Rimbaud nicht La Chasse spirituelle geschrieben hat, so kann man doch nicht verlangen, daß etwa dieser Eigenname oder dieser Autorname seine Bedeutung geändert hätte. Der Eigenname und der Autorname liegen zwischen den beiden Polen der Beschrei­bung und der Bezeichnung; sie haben ganz sicher eine gewisse Ver­bindung zu dem, was sie benennen, aber weder ganz im Sinne der Bezeichnung noch ganz im Sinne der Beschreibung: es ist eine ganz besondere Verbindung. Jedoch – und hier tauchen die eigentlichen [16] Schwierigkeiten des Autornamens auf – die Verbindung des Eigen­namens mit dem benannten Individuum und die Verbindung des Autor­namens mit dem, was er benennt, sind nicht isomorph und funktionieren nicht in gleicher Weise. Hier einige der Unterschiede.

Wenn ich zum Beispiel merke, daß Pierre Dupont keine blauen Augen hat oder nicht in Paris geboren ist oder nicht Arzt ist, usw., so bleibt es doch dabei, daß dieser Name, Pierre Dupont, sich immer noch auf die gleiche Person bezieht; der Bezeichnungsbezug ändert sich nicht um so viel. Im Gegensatz dazu sind die Probleme, die der Autorname auf wirft, wesentlich kom­plizierter: wenn ich entdecke, daß Shakespeare nicht in dem Haus geboren wurde, das man heute als Shakespearehaus besucht, so ist das eine Modifizierung, die das Funktionieren des Autornamens nicht ungünstig beeinflußt; aber wenn man bewiese, daß Shakespeare nicht die Sonette geschrieben hat, die man für die seinen hält, so wäre das eine Veränderung an­derer Art: sie zieht das Funktionieren des Autornamens in Mit­leidenschaft. Und wenn man bewiese, daß Shakespeare das Organon von Bacon geschrieben hat, einfach weil der Autor der Werke Ba­cons und der Shakespeares der gleiche ist, so wäre das ein dritter Typ von Veränderung, der das Funktionieren des Autornamens gänzlich modifizierte. Der Autorname ist also nicht unbedingt ein Eigenname wie alle anderen.

Ganz andere Fakten signalisieren die paradoxe Einmaligkeit des Autornamens. Es ist keines­wegs gleich, ob ich sage, daß es Pierre Dupont nicht gibt oder ob ich sage, daß es Homer oder Hermes Trismegistos nicht gab; im einen Fall will man sagen, daß niemand den Namen Pierre Dupont trägt; im anderen, daß mehrere mit dein gleichen Namen verwechselt wurden oder daß der wirkliche Autor keinen der Züge trägt, die man herkömmlicherweise mit Homer oder mit Hermes verbindet. Es ist auch nicht gleich, ob ich sage, daß Pierre Dupont nicht der wirk­liche Name von X ist sondern Jacques Durand, oder ob ich sage, daß Stendhal Henri Beyle hieß. Man könn­te sich auch Gedanken machen über Sinn und Wirkung eines Satzes wie »Bourbaki ist der und der, usw.« und »Victor Eremita, Climacus, Anticlimacus, Frater Taci­turnus, Constantin Constantius ist Kierke­gaard«.

Die Unterschiede liegen vielleicht in folgendem: ein Autorname ist nicht einfach ein Element in einem Diskurs (der Subjekt oder [17] Ergänzung sein kann, die von einem Pronomen er­setzt werden kann, usw.); er hat bezogen auf den Diskurs eine bestimmte Rolle: er besitzt klassifikatorische Funktion; mit einem solchen Namen kann man eine gewisse Zahl von Texten gruppieren, sie abgrenzen, einige ausschließen, sie anderen gegenüberstellen. Außer­dem bewirkt er eine Inbezugsetzung der Texte zueinander. Hermes Trismegistos gab es nicht, Hyppokrates auch nicht – so wie man sagen könnte, daß es Balzac gibt –, aber daß mehrere Texte unter dem gleichen Namen laufen, weist darauf hin, daß man zwischen ihnen ein Ho­mogenitäts- oder Filiations- oder ein Beglaubigungsverhältnis der einen durch die anderen herstellte oder auch ein Verhältnis gegenseitiger Erklärung und gleichzeitiger Verwendung. Schließlich hat der Autor­name die Funktion, eine bestimmte Seinsweise des Diskurses zu kennzeichnen. Hat ein Diskurs einen Autornamen, kann man sagen, »das da ist von dem da geschrieben worden« oder »ein gewisser ist der Autor von . . .«, so besagt dies, daß dieser Diskurs nicht aus alltäglichen, gleichgültigen Worten besteht, nicht aus Worten, die vergehen, vorbeitreiben, vorüberziehen, nicht aus unmittelbar kon­sumierbaren Worten, sondern aus Worten, die in bestimmter Weise rezipiert werden und in einer gegebenen Kultur ein be­stimmtes Sta­tut erhalten müssen.

