Robert Spaemann, Es gibt kein gutes Töten (1997): „Das Sterben ist noch ein Vorgang, der, wenngleich von der Natur verhängt, eingebettet ist in Riten menschlicher So­lidarität. Wer sich eigenmächtig aus die­ser Gemeinschaft entfernen will, muß das allein tun. Anderen – und gar Ärzten, de­ren Ethos sich definiert durch den Dienst am Leben – zumuten, bei dieser eigen­mächtigen Entfernung behilflich zu sein, heißt, dieses Fundament aller Solidarität zu zerstören. Es heißt, dem anderen zuzumuten zu sagen: »Du sollst nicht mehr sein.«“

Es gibt kein gutes Töten

Von Robert Spaemann

Wer ein Tabu bricht, hat zunächst einen argumentativen Vorsprung. Nicht nur Borniertheit, Dumpfheit und Unmündigkeit leben ja vom passiven, schweigenden, unreflektierten Einverständnis, auch die Fundamente der Humanität bedürfen der Verankerung in der Tiefe des Selbstverständlichen und der Fähigkeit zur schlichten Empörung, wo sie in Frage gestellt wer-den. „Wer sagt, man dürfe auch die eigene Mutter töten“, so schreibt Aristoteles, „hat nicht Argumente, sondern Zurechtweisung verdient.“

Zurechtweisung ist gerade kein Argument. Der Zurechtgewiesene kann, wenn er insistiert, den Diskurs am Ende erzwingen und zum Nachdenken über die Gründe der Selbstverständlichkeit nötigen. Schon Sokrates wußte dem Zyniker Kallikles für diese Nötigung Dank. Durch sie findet eine Scheidung jener Tabus, deren Gründe das Licht scheuen müssen, von jenen anderen statt, die, einmal ans Licht getreten, die Empörung über ihre Verletzung als angemessene Reaktion erscheinen lassen. Es wäre ja etwas in einer Zivilisation nicht in Ordnung, wenn der Satz „Das Leben eines neugeborenen Kindes ist weniger wert als das eines ausgewachsenen Schweins“ nicht – allem Nachdenken vorausgehend – einen Reflex des Abscheus hervorrufen würde. Peter Singer, der diesen Satz in seiner „Praktischen Ethik“ niederschrieb, würde diesen Reflex als Ausdruck eines kruden „Speziesismus“ abtun, das heißt unreflektierter Parteilichkeit für die eigene Spezies.

Ist er das? Und wenn es so wäre – sind Menschen tatsächlich zu einem view from nowhere verpflichtet, der ihr natürliches Koordinatensystem von Nähe und Ferne kurzerhand außer Kraft setzt? Ist nicht vielmehr dieser Versuch, den Gottesstandpunkt einzunehmen, eher die äußerste Form menschlicher Hybris, die die kreatürliche Gemeinschaft mit allem Lebendigen auf der Erde zerschneidet?

Die zivilisatorische Situation

Die Verblüffung durch die Thesen Peter Singers und seine Durchbrechung des seit 1945 herrschenden Euthanasie-Tabus be­ginnt erst allmählich einem sokratischen Nachdenken über die guten Gründe für dieses Tabu zu weichen.

Zunächst haben wir es zu tun mit der de­mographischen Situation der westlichen Industrieländer. Sie ist historisch beispiel­los. Während der medizinische Fortschritt dazu geführt hat, dass immer mehr Men­schen immer älter werden, propagieren seit Jahrzehnten alle öffentlichen Mei­nungsbildner einen Lebensstil, auf Grund dessen nun bald immer weniger junge Menschen diese älteren Menschen zu er­nähren haben. Die Pille – wie immer man sonst über sie denken mag – begünstigt diese Entwicklung. Außerdem war der sogenannte Generationenvertrag nicht als Drei-Generationenvertrag, sondern leider als Zwei-Generationenvertrag konzipiert, also so, dass er diejenigen ökonomisch privilegiert, die es vorziehen, sich im Al­ter von den Kindern anderer Leute erhal­ten zu lassen. Daß diese Kinder dann ein­mal, wenn es soweit ist, nicht begeistert ein würden, war zu erwarten.