Man könnte schließlich auf die Idee kommen, daß der Autorname nicht wie der Eigenname vom Inneren eines Diskurses zum realen, äußeren Individuum geht, sondern daß er in gewis­ser Weise an die Grenze der Texte drängt, daß er sie zuschneidet, ihren Kanten folgt, daß er ihre Seinsweise offenbart oder wenigstens daß er sie kenn­zeichnet. Er macht das Ereignis eines gewissen Diskurses sichtbar, und er bezieht sich auf das Statut dieses Diskurses in einer Gesell­schaft und in einer Kultur. Der Autorname hat seinen Ort nicht im Personenstand der Menschen, nicht in der Werkfiktion, sondern in dem Bruch, der eine bestimmte Gruppe von Diskursen und ihre einmalige Seinsweise hervorbringt. Folglich könnte man sagen, daß es in einer Kultur wie der unseren eine bestimmte Anzahl von Dis­kursen gibt, die die Funktion »Autor« haben, während andere sie nicht haben. Ein Privatbrief kann einen Schreiber haben, er hat aber keinen Autor; ein Vertrag kann wohl einen Bürgen haben, aber keinen Autor. Ein anonymer Text, den man an einer Hauswand liest, wird einen Verfasser haben, aber keinen Autor. Die Funktion [18] Autor ist also charakteristisch für Existenz-, Verbreitungs- und Funktionsweise bestimmter Diskurse in einer Gesellschaft.

Wir sollten jetzt die Funktion »Autor« untersuchen. Wie be­stimmt sich in unserer Kultur ein Diskurs, der Träger der Funktion Autor ist? Worin unterscheidet er sich von anderen Diskur­sen? Be­trachtet man nur den Autor eines Buches oder eines Textes, so glaube ich, daß man ihn an vier verschiedenen Merkmalen erkennen kann.

Zunächst sind sie Aneignungsobjekte; die Eigentumsform, auf der sie beruhen, ist recht eigen­artig; sie ist inzwischen seit einer Reihe von Jahren rechtlich fixiert. Angemerkt werden muß, daß dieses Eigentum später kam als das, was man widerrechtliche An­eignung nennen könnte. Texte, Bücher, Reden haben wirkliche Auto­ren (die sich von mythischen Personen und von den großen gehei­ligten und heiligenden Figuren unterscheiden) in dem Maße, wie der Autor bestraft werden oder die Reden Gesetze übertreten konnten. Die Rede war am Ursprung unse­rer Kultur (und wohl auch in an­deren) kein Produkt, keine Sache, kein Gut; sie war wesentlich ein Akt – ein Akt, der seinen Platz hatte in der Bipolarität des Heiligen und Profanen, des Erlaubten und Verbotenen, des Religiösen und Blasphemischen. Historisch gesehen war sie eine gefahrenreiche Tat, bevor sie zu einem Gut im Einzugsbereich des Eigentums wurde. Und als man Eigentumsverhältnisse für Texte schuf, als man Ge­setze erließ über Autorenrech­te, über die Beziehungen zwischen Autor und Verleger, über Wiedergaberechte, usw. – das heißt zwi­schen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts – wurde aus der Möglichkeit der Übertretung, die dem Schreibakt eigen war, immer mehr ein der Literatur eigener Impera­tiv. So als ob der Autor, seitdem er in das Eigentumssystem unserer Gesellschaft aufgenom­men wurde, den so erreichten Status kompensierte durch die Rück­kehr zur alten Bipolarität der Rede, durch systematische Übertre­tung, durch die Wiederherstellung der Gefahr beim Schreiben, dem man andererseits ja den Vorteil des Eigentums garantierte.

Andererseits gilt die Funktion Autor nicht überall und nicht ständig für alle Diskurse. In unserer Kultur haben nicht immer die gleichen Texte einer Zuschreibung bedurft. Es gab eine Zeit, in der die Texte, die wir heute »literarisch« nennen (Berichte, Erzählungen,

Epen, Tragödien, Komödien) aufgenommen, verbreitet und gewertet wurden, ohne daß sich die Autorfrage stellte; ihre Anonymität machte keine Schwierigkeit, ihr echtes oder vermute­tes Alter war für sie Garantie genug. Im Gegensatz dazu wurden die Texte, die wir heute wis­senschaftlich nennen, über die Kosmologie und den Himmel, die Medizin und die Krankhei­ten, die Naturwissenschaften oder die Geographie im Mittelalter nur akzeptiert und hatten nur dann Wahrheitswert, wenn sie durch den Namen des Autors ge­kennzeichnet waren. »Hyppo­krates sagte«, »Plinius erzählt« waren nicht nur die Formeln eines Autoritätsverweises, son­dern die Indi­zien für Diskurse, die als bewiesen angenommen werden sollten. Zu einer Um­kehrung kam es im 17. oder im 18. Jahrhundert; man be­gann wissenschaftliche Texte um ihrer selbst willen zu akzeptieren, in der Anonymität einer feststehenden oder immer neu beweis­baren Wahrheit; ihre Zugehörigkeit zu einem systematischen Ganzen si­cherte sie ab, nicht der Rückverweis auf die Person, die sie geschaf­fen hatte. Die Funktion Autor verwischt sich, der Name des Erfin­ders dient höchstens noch dazu, einem Theorem, einem Satz, einem bemer­kenswerten Effekt, einer Eigenschaft, einem Körper, einer Menge von Elementen, einem Krankheitssyndrom einen Namen zu geben. Aber »literarische« Diskurse können nur noch rezipiert wer­den, wenn sie mit der Funktion Autor versehen sind: jeden Poesie- oder Fiktions­text befragt man danach, woher er kommt, wer ihn geschrieben hat, zu welchem Zeitpunkt, unter welchen Umständen oder nach welchem Entwurf. Die Bedeutung, die man ihm zuge­steht, und der Status oder der Wert, den man ihm beimißt, hängen davon ab, wie man diese Fragen beantwortet. Und wenn infolge eines Mißgeschicks oder des ausdrücklichen Autor­willens uns der Text anonym erreicht, spielt man sofort das Spiel der Autorsuche. Li­terarische Anonymität ist uns unerträglich; wir akzeptieren sie nur als Rätsel. Die Funktion Autor hat heutzutage ihren vollen Spiel­raum in den literarischen Werken. (Natürlich müßte man all dies nuancieren: Die Kritik hat seit einiger Zeit damit begonnen, die Werke nach ihrer Gattung oder ihrem Typ zu behandeln, nach vor­kommenden rekurrenten Elementen, nach den Varia­tionen um eine Invarianz herum, die nichts mehr mit dem individuellen Schöpfer zu tun hat.) Ebenso, wenn der Verweis auf einen Namen in der Mathe­matik kaum mehr als eine Art ist, Theoreme oder Satzgruppen zu be-[19]nennen, so spielt in der Biologie und in der Medizin die Angabe des Autors und des Zeitpunkts seiner Arbeit eine recht andere Rolle: es ist näm­lich nicht nur eine Art, die Quelle anzugeben, sondern ein »Glaubwürdigkeits«-Indiz zu er­bringen bezogen auf die Tech­niken und Untersuchungsgegenstände, die man zu einem bestimm­ten Zeitpunkt und in einem bestimmten Laboratorium benutzte.

Drittes Merkmal der Funktion Autor. Sie bildet sich nicht so spon­tan, wie man einen Diskurs einem Autor zuschreibt. Sie ist das Ergeb­nis einer komplizierten Operation, die ein gewisses Vernunftwesen konstruiert, das man Autor nennt. Zwar versucht man, diesem Vernunftwesen einen realistischen Status zu geben: im Individuum soll es einen »tiefen« Drang geben, schöp­ferische Kraft, einen »Entwurf«, und das soll der Ursprungsort des Schreibens sein, tatsäch­lich aber ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet (oder das, was aus einem Individuum einen Autor macht) nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt, der Annäherungen, die man vornimmt, der Merkmale, die man für erheblich hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüs­se, die man macht.

All diese Operationen variieren je nach den Epochen und den Diskurs-Typen. Man konstruiert einen »philosophischen Autor« nicht wie einen »Dichter«; man konstruierte den Autor eines Ro­manwerkes im 18. Jahrhundert nicht wie einen heutzutage. Dennoch kann man über ver­schiedene Epochen hinweg eine gewisse Invarianz in den Regeln der Autor-Konstruktion finden.

Es scheint mir zum Beispiel, daß die Art, wie die Literaturkritik lange Zeit den Autor be­stimmte – oder besser noch die Form Autor, die man ausgehend von Texten und Diskursen konstruierte – recht gradlinig abgeleitet ist von der Art, wie die christliche Tradition Texte beglaubigte (oder verwarf), über die sie verfügte. Mit anderen Worten, um den Autor im Werk »aufzufinden«, verwendet die moderne Kritik Schemata, die der christlichen Exegese sehr nahe stehen, wenn diese den Wert eines Textes durch die Heiligkeit des Autors beweisen wollte. In De Viris illustribus erklärt der heilige Hieronymus, daß die Gleichlautung des Na­mens nicht ausreicht, um rechtmäßig die Autoren mehrerer Werke zu identifizieren: ver­schie­dene Individuen könnten den gleichen Namen tragen, oder einer hätte widerrechtlich den Nachnamen eines anderen annehmen [21] können. Der Name ist als individuelle Kennzeich­nung nicht genug, wenn man sich der Texttradition zuwendet. Wie soll man also meh­rere Texte einunddemselben Autor zuschreiben? Wie die Funktion Autor ausspielen, um zu erfah­ren, ob man es mit einem oder mit mehreren Individuen zu tun hat? Der heilige Hieronymus führt vier Kriterien an: wenn unter mehreren Büchern, die man einem Autor zuschreibt, eines schlechter als die anderen ist, so muß man es aus dem Katalog seiner Werke streichen (der Autor wird demnach als bestimmtes konstantes Wertniveau definiert), auch wenn bestimmte Texte der Meinung der anderen Werke eines Autors widersprechen (dann wird der Autor als Feld eines begrifflichen und theoretischen Zusammenhangs definiert); auch die Werke müs­sen ausgeschlossen werden, die in einem anderen Stil geschrieben sind, mit Worten und Wendungen, die man gewöhnlich nicht bei diesem Autor findet (das ist der Autor als stili­stische Einheit), schließlich müssen die Texte als falsch angesehen werden, die sich auf Ereignisse und Personen beziehen, die erst nach dem Tod des Autors kommen (dann ist der Autor ein bestimmter geschichtlicher Augenblick und Schnittpunkt einer Reihe von Ereignis­sen). Nun definiert die moderne Literatur­kritik, selbst wenn sie keine Beglaubigungssorgen hat (was der Regelfall ist) den Autor kaum anders: Autor ist derjenige, durch den gewisse Ereignisse in einem Werk ebenso wie deren Transfor­mationen erklärt werden können, deren Deformationen, deren ver­schiedene Modifikationen (und dies durch die Autorbiographie, die Suche nach der individuellen Sichtweise, die Analyse seiner sozialen Zugehörigkeit oder seiner Klassenlage, die Entdeckung seines Grund­entwurfs). Der Autor ist ebenso das Prinzip einer gewissen Einheit des Schreibens, da alle Unterschiede mindestens durch Entwicklung, Reifung oder Einfluß reduziert werden. Mit Hilfe des Autors kann man auch Widersprüche lösen, die sich in einer Reihe von Texten finden mögen: es muß da – in einer gewissen Schicht seines Den­kens oder seines Wünschens, seines Bewußtseins oder seines Unter­be­wußtseins – einen Punkt geben, von dem her sich die Widersprü­che lösen, an dem sich die unvereinbaren Elemente endlich verket­ten lassen oder sich um einen tiefen und ursprüngli­chen Wider­spruch gruppieren. Schließlich ist der Autor ein bestimmter Brenn­punkt des Ausdrucks, der sich in mehr oder minder vollendeter Form genauso und im gleichen Wert in den Werken, den Skizzen, [22] den Briefen und den Fragmenten offenbart. Die vier Authen­tizitäts­kriterien des heiligen Hieronymus (Kriterien, die dem heutigen Exegeten recht unge­nügend erscheinen) bestimmen die vier Modalitäten, aufgrund deren die moderne Kritik die Funktion Autor ausspielt.