Es ist nun bald soweit. Und es gehört schon ein hohes Maß an Naivität dazu, im Ernst an Zufall zu glauben, wenn aus­gerechnet in diesem Augenblick und aus­gerechnet in ebenjenen westlichen Indu­strieländern die Tötung kranker oder alter Menschen legalisiert oder deren Legalisie­rung gefordert und ernsthaft diskutiert wird. Nicht, als ob die demographische Situation in diesem Zusammenhang als Argument auftauchte und Euthanasie als Lösung empfohlen würde. Das wäre kon­traproduktiv, der Zusammenhang entfal­tet gerade als latenter erst seine volle Wir­kung. Auch die Psychiater im Dritten Reich, die das mörderische Euthanasie­programm exekutierten, argumentierten nicht sozialpolitisch, sondern vom „wohl­verstande­nen“ Lebensinteresse des einzel­nen aus. „Lebensunwertes Leben“ hieß auch im damaligen Sprachgebrauch jenes Leben, das für den, der es zu leben hat, nichts mehr wert ist. Und der Film „Ich klage an“, mit dem Joseph Goebbels Ak­zeptanz für das Vernichtungsprogramm zu erzeugen suchte, propagierte lediglich die Einstiegsdroge „Tötung auf Verlangen“. Die Tötung sollte als Tat der Liebe und des Mitleids, als Hilfe zu „menschenwür­digem Sterben“ erscheinen.

Wahrscheinlich gibt es heute noch keine Gruppe von Mächtigen, die das Mitleid im Dienst einer bevölkerungspolitischen Strategie bewußt instrumentalisiert. Aber es gibt objektive Interessenlagen. Es gibt Trends, die sich aus diesen Interessenlagen ergeben und es gibt Forderungen, deren Chance darin liegt, dass sie genau in die­se Trends passen. Es gibt das „was in der Luft liegt“.

Zwei Faktoren verstärken die Plausibili­tät der Forderung, Euthanasie zu legali­sieren. Da ist zunächst die enorme Stei­gerung der Möglichkeit, Leben durch Ap­parate zu verlängern. Die alte berufsethi­sche Regel, der Arzt müsse jederzeit alles tun, was er kann, um den Tod eines Men- sehen zu verhindern – und das kann ja immer nur heißen: hinauszuschieben – wird problematisch, wenn dieses Können ein bestimmtes Maß überschreitet. Prothe­sen können inzwischen Lebensfunktionen eines Organismus substituieren und mo­ribunde Menschen künstlich am Leben erhalten – mit oder ohne deren Einver­ständnis. Der Entschluß, von diesen Mit­teln keinen Gebrauch zu machen, oder den Gebrauch irgendwann zu beenden, scheint einer Tötung durch Unterlassung gleich­zukommen, vor allem, wenn der Übergang vom Handeln zum Unterlassen nur durch ein erneutes Handeln zu bewerkstelligen ist, also zum Beispiel durch das Abstellen einer Maschine. Weil aber ein solcher Entschluß oft plausibel und manchmal einfach unvermeidlich ist, liegt die Frage nahe, was denn ein solches Unterlassen von »aktiver Sterbehilfe« unterscheidet. Welchen Unterschied macht es, so fragt Peter Singer, ob eine Mutter ihr Kind mit einem Kissen erstickt oder ob sie es ver­dursten läßt? Dabei unterstellt er, verdur­sten lassen und auf den Anschluß an ein Beatmungsgerät verzichten sei die gleiche Art von Unterlassen, nur weil beides zum Tode führt.

Der andere und entscheidende Faktor liegt in einer Grundstimmung der westlichen Zivilisation, die es einerseits als höchstes Ziel des Menschen betrachtet, sich zu ver­gnügen oder wenigstens sich wohl zu füh­len, und andererseits als höchste morali­sche Pflicht, die Welt durch Vermehrung der Menge angenehmer Gefühle zu opti­mieren. (Sogar Gottesdienste werden dar­an gemessen, ob sie »Spaß machen«, ohne daß man bedenkt, daß Geistliche, die sich als Spaßmacher verstehen, gegenüber je­dem Clown oder professionellen TV-Unterhalter unvermeidlich ins Hintertreffen geraten.) Heideggers Begriff der »Seinsvergessenheit« ist in diesem Zusammen­hang hilfreich. Was die Welt in dieser Sicht kostbar macht, ist nicht das Sein von Men­schen, Tieren oder Pflanzen, sondern es sind bestimmte Zustände und Erlebnisse, und Menschen nur insofern, als sie Trä­ger solcher Zustände sind. Was vor allem nicht sein soll, sind unangenehme Zustän­de. Leiden muß um jeden Preis beseitigt werden. Und wo es nicht anders beseitigt werden kann als durch Beseitigung des Leidenden, da ist eben diese angezeigt.