Aber die Funktion Autor ist nicht einfach eine Rekonstruktion aus zweiter Hand, die von einem gegebenen Text wie von einer trägen Masse ausgeht. Der Text trägt in sich immer eine Reihe von Zei­chen, die auf den Autor verweisen. Diese Zeichen sind den Gram­matikern wohlbekannt: es sind die Personalpronomen, die Adver­bien der Zeit und des Ortes, die Verbkonjugation. Es muß jedoch darauf hingewiesen werden, daß diese Elemente in den Diskursen mit Autor-Funktion nicht genauso wirken wie in denen ohne. In denen ohne die Funktion Autor verweisen solche »Einschübe« auf den realen Sprecher und die räumlich-zeitlichen Koordinaten seines Diskurses (obgleich es gewisse Abweichungen gibt: so zum Beispiel, wenn man einen Diskurs in der ersten Person wiedergibt). In den Diskursen mit Autor-Funktion ist ihre Rolle schwieriger und ver­änderlicher. Es ist bekannt, daß in einem Roman, der so aussieht wie der Bericht eines Erzählers, das Personalpronomen in der ersten Person, das Präsens Indikativ, die Zeichen für die Ortsbestimmung nie genau auf einen Schriftsteller verweisen, weder auf den Augen­blick, in dem er schreibt, noch auf die Schreib­geste; sondern auf ein alter ego, dessen Distanz zum Schriftsteller verschieden groß sein und im selben Werk auch variieren kann. Es wäre also ebenso falsch, wollte man den Autor beim wirklichen Schriftsteller oder auch beim fiktionalen Sprecher suchen; die Funktion Autor voll­zieht sich gerade in diesem Bruch – in dieser Trennung und dieser Distanz. Vielleicht wird jemand sagen, daß das nur eine Eigenheit des romanhaften oder des poetischen Diskur­ses sei: eines Spiels, bei dem nur »Quasi-Diskurse« eingesetzt werden. Alle Diskurse mit der Funktion Autor haben diese Ego-Pluralität. Das Ego, das im Vorwort eines mathematischen Traktats spricht – und auf die Umstände der Abfassung hinweist – ist weder in seiner Position noch in seiner Funktion identisch mit demjenigen, der im Unterricht von einem Beweis spricht und sich in der Form eines »ich schließe daraus« oder »ich nehme an« ausdrückt: in dem einen Fall verweist das »ich« auf ein Individuum ohne Äquivalent, das an einem be­stimm­ten Ort und zu einer bestimmten Zeit eine bestimmte Arbeit getan [23] hat; im zweiten Fall bezeichnet das »ich« einen Plan und einen Moment des Beweises, den jedes Individuum nachvollziehen kann, vorausgesetzt es hat das gleiche Zeichensystem anerkannt, das glei­che Axiomsspiel, die gleiche Menge von vorherigen Beweisen. Man könnte aber auch im gleichen Traktat noch ein drittes Ich ausfindig machen; denjenigen, der spricht, um über den Sinn der Arbeit, die Schwierigkeiten, die Ergebnisse, die sich noch stellenden Probleme zu reden; die­ses Ego findet seinen Platz im Bereich schon bestehen­der oder noch entstehender mathemati­scher Texte. Die Funktion Autor wird nicht durch eines dieser Egos (das erste) gewährleistet auf Kosten der beiden anderen, die dann ja nichts weiter wären als dessen fiktive Verdoppe­lung. Im Gegenteil muß gesagt werden, daß in solchen Diskursen die Funktion Autor die Zer­splitterung dieser drei simultanen Egos bewirkt.

Die Analyse könnte wohl noch andere charakteristische Züge der Funktion Autor herausfin­den. Ich aber werde mich heute an die vier halten, die ich aufgezählt habe, weil sie mir zu­gleich die sichtbar­sten und die wichtigsten scheinen. Ich will sie so zusammenfassen: die Funktion Autor ist an das Rechts- und Staatssystem gebunden, das die Gesamtheit der Dis­kurse einschließt, determiniert, ausdrückt; sie wirkt nicht einheitlich und gleichmäßig auf alle Diskurse zu allen Zeiten und in allen Kulturformen; sie läßt sich nicht dadurch definieren, daß man spontan einen Diskurs einem Produzenten zu­schreibt, sondern dazu sind eine Reihe spezifischer und komplizier­ter Operationen nötig; sie verweist nicht einfach auf ein reales Individuum, sie kann gleichzeitig mehreren Egos in mehreren Sub­jekt-Stellungen Raum geben, die von verschiedenen Gruppen von Individuen besetzt werden können.

Ich bin mir im klaren darüber, daß ich bisher mein Thema unge­rechtfertigt eng gefaßt habe. Sicherlich hätte man darüber sprechen sollen, was die Funktion Autor in der Malerei, in der Musik, in der Technik usw. ist. Einmal angenommen jedoch, man hielte sich an die Welt der Diskurse, wie ich es heute abend tun möchte, so glaube ich doch, dem Begriff »Autor« eine viel zu enge Bedeutung gegeben zu haben. Ich habe mich auf den Autor eines Buchtexts oder eines Werks beschränkt, dessen Produktion man ihm rechtmäßig zuschrei­ben kann. Nun ist aber leicht einzusehen, daß man im Ordnungs-[24]bereich des Diskurses Autor von weit mehr als einem Buch sein kann – Autor einer Theorie, einer Tradition, eines Fachs, in denen dann andere Bücher und andere Autoren ihrerseits Platz finden können. Mit einem Wort würde ich sagen, daß diese Autoren sich in einer »transdiskursiven« Position befinden.

Es handelt sich um eine konstante Erscheinung, – die sicherlich so alt ist wie unsere Kultur. Homer und Aristoteles, die Kirchen­väter haben diese Rolle gespielt; aber auch die ersten Mathematiker und die, die am Anfang der hyppokratischen Tradition stehen. Es scheint mir aber, daß man im Laufe des 19. Jahrhunderts in Europa recht eigenartige Autortypen hat in Erscheinung treten sehen, die man nicht mit den »großen« literarischen Autoren, nicht mit den Autoren kanonischer Texte der Religion und auch nicht mit den Begründern von Wissen­schaften verwechseln sollte. Nennen wir sie etwas willkürlich »Diskursivitätsbegründer«.

Das Besondere an diesen Autoren ist, daß sie nicht nur die Auto­ren ihrer Werke, ihrer Bücher sind. Sie haben noch mehr geschaffen: die Möglichkeit und die Bildungsgesetze für andere Texte. In diesem Sinn sind sie ganz anders als zum Beispiel ein Romanautor, der im Grunde immer nur Autor seines eigenen Textes ist. Freud ist nicht einfach der Autor der Traumdeu­tung oder des Witzes; Marx ist nicht einfach der Autor des Manifests oder des Kapitals: sie haben eine unbegrenzte Möglichkeit zum Diskurs geschaffen. Natürlich kann man hier leicht einen Einwand machen. Es stimmt nicht, daß ein Romanautor nur der Autor seines eigenen Textes ist; in gewissem Sinn, vorausgesetzt er ist sozusagen ein bißchen »bedeutend«, lenkt und leitet er mehr als das. Um ein einfaches Beispiel zu nennen, kann man sagen, daß Ann Radcliffe nicht nur das Schloß in den Pyrenäen und einige weitere Romane geschrieben hat, sondern sie hat die Schauerromane zu Beginn des 19. Jahrhunderts ermöglicht, und in diesem Maß geht ihre Autor-Funktion über ihr Werk hinaus. Nur glaube ich, daß man auf diesen Ein­wand entgegnen kann: was die Diskursivitätsbegründer ermöglichen (ich wähle Marx und Freud als Beispiele, weil ich glaube, daß sie zugleich die ersten und die wichtigsten sind), was sie ermöglichen, ist etwas anderes als das, was ein Romanautor ermöglicht. Die Texte der Ann Radcliffe haben das Terrain für bestimmte Ähnlichkeiten und Analogien erschlossen, die ihr Modell oder Prinzip in ihrem Werk haben. Dieses Werk ent-[25]hält charakteristische Zei­chen, Figuren, Beziehungen, Strukturen, die von anderen wiederverwendet werden konnten. Sagt man, daß Ann Radcliffe den Schauerroman begründet hat, so heißt das letzt­lich: in den Schauerromanen des 19. Jahrhunderts wird man wie bei Ann Radcliffe das Thema der Heldin finden, deren Unschuld ihr zur Falle wird, das Bild des geheimen Schlosses, das die Funktion einer Gegen-Stadt hat, die Person des schwarzen, verdammten Helden, der dazu verurteilt ist, der Welt das Böse heimzuzahlen, was sie ihm antat, usw. Wenn ich hingegen von Marx oder von Freud als »Diskursivitätsbegründern« spreche, so will ich nicht sagen, daß sie einfach eine gewisse Zahl von Analogien ermöglicht haben, sondern daß sie eine Reihe von Unter­schieden ermöglicht haben (und diese ebenso vollständig). Sie haben Raum gegeben für etwas anderes als sie selbst, das jedoch zu dem gehört, was sie begründet haben. Sagt man, daß Freud die Psychoanalyse begründet hat, so heißt das nicht (so heißt das nicht einfach), daß man den Libidobegriff oder die Technik der Traumdeutung bei Abraham und Melanie Klein wiederfindet, sondern daß Freud eine Reihe von Unterschieden er­möglichte verglichen mit seinen Texten, seinen Begriffen, seinen Hypothesen, die alle aus dem psychoanalytischen Diskurs stammen.