»Wert des Lebens«?

Nun ist es allerdings gerade der Begriff der Menschenwürde, der im Zusammen­hang mit der Forderung nach legaler Tö­tung eine große Rolle spielt. Vom »Recht auf menschenwürdiges Sterben« war in dem genannten Film der Nationalsoziali­sten die Rede, und genau diesen Begriff interpretiert nun der katholische Theolo­ge Hans Küng im gleichen Sinn wie der Pfarrer in diesem Film und gibt damit ein wesentliches Element jenes Ethos auf, welches alle großen Religionen miteinan­der verbindet. Menschenwürdig soll es sein, den Zeitpunkt des eigenen Todes selbst zu wählen: »Hat nicht Gott dem Menschen die Vernunft gegeben?«

Zur Beurteilung des Selbstmords

Aus dem Recht, sich selbst zu töten, wird nun sogleich das Recht, sich töten zu las­sen, abgeleitet. Diese Ableitung ist irrig. Die Straflosigkeit des Selbstmords ist ganz unabhängig von seiner sittlichen Beurtei­lung und bedeutet auch nicht, daß er »ge­setzlich erlaubt« wäre, sondern sie bedeu­tet, daß er sich der rechtlichen Normie­rung prinzipiell entzieht. Es gibt zwar auch einige Gesetze, die den Menschen »paternalistisch« vor sich selbst schützen, aber dies geschieht immer in stellvertre­tender Wahrnehmung eines immer unter­stellten Interesses an der eigenen Existenz.

Die Handlung, mit welcher jemand die­ses Interesse definitiv negiert und aus dem Beziehungsnetz auszuscheiden sucht, das alles Lebendige, insbesondere aber alle Menschen miteinander verbindet, kann nicht mit den Maßen gemessen werden, die innerhalb dieses Netzes gelten. Alle Handlungen und Unterlassungen anderer aber, die den Selbstmord eines Mitmen­schen verhindern, fördern oder stellvertre­tend exekutieren, finden innerhalb dieses Beziehungsnetzes statt und unterliegen also dessen Gesetzen. Selbstmord ist nicht ein »Recht«, sondern eine Handlung, die sich der Rechtssphäre entzieht. Von ihr führt kein Weg zu irgendeinem Recht, ei­nen andern zu töten beziehungsweise von einem anderen getötet zu werden.

Wenngleich sich auch der Selbstmord ei­ner rechtlichen Normierung entzieht, so ist es für ein Gemeinwesen doch von gro­ßer Bedeutung, wie er sittlich beurteilt wird. Die Verurteilung des Selbstmords in unserer Zivilisation ist keineswegs, wie immer wieder behauptet wird, nur jüdisch-christlichen Ursprungs. Sie entspricht viel­mehr einer großen philosophischen Tra­dition, die von Sokrates über Spinoza und Kant bis zu Wittgenstein reicht. Der pla­tonische Sokrates sieht im Leben eine Aufgabe, die wir uns nicht selbst gestellt haben und der wir uns nicht eigenmäch­tig entziehen dürfen. Der Sinn des Lebens ist offensichtlich sowenig von uns selbst gesetzt wie das Leben selbst, und er ent­hüllt sich uns deshalb auch nicht in irgend­einem Augenblick des Lebens vollständig. »Wenn der Selbstmord erlaubt ist, dann ist alles erlaubt«, heißt es deshalb bei Witt- genstein.2

In den meisten Fällen ist die Selbsttötung ja tatsächlich Ausdruck von extremer Schwäche und geminderter Zurechnungsfähigkeit. Wo sie als legitime Handlung, ja als Ausdruck der Menschenwürde gilt, da ergibt sich unweigerlich eine verhäng­nisvolle Folge, die durch die Legalisierung aktiver Sterbehilfe noch verstärkt wird. Wo das Gesetz es erlaubt und die Sitte es bil­ligt, sich zu töten oder sich töten zu las­sen, da hat plötzlich der Alte, der Kranke, da hat der Pflegebedürftige alle Mühen, Kosten und Entbehrungen zu verantwor­ten, die seine Angehörigen, Pfleger und Mitbürger für ihn aufbringen müssen. Nicht Schicksal, Sitte und selbstverständ­liche Solidarität sind es mehr, die ihnen dieses Opfer abverlangen, sondern der Pflegebedürftige selbst ist es, der sie ih­nen auferlegt, da er sie ja leicht davon befreien könnte. Er läßt andere dafür zah­len, daß er zu egoistisch und zu feige ist, den Platz zu räumen. – Wer möchte unter solchen Umständen weiterleben? Aus dem Recht zum Selbstmord wird so unver­meid­lich eine Pflicht. Schon Stoiker ha­ben, so berichtet Diogenes Laertius, diese Konsequenz gezogen und so noch eine moralische Prämie auf den Selbstmord gesetzt. Wer freiwillig aus dem Leben scheidet, kann das in dem Bewußtsein tun, dem Vaterland oder den Freunden gegen­über seine Pflicht zu erfüllen.