Sogleich taucht, glaube ich, eine neue Schwierigkeit oder wenig­stens ein neues Problem auf: trifft das nicht letzten Endes auf jeden Wissenschaftsbegründer oder jeden Autor zu, der in einer Wissen­schaft Wandlungen herbeigeführt hat, die man fruchtbar nennen kann? Schließ­lich hat Galilei nicht einfach die ermöglicht, die nach ihm die von ihm formulierten Gesetze wiederholten, sondern er hat Aussagen ermöglicht, die sich sehr von dem unterscheiden, was er selbst gesagt hatte. Wenn Cuvier der Begründer der Biologie und Saussure der der Lingui­stik ist, so nicht deshalb, weil man beide nachgeahmt hat, nicht deshalb, weil man hier und da den Organis­mus- oder den Zeichenbegriff wiederaufgenommen hat, sondern weil Cuvier in gewisser Weise die Evolutionstheorie ermöglichte, die Punkt für Punkt seinen eigenen Fixie­rungen widersprach; und Saus­sure ist Begründer der Linguistik in dem Maße wie er eine gene­rative Grammatik ermöglichte, die sich von seinen Strukturanalysen wesentlich unter­scheidet. Also scheint die Begründung einer Diskursivität auf den ersten Blick zumindest von der gleichen Art zu sein wie die Begründung jeder beliebigen Wissenschaftlichkeit. Ich [26] glaube jedoch, daß es da einen Unterschied, einen beachtlichen Un­terschied gibt. Denn im Fall einer wissenschaftlichen Disziplin ist der Akt, der sie begründet, auf gleicher Höhe wie ihre späteren Transformationen; er gehört in gewisser Weise zu all den Modifika­tionen, die er ermöglicht. Diese Zugehörigkeit kann natürlich ver­schiedene Formen haben. Der Begrün­dungsakt eines wissenschaft­lichen Fachs kann im Zuge der Weiterentwicklung dieser Wissen­schaft nur wie ein Sonderfall in einem viel allgemeineren Ganzen erscheinen, das man dann entdeckt. Er kann auch von Intuition und Empirizität beeinträchtigt scheinen; dann muß man ihn neu formalisieren und ihn einer Reihe von zusätzlichen theoretischen Operationen unter­werfen, die ihn strenger begründen, usw. Schließ­lich kann er wie eine vorschnelle Generali­sierung erscheinen, die eingegrenzt und deren engerer Gültigkeitsbereich abgesteckt werden muß. Mit anderen Worten, der Begründungsakt eines wissenschaft­lichen Fachs kann immer wieder in die Maschinerie der sich daraus ergebenden Transformationen hineingenommen werden.

Nun glaube ich aber, daß die Begründung einer Diskursivität heterogen im Verhältnis zu ihren späteren Transformationen ist. Wenn man einen Diskursivitätstyp wie die Psychoanalyse, so wie sie von Freud begründet wurde, ausweitet, so heißt das nicht, ihr formale Allgemeinver­bindlichkeit geben, die sie etwa zu Beginn nicht zugelassen habe, sondern einfach ihr eine gewisse Zahl von Anwendungsmöglichkeiten erschließen. Wenn man sie einengt, so bedeutet das eigentlich, daß man im Begründungsakt eine möglicher­weise begrenzte Zahl von Sätzen und Aussagen zu isolieren sucht, denen man allein begründenden Wert zuerkennt und vergli­chen mit denen bestimmte von Freud angenommene Begriffe und Theo­rien als abgeleitet, sekundär, zusätzlich angesehen werden können.

Schließlich erachtet man im Werk solcher Begründer gewisse Sätze nicht als falsch, man begnügt sich damit, wenn man den Begründungsakt in den Griff bekommen möchte, gewisse nicht zu­treffende Aussagen zu umgehen, einmal indem man sie für un­wichtig, zum anderen indem man sie für »prähistorisch«, also einem anderen Diskursivitätstyp zugehörig hält. An­ders gesagt, im Unter­schied zur Begründung einer Wissenschaft ist die Diskursivitätsbegrün­dung nicht Teil ihrer späteren Transformationen, notwen­digerweise scheidet sie aus oder sie überragt sie. Folge davon ist, daß man die theoretische Gültigkeit in bezug auf das Werk die­ser Begründer selbst definiert, während man im Fall Galilei und Newton die Gültigkeit der von ihnen aufgestellten Sätze in bezug zur Physik oder zur Kosmologie und ihrer inneren Struktur und Normativität bestimmt. Sehr schematisch formuliert heißt das: das Werk dieser Begründer steht nicht in bezug zur Wissenschaft und nicht in dem Raum, den sie umreißt, sondern die Wissenschaft oder die Diskursivität beziehen sich auf das Werk ihrer Begründer wie auf primäre Koordinaten.

So wird verständlich, warum man in solchen Diskursivitäten auf die Forderung nach »einer Rückkehr zum Ursprung« als unumgäng­licher Notwendigkeit stößt. Wieder muß man hier die »Rückkehr zu« unterscheiden von Erscheinungen wie der »Wiederentdeckung« und der »Re­aktualisierung«, zu denen es ja in der Wissenschaft häufig kommt. Unter »Wiederentde­ckung« möchte ich die Wirkungen der Analogie oder des Isomorphismus verstehen, die aus­gehend von zeitgenössischen Formen des Wissens, eine Denkfigur sichtbar wer­den lassen, die verschwommen oder verschwunden war. So würde ich zum Beispiel sagen, daß Chomsky in seinem Buch über die cartesianische Grammatik eine gewisse Denkweise wiederentdeckt hat, die von Cordemoy bis Humboldt reicht: sie ist freilich erst seit der generativen Grammatik begründbar, denn diese enthält das Bau­gesetz; eigentlich handelt es sich hier um eine retro­spektive Ko­dierung des historischen Blicks. Unter »Reaktualisierung« möchte ich etwas ganz anderes verstehen: die Wiedereingliederung eines Diskurses in einem Bereich der Verallge­meinerung, der Anwen­dung, der Transformation, die ihm neu ist. Die Geschichte der Ma­thematik ist da reich an Beispielen. (Ich verweise hier auf die Studie von Michel Serres über mathematische Anamnesen). Und was soll man unter »Rückkehr zu« verstehen? Ich glaube, daß man so eine Bewegung bezeichnen kann, die ihre besondere Eigenart hat und die gerade für die Diskursivitätsbegründung wichtig ist. Damit es nämlich zu einer Rückkehr kommt, muß es erst einmal Vergessen gegeben haben, nicht ein zufälliges Vergessen, nicht die Über­lage­rung durch Unverständnis, sondern ein wesentliches und konstituti­ves. Der Begründungs­akt ist nämlich seinem Wesen nach so, daß er nur vergessen werden kann. Das, was ihn in Er­scheinung bringt, das, was sich aus ihm herleitet, ist zugleich das, was die Abwei-[28]chung von ihm begründet und ihn maskiert. Dieses nicht zufällige Vergessen muß in genauen Opera­tionen eingekreist werden, die man lokalisieren, analysieren und gerade durch die Rückkehr zu jenem Begründungsakt reduzieren kann. Der Riegel des Vergessens ist nicht von außen angebracht worden; er gehört zur in Frage stehen­den Diskursivität; er gibt ihr sein Gesetz; die Diskursivitätsbegründung, die in Vergessenheit geriet, ist zugleich die Begründung für den Riegel und der Schlüssel, mit dem man ihn öffnen kann, so daß das Vergessen und sogar die verhinderte Rückkehr nur durch die Rückkehr aufgehoben werden können. Überdies richtet sich diese Rückkehr auf das, was in einem Text präsent ist, genauer noch, man kommt auf den Text selbst zurück, auf den Text in seiner Nacktheit und zugleich auf das, was im Text als Loch, als Ab­wesenheit, als Lücke markiert ist. Man kommt zurück auf eine gewisse Leere, die das Vergessen umgangen oder maskiert hat, die es mit einer falschen oder schlechten Fülle zugedeckt hat, die Rück­kehr muß diese Lücke und diesen Mangel wieder aufdecken; daher rührt das ewige Spiel, das solches Rückkehren zur Diskursivitätsbegründung kennzeichnet, – ein Spiel, in dem man einerseits sagt: das war ja schon da, man brauchte nur zu lesen, alles steht da, man mußte schon blind und taub sein, um nicht zu sehen und zu hören; und umge­kehrt: nein, das steht nicht in diesem und nicht in jenem Wort, kein sichtbares oder lesbares Wort sagt das, worum es jetzt geht, es handelt sich vielmehr um das, was zwischen den Zeilen (Worten) gesagt wird, durch ihren Abstand, durch ihre Zwi­schenräume. Daraus folgt natür­lich, daß eine solche Rückkehr, die zum Text selbst gehört, ihn ständig verändert, daß die Rückkehr zum Text nicht ein geschichtlicher Zusatz ist, der zur Diskursivität hinzukommt und sie mit letztlich unwichtigen Verzierungen aus­stattet; es ist eine nützliche und notwendige Transformationsarbeit an der Diskursivität selbst. Die Überprüfung eines Galilei-Textes kann unsere Kenntnisse über die Geschichte der Mechanik modi­fizieren, aber nie die Mechanik selbst. Die Überprüfung der Texte von Freud hingegen modifiziert die Psychoanalyse und die von Marx den Marxismus. Um eine solche Rückkehr charakterisieren zu kön­nen, müssen wir noch ein letztes Merkmal angeben: sie ist auf eine Art rätselhaften Zuschnitt der Texte und des Autors aus. Weil der Text nämlich Text von einem Autor ist, hat er begründenden Wert [29] und weil er der Text von diesem bestimmten Autor ist, muß man auf ihn zurückkommen. Es besteht überhaupt keine Aussicht darauf, daß die Wiederentdeckung eines unbekannten Newton- oder Cantortexts die klassische Kosmologie oder die Mengenlehre, so wie sie sich entwickelt haben, verändern könnte (allerhöchstens kann diese Aus­grabung vielleicht unsere historische Kenntnis über ihre Entwick­lung ändern). Im Gegensatz dazu kann das Auf tauchen eines Textes wie Der Abriß von Freud – und in dem Maß wie es ein Freudtext ist – nicht etwa das historische Wissen über die Psychoanalyse, sondern ihr theoretisches Feld verändern – wenn wohl auch nur durch eine Verschiebung der Akzente und des Gravitätszentrums. Solche Formen der Rückkehr, die zur Struktur der Diskursivitätsfelder gehören, von denen ich spre­che, bringen für ihren »funda­mentalen« und vermittelten Autor einen Bezug ein, der nicht iden­tisch ist mit dem Bezug, den ein beliebiger Text zu seinem un­mittelbaren Autor hat.

Was ich zum Thema »Diskursivitätsbegründung« skizziert habe, ist selbstverständlich sehr schematisch. Besonders die Opposition, die ich zwischen einer Diskursivitäts- und einer Wis­senschafts­begründung eingeführt habe. Es läßt sich vielleicht nicht immer leicht entscheiden, ob man hiermit oder damit zu tun hat: und nichts beweist, daß diese beiden Arten des Vorge­hens einander aus­schließen. Ich habe diese Unterscheidung nur aus einem Grund ver­sucht: ich wollte zeigen, daß die Funktion Autor, die schon kom­pliziert genug ist, wenn man sie in einem Buch oder in einer Reihe von Texten, die eine bestimmte Signatur tragen, aufspürt, noch neue Determinationen einbringt, wenn man versucht, sie in noch größe­ren Einheiten zu analysieren: in Werkgruppen, in ganzen Wissen­schaftsbereichen.