Hinter dieser Sicht steht das Ideal des stoi­schen Weisen, der sich als reines Vernunft­subjekt begreift, frei von individuellen menschlichen Regungen, frei von Furcht und Hoffnung, von Liebe, Mitleid und Haß. Nicht von ungefähr berichtet Dio­genes Laertius unmittelbar anschließend an die Selbstmordpassage, daß unter den stoischen Weisen Promiskuität herrsche, daß Eifersucht in Liebessachen unbekannt sei und daß die Weisen. allen Kindern als ihren eigenen zugetan sind. Nähe und Fer­ne existieren für sie nicht, weil diese Kate­gorien dem Menschen als endlichem Le­bewesen zugehören. Selbstmord ist für den Weisen immer dann angeraten, wenn seine reine Vernunftautonomie durch bio­logische Beeinträchtigungen gefährdet ist. Die Stoiker wußten allerdings selbst nicht, ob es den Weisen in diesem Sinne über­haupt gibt. Er ist ein »Ideal«. Allerdings ein Ideal, dem man sich nicht schrittwei­se nähern kann. Denn die Weisheit, die alle Tugenden in sich schließt, hat man entweder ganz oder gar nicht. Augustinus hat auf die Unmenschlichkeit dieses Ide­als hingewiesen. Der Weise »freut sich nicht mit den Fröhlichen und weint nicht mit den Weinenden«. Und er verzichtet auch auf den Wunsch oder die Erwartung, daß jemand mit ihm weint. Wenn etwas geeignet ist, dem Leidenden sein Leben als lebensunwert erscheinen zu lassen, dann ist es die Entsolidarisierung der Ge­sell­schaft durch moralische Rehabilitie­rung des Selbstmords und durch Legali­sierung der Tötung auf Verlangen, also durch den stillen Hinweis: »Bitte, da ist der Ausgang.«

Die Einstiegsdroge

Im übrigen ist die Tötung auf Verlangen nur die Einstiegsdroge für die Enttabuisierung der Tötung »lebensunwerten Le­bens« – auch ohne Zustimmung. »Wissen Sie«, sagt der alte Father Smith in Walker Percys »Thanatossyndrom«, »wohin Sen­timentalität führt? _ In die Gaskammer. Sentimentalität ist die erste Maske der Mörder: Im Gefolge der Prozesse gegen die Euthanasieärzte des Dritten Reiches schrieb der amerikanische Arzt Leo Alex­ander 1949, »daß allen, die mit der Frage nach dem Ursprung dieser Verbrechen zu tun hatten, klar wurde, daß diese Verbre­chen aus kleinen Anfängen wuchsen. Am Anfang zunächst feine Akzentverschie­bungen in der Grundhaltung. Es begann mit der Auffassung, die in der Euthanasie­bewegung grundlegend ist, daß es Zustän­de gibt, die als nicht mehr lebenswert zu betrachten sind. In ihrem Frühstadium betraf diese Haltung nur die schwer und chronisch Kranken. Nach und nach wur­de der Bereich jener, die unter diese Kate­gorie fallen, erweitert und auch die sozial Unproduktiven, die ideologisch Uner­wünschten, die rassisch Unerwünschten dazugerechnet. Entscheidend ist jedoch zu erkennen, daß die Haltung gegenüber den unheilbar Kranken der winzige Auslöser war, der diesen totalen Gesinnungswan­del zur Folge hatte.« Daß es sich hier nicht um ein historisch zufälliges Zusammen­treffen, sondern um einen gesetzmäßigen Zusammenhang handelt, zeigt das Beispiel der Niederlande, in denen inzwischen be­reits ein Drittel der jährlich legal Getöte­ten – es handelt sich um Tausende – nicht mehr auf eigenes Verlangen getötet wird, sondern auf das Urteil von Angehörigen und Ärzten hin. die darüber befinden, daß es sieh hier um lebensunwertes Leben handelt.6 Das Erschreckendste ist, daß an­gesichts dieser Tatsache nicht ein Schrei des Entsetzens durch die ganze zivilisier­te Welt geht. C. S. Lewis trog sein Blick nicht, als er 1943 in »The Abolition of Man« schrieb: »Der Prozeß, der, falls man ihm nicht Einhalt gebietet, den Menschen zerstören wird, spielt sich unter Kommu­nisten und Demokraten ebenso augenfäl­lig ab wie unter Faschisten. Die Metho­den mögen sich zunächst in der Brutalität unterscheiden. Aber manch ein sanftäugiger Naturgelehrter mit Zwicker, manch ein erfolgreicher Dramatiker, manch ein Ama­teurphilosoph in unserer Mitte verfolgt auf die Länge genau dasselbe Ziel wie die herrschenden Nazis in Deutschland.« Daß sich die Katastrophe ausgerechnet in Hol­land, also in einem Land ereignet, das dem Nationalsozialismus so eindrucksvoll Wi­derstand geleistet hat, und daß Peter Singer ein Nachfahre von Opfern des Mordes ist, dessen Methode an Debilen zuerst erprobt wurde, ist tragisch, kommt aber nicht von ungefähr. Die Gewißheit, ohnehin auf der guten Seite zu stehen, kann leicht blind machen für die eigene Versuchbarkeit. Der Übergang von der Tötung auf Ver­langen zur Tötung ohne Verlangen ist im übrigen von der gleichen Konsequenz wie der Übergang von der gesellschaftlichen Akzeptanz des Selbstmords zur Legalisie­rung der Tötung auf Verlangen. Die Tö­tung auf Verlangen wird mit dem unver­äußerlichen Recht auf Selbstbestimmung begründet. Aber wäre das ernst gemeint, so müßte jeder Todeswunsch eines er­wachsenen, zurechnungsfähigen und in­formierten Menschen erfüllt werden. Das verlangt aber tatsächlich niemand. Immer wird die Einschränkung gemacht, aktive Sterbehilfe dürfe nur gewährt werden, wenn die Gründe für den Todeswunsch »rational« seien: rational, das heißt nach­vollziehbar von denjenigen, die diese Hilfe leisten sollen. Und als nachvollziehbar gilt für viele ausschließlich der Grund unheil­barer Krankheit. Eine solche Einschrän­kung hat nun aber mit dem Prinzip der Selbstbestimmung nichts zu tun, ja sie widerspricht ihr sogar. Warum sollte nicht jeder Mensch das Recht haben, die Krite­rien für die Bewertung seines Lebens selbst zu bestimmen? Warum sollte der »Bilanzselbstmord« benachteiligt werden? Warum der Selbstmord aus Liebeskum­mer? Man sagt, ein solcher Selbstmord­kandidat sei später froh. wenn er an der Ausführung der Tat gehindert wurde Aber wenn man ihm zum Zeitpunkt seiner Ver­zweiflung ebendies vor Augen stellt und er antwortet: »Ich weiß, daß die Zeit die Bewertung des eigenen Lebens ändert und auch bei mir ändern würde. Aber eben­diese Abhängigkeit von der Zeit verab­scheue ich. Ich will als der sterben, der ich jetzt bin« – was will man ihm entgeg­nen?

Wer einmal grundsätzlich die Selbstbe­stimmung über die Möglichkeitsbedin­gungen der Selbstbestimmung, also über das Leben, stellt, wie kann der jemandem vorschreiben wollen, wie er das Verhält­nis seines Lebens zur Zeit zu verstehen hat? Ist das nicht der Rückfall in einen illiberalen Paternalismus? Und wer will entscheiden, ob es irrational ist, die Glückssumme des Lebens prinzipiell für negativ zu halten und sich deshalb umzu­bringen? Wenn wir nicht davon ausgehen, daß Selbstmord immer irrational ist, wird jedes differenzierende Rationalitätskrite­rium zu einer unbegründbaren Bevormun­dung. Wenn es letzten Endes nicht auf die Selbstbestimmung als solche, sondern auf die Rationalität des Todeswunsches an­kommt, und wenn Dritte über diese Ra­tionalität entscheiden dürfen, dann kön­nen diese Dritten auch im Falle der Unfä­higkeit des Todeskandidaten zur Selbst­bestimmung in stellvertretender Wahrneh­mung seines »wohlverstandenen Interes­ses« über sein Leben entscheiden. Der Übergang von der Tötung auf Verlangen zur Tötung ohne Verlangen ist damit ge­schaffen, und Gott gnade uns, wenn wir den Verstand verlieren oder zu schwach werden, uns zu wehren!