Ich bedaure sehr, daß ich in die jetzt folgende Debatte keinen posi­tiven Vorschlag habe einbringen können: höchstens Leitlinien für mögliche Arbeiten, Wege für eine Analyse. Aber ich muß Ihnen doch wenigstens zum Schluß noch in einigen Worten sagen, warum ich das doch wichtig finde.

Würde man eine solche Analyse weiterentwickeln, so könnte sie vielleicht zu einer Typologie der Diskurse führen. Es scheint mir nämlich, zumindest bei erster Annäherung, daß eine sol­che Typo-[30]logie nicht nur ausgehen dürfte von den grammatischen Merkmalen der Diskur­se, ihren formalen Strukturen oder gar ihren Gegenstän­den; es gibt nämlich besondere dis­kursive Eigenschaften oder Re­lationen (die nicht auf die Regeln der Grammatik oder der Logik, auch nicht auf die Gesetze der Gegenstände zurückgeführt werden können) und gerade auf diese sollte man seinen Blick richten, um die großen Diskurskategorien unterscheiden zu können. Der Bezug (oder der Nicht-Bezug) zu einem Autor und die verschiedenen For­men dieses Bezugs bilden – recht sichtbar – eines der diskursiven Merkmale.

Ich glaube andererseits, daß man hier einen Einstieg in die histo­rische Analyse der Diskurse finden könnte. Vielleicht ist es an der Zeit, Diskurse nicht mehr nur nach ihrem Ausdrucks­wert oder ihren formalen Transformationen zu untersuchen, sondern in ihren Exi­stenzweisen: die Art der Verbreitung, der Wertung, der Zuschrei­bung, der Aneignung ist in jeder Kultur anders und wandelt sich in jeder einzelnen; die Art, wie sie sich über die gesellschaftlichen Beziehungen äußern, läßt sich meiner Meinung nach direkter durch die Funktion Autor und ihre Veränderungen entziffern als in den Themen und Begriffen, die sie verwenden.

Könnte man nicht auch ausgehend von solchen Analysen den Vorrang des Stoffs neu über­prüfen? Ich weiß schon, daß man bei einer werkinternen Untersuchung der Bauweise (ganz gleich, ob es sich um einen literarischen Text, ein philosophisches System oder ein wissen­schaftliches Werk handelt) und dabei biographische oder psychologische Bezugspunkte aus­klammert, bereits den absoluten Charakter und die begründende Rolle des Stoffs in Frage gestellt hatte. Aber vielleicht sollte man auf das zurückkommen, was da in der Schwebe ist, keinesfalls um das Thema vom ursprünglichen Stoff zu restaurieren, sondern um die Einfü­gungspunkte, die Funktions­weisen und die Abhängigkeiten des Stoffs zu begreifen. Die tradi­tionelle Frage muß umgekehrt werden: man sollte nicht mehr fragen, wie kann sich die Frei­heit eines Stoffs in die Kompaktheit der Dinge einfügen und ihr einen Sinn geben, wie kann er von innen die Regeln einer Sprache beleben und so seine eigenen Ziele an den Tag bringen? Man sollte vielmehr fragen: wie, aufgrund welcher Bedin­gungen und in welchen Formen kann so etwas wie Stoff im Diskurs erscheinen? Welche Stelle kann er in jedem einzelnen Diskurs haben, [31] welche Funktionen übernehmen, welchen Regeln gehorchen? Kurz, es geht darum, dem Stoff (oder seinem Ersatz) seine Rolle ursprüng­licher Begründung zu nehmen und ihn als variable und komplexe Funktion des Diskurses zu analysieren.

Der Autor – oder das, was ich als Funktion Autor zu beschreiben versuchte – ist wohl nur eine der möglichen Spezifikationen der Funktion Stoff. Mögliche oder nötige Spezifikation? Be­trachtet man die Wandlungen, zu denen es im Laufe der Geschichte gekommen ist, so muß die Funktion Autor keineswegs konstant in ihrer Form, in ihrer Komplexität oder gar in ihrem Vorhandensein bleiben – ganz im Gegenteil. Man kann sich eine Kultur vorstellen, in der Dis­kurse verbreitet oder rezipiert würden, ohne daß die Funktion Autor jemals erschiene. Ganz gleich welchen Status, welche Form und welchen Wert ein Diskurs hätte und welche Behand­lung man ihm angedeihen ließe, alle würden sich in der Namenlosigkeit des Gemurmels ent­rollen. Folgende so lange wiedergekäute Fragen wür­de man nicht mehr hören: »Wer hat eigentlich gesprochen? Ist das auch er und kein anderer? Mit welcher Authentizität oder wel­cher Originalität? Und was hat er vom Tiefsten seiner selbst in seiner Rede ausgedrückt?« Dafür wird man andere hören: »Welche Exi­stenzbedingungen hat dieser Diskurs? Von woher kommt er? Wie kann er sich verbreiten, wer kann ihn sich aneignen? Wie sind die Stellen für mögliche Stoffe verteilt?« Und hinter all diesen Fragen würde man kaum mehr als das gleich­gültige Geräusch hören: »Wen kümmert’s, wer spricht?«[3]

Quelle: Michel Foucault, Schriften zur Literatur, übersetzt von Karin von Hofer, Berlin-Wien: Ullstein, 1979, S. 7-31.


[1] Jean Hyppolite.
[2] »L’Archéologie du savoir«.
[3] Das mehrfach erwähnte Werk von Foucault Les Mots et les Choses liegt auf Deutsch unter dem Titel Die Ordnung der Dinge vor.

Hier der Text als pdf.

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