Die Entsolidarisierung

Die Forderung, ungestraft töten zu dür­fen, wird paradoxerweise mit zwei einan­der entgegengesetzten Argumenten be­gründet. Einmal damit, daß Menschen Personen und deshalb Subjekte unbeding­ter Selbstbestimmung sind, das andere Mal damit, daß bestimmte Menschen nicht Personen sind, keine Menschenwürde be­sitzen und es deshalb über sich ergehen lassen müssen, in ihrem eigenen Interesse oder im Interesse anderer getötet zu wer­den. Ja, auch im Interesse anderer. Peter Sieger plädiert dafür, »mißratene« Säug­linge beiseite zu räumen, um für besser geratene Platz zu schaffen, also für sol­che, die eine größere Kapazität haben, sich ihres Lebens zu freuen. Das nämlich op­timiert den Zustand der Welt, und allein darauf kommt es an. »Person sein« heißt in diesem Verständnis nicht, »jemand« sein, der seiner Natur nach dazu angelegt ist, sich zeitweise in bestimmten personspezifischen Zuständen zu befinden, also in Zuständen des Selbstbewußtseins, der Erinnerung und eines bewußten Interes­ses am eigenen Leben, sondern »Person sein« besteht nur in der Aktualisierung dieser Zustände. Babys sind danach kei­ne Personen, Debile sind es nicht, und Schlafende sind es auch nicht. Diese Sicht geht übrigens auf John Locke zurück. Aber schon Leibniz, Kant und Thomas Reid haben auf den Widerspruch hinge­wiesen, in dem sich diese Sicht zu unse­ren fundamentalen Intuitionen und zu un­serem Sprachgebrauch befindet. Jeder von uns sagt: »Ich wurde dann und dann ge­boren«, obgleich er das nach jener Ansicht nicht sagen dürfte, weil der, der damals geboren wurde, zwar ein Mensch, aber nicht die Person war, die jetzt spricht, ja überhaupt keine Person, weil er nämlich damals nicht »ich« sagte. Aber niemand von uns hätte gelernt, »ich« zu sagen, wenn seine Mutter zu ihm nicht wie zu einer Person gesprochen und ihn nicht wie eine Person behandelt hätte. Entweder sind Menschen immer Personen, oder sie wer­den es nie.

Aber auch wenn Menschen ihr Personsein ausdrücken und »ich« sagen können, sind sie nicht das, wofür die liberalen In­dividualisten sie halten: Wesen, die ein­sam, in souveräner Autonomie über ihr Leben und ihren Tod entscheiden und da­bei auf professionelle Exekution dieser Entscheidung Anspruch erheben können. Personen existieren nur in der Mehrzahl, das heißt nur als Mitglieder einer univer­salen Personengemeinschaft. Was diese Gemeinschaft wesentlich konstituiert, ist die gegenseitige, vorbehaltlose und an keine Vorbedingung geknüpfte Bejahung der Existenz eines jeden anderen bis zu deren natürlichem Ende, ja, die Mitver­ant­wortung für diese Existenz.

Auch das Sterben ist noch ein Vorgang, der, wenngleich von der Natur verhängt, eingebettet ist in Riten menschlicher So­lidarität. Wer sich eigenmächtig aus die­ser Gemeinschaft entfernen will, muß das allein tun. Anderen – und gar Ärzten, de­ren Ethos sich definiert durch den Dienst am Leben – zumuten, bei dieser eigen­mächtigen Entfernung behilflich zu sein, heißt, dieses Fundament aller Solidarität zu zerstören. Es heißt, dem anderen zu- zumuten zu sagen: »Du sollst nicht mehr sein.« Diese Zumutung ist eine Ungeheu­erlichkeit. Die damit verbundene Zerstö­rung des Ethos muß sich unvermeidlich in Kürze gegen die Leidenden selbst keh­ren. Wir wissen heute, daß der Suizid­wunsch in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht die Folge körperlicher Be­schwerden und extremer Schmerzen ist, sondern der Ausdruck einer Situation des Sich-verlassen-Fühlens. (Eine Studie in den Niederlanden weist 10 von 187 Fäl­len aus, wo Schmerzen der einzige Grund für den Euthanasiewunsch waren; in we­niger als der Hälfte spielten Schmerzen überhaupt eine Rolle.) Die Palliativmedi­zin hat inzwischen solche Fortschritte ge­macht, daß in jedem Stadium der Krank­heit die Schmerzen fast immer kontrollier­bar sind und nicht die Unerträglichkeits­grenze erreichen. Intensive Zuwendung verändert dann auch meistens den Suizid­wunsch: das Bewußtsein, daß jemandem daran liegt, daß ich noch da bin. Der Arzt repräsentiert dem Patienten gegenüber die Bejahung seiner Existenz durch die Soli­dargemeinschaft der Lebenden, auch wenn er ihn nicht zum Leben zwingt. Gerade in Situationen seelischer Labilität ist das Bewußtsein katastrophal, der Arzt oder auch der Psychiater könnten auf meinen Wunsch spekulieren, mich aus dem Weg räumen zu lassen, und insge­heim darauf warten, diesen Wunsch exe­kutieren zu können. Katastrophal ist schon der Gedanke, ich könne ihn überhaupt dazu bringen, daß er findet, ich solle nicht mehr sein.

Die Fiktion der souveränen Willensent­scheidung ausgerechnet in der Situation extremer Schwäche ist zynisch, vor allem im Hinblick auf die ohnehin im Leben Benachteiligten wie Arme, Einsame und auch Frauen. Es sind nämlich mehr ältere Frauen arm, verwitwet, chro­nisch krank und weniger gut versichert als ältere Män­ner. Das Angebot des assistierten Selbst­mords wäre der infamste Ausweg, den die Gesellschaft sich ausdenken kann, um sich der Solidarität mit den Schwächsten zu entziehen – und der billigste. Der billigste Ausweg aber ist der, der in unserer durch­ökonomisierten Zivilisation mit Sicherheit am Ende gewählt wird, wenn er nicht durch Gesetz und Sitte so fest verriegelt bleibt, daß diejenigen. die seine Öffnung fordern, vollständig entmutigt werden. Die Erfahrung, die unser Land vor einem hal­ben Jahrhundert mit diesem Ausweg ge­macht hat, legitimiert und verpflichtet uns zu besonderer Entschiedenheit. Es gibt, wie schon Platon wußte, immer Grenzfäl­le, für die das Gesetz nicht gemacht ist und denen es nicht gerecht werden kann. Moraltheologen und Moralphilosophen stürzen sich heute mit einem verdächti­gen Interesse auf solche Grenzfälle und konstruieren, von ihnen ausgehend, For­derungen für die Formulierung der Geset­ze. Ausnahmen sollen nicht mehr als Be­stätigung der Regel gelten, sondern die Regel aushebeln. So auch in diesem Fall. Aber wer wirklich einem Freund in einer Extremsituation auf eine Weise helfen möchte, die vom Gesetz nicht gedeckt ist, ohne damit die Schutzfunktion des Geset­zes zu zerstören, der wird bereit sein, für seinen Freundschaftsdienst die vom Ge­setz vorgesehene Strafe auf sich zu neh­men, falls der Richter nicht in der Lage ist, seiner besonderen Situation Rechnung zu tragen. Er wird in dem Bewußtsein handeln, mit der Intention von Gesetz und Sitte im Tiefsten im Einklang zu stehen und als Ausnahme die Regel zu bestäti­gen.

Leben verlängern um jeden Preis?

Unter den objektiven Gründen für die Renaissance des Euthanasiegedankens nannte ich die neuen Praktiken der Le­bensverlängerung und die Explosion der Kosten des Gesundheitswesens. Der Wi­derstand gegen die Euthanasieversuchung kann seine Entschiedenheit nur rechtfer­tigen und durchhalten. wenn er diesen ob­jektiven Faktoren Rechnung trägt und auf sie eine alternative Antwort gibt. Es ist ja wahr, daß das Sterben in unserem Land seit langem menschenunwürdig geworden ist. Es findet immer häufiger in Kliniken statt, also in Häusern, die eigentlich nicht fürs Sterben, sondern fürs Geheiltwerden da sind. In der Klinik wird naturgemäß ständig gegen den Tod gekämpft. Der Kampf endet zwar bei jedem Menschen schließlich mit Kapitulation, aber die Ka­pitulation geschieht oft viel zu spät. Nach­dem kranke oder alte Menschen auf alle Art zum Leben gezwungen wurden, bleibt ihnen keine Zeit und kein angemessener Raum mehr, »das Zeitliche zu segnen«. Das Sterben degeneriert zum bloßen Ver­enden. Die Sterberituale verkümmern. An­gehörige verdrücken sich, wenn es ernst wird. Die Folge all dessen ist, daß immer mehr Menschen sterben müssen, die in ihrem Leben niemals einen Sterbenden gesehen haben. Das ist ein ganz unnatür­licher Zustand, und er fördert natürlich die stumme Angst vor dem Tod. Die »aktive Sterbehilfe« ist die Kehrseite jenes Aktivismus, der bis zum letzten Augenblick etwas »machen« muß. Wenn man das Le­ben nicht mehr machen kann, muß der Tod gemacht werden. Die Patienten, die im Herbst 1996 beim Obersten Bundesgericht der USA gegen den Staat New York auf Genehmigung der Euthanasie klagten, waren überhaupt nur noch am Leben, weil sie mit eigener Zustimmung apparativen Maßnahmen der Lebensverlängerung aus­gesetzt waren. Immer häufiger hat das Le­ben schon mit dem Machen eines Men­schen in der Retorte angefangen. Beides ist nicht zu rechtfertigen. Wenn Menschen nicht von Natur entstünden und von Na­tur stürben, hätten wir nämlich nie einen hinreichenden Rechtfertigungsgrund, das Leben oder den Tod eines Menschen her­beizuführen. All unsere Rechtfertigungs­gründe setzen schließlich das Leben im­mer schon voraus. Die Medizin kann nicht mehr dem Prinzip folgen, jederzeit jedes menschliche Leben so lange zu erhalten, wie das technisch möglich ist. Sie kann es nicht aus Gründen der Menschenwür­de, zu der auch das menschenwürdige Sterbenlassen gehört. Sie kann es auch nicht aus ökonomischen Gründen. Der Wert jedes menschlichen Lebens ist zwar inkommensurabel, daher das unbedingte Tötungsverbot. Es gibt aber in moralischer Hinsicht einen Unterschied zwischen Handlungsgeboten und Unterlassungs­geboten. Nur Unterlassungsgebote können unbedingt sein, Handlungsgebote nie. Handlungsgebote unterliegen immer einer Abwägung der Gesamtsituation, und dazu gehören auch die zur Verfügung stehen­den Mittel. Sie sind nicht beliebig ver­mehrbar. Bei ihrer Verteilung müssen wir also das an sich selbst inkommensurable Leben des Menschen durch sekundäre Kriterien vergleichbar machen. Bei der Knappheit von Spenderorganen ist das evident. Aber es muß auch gelten für ope­rativen und apparativen Aufwand. Ist es sinnvoll, daß der finanzielle Aufwand für die Gesundheit der letzten Lebensjahre so unverhältnismäßig groß ist? Für den Pfle­geaufwand leuchtet das ein. Aber auch für den medizinischer Aufwand? Muß eine 88jährige, die eine Hirnblutung bekom­men hat und ohnmächtig ist, zwei Tage vor ihrem Tod eine aufwendige Hirnope­ration über sich ergehen lassen? Und muß die Solidargemeinschaft der Versicherten damit belastet werden? Das ärztliche Be­rufsethos muß angesichts der ständig wachsenden Möglichkeiten der Medizin Kriterien der Normalität entwickeln, Kri­terien für das, was wir jedem Menschen, und gerade den kranken und alten, an Zuwendung, an Pflege, an medizinischer Grundversorgung schul­den, und für das, was statt dessen abhängig gemacht wer­den muß von Alter, Heilungsaussicht und persönlichen Umständen. Wer jeden Ver­zicht auf den Einsatz der äußeren Mittel als Tötung durch Unterlassen brandmarkt, der bereitet – und zwar oft absichtlich – den Weg für das aktive Umbringen. Die Hospizbewegung, nicht die Euthanasie­bewegung ist die menschenwürdige Ant­wort auf unsere Situation. Wo Sterben nicht als Teil des Lebens verstanden und kultiviert wird, da beginnt die Zivilisati­on des Todes.

Quelle: Robert Spaemann/Thomas Fuchs, Töten oder sterben lassen? Worum es in der Euthanasiedebatte geht, Freiburg i.Br.: Herder, 1997, S. 12-30.

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