Gerhard von Rad, Nachwort zur Josephsgeschichte: „Wer nun den eigentlichen inneren Gehalt der Josephsgeschichte erfassen will, wird gut tun, nicht zu schnell und nicht zu einseitig die Frage nach ihren Glaubensgedan­ken zu stellen. Sie ist ja ein innerlich so weiträumiges Kunstwerk, das gewiß nicht nur unter einem Gesichtspunkt betrachtet sein will.“

Nachwort zur Josephsgeschichte

Von Gerhard von Rad

Die Josephsgeschichte ist als literarisches Dokument, d.h. als literarische Gat­tung betrachtet, ganz anders zu beurteilen als etwa der Erzählungskomplex der Abraham-Geschichten. Gewiß, auch sie ist nicht aus einem Guß, und schwerlich ist die Gestalt, wie sie bei J und E vorliegt, ihre erste Fassung. Die Rekonstruktion mutmaßlicher älterer und einfacherer Fassungen ist freilich ein heikles Geschäft, und bisher ist wenig Sicheres ermittelt. Die Josephsgeschichte ist kein „Sagen­kranz“, zusammengewunden aus ursprünglich selbständigen und in sich abge­schlossenen Erzählungseinheiten, sondern sie ist eine von Anfang bis Ende in sich organisch zusammenhängende Erzählung; sie ist überhaupt keine Sage, sondern eine Novelle. Der Unterschied wird besonders deutlich, wenn wir uns der charak­teristischsten Eigenart der Sagen erinnern: den Vätergeschichten lag allermeist ein ursprünglich ortsgebundenes Sagengut zugrunde; sie hafteten jeweils an einer Örtlichkeit, und um diesen letztlich geschichtlichen Kern kreiste die Erzählung. Solche ortsgebundenen Überlieferungen fehlen aber in der Josephsgeschichte völlig, wenn wir von der Stechdorntenne in Kap. 50,10 an ihrem äußersten Rand ab­sehen. Ebenso mager ist der Ertrag, wenn wir in ihr Erinnerungen an stammesgeschichtliche Verhältnisse suchen. Gewiß, der Stoff der Erzählung wird letztlich aus dem mittelpalästinischen Raum stammen und auf irgendeine geschichtliche Vorrangstellung des Hauses Josephs gegenüber anderen Stämmen zurückgehen. Man kann aber nicht sagen, daß in der jetzigen Erzählung Joseph und seine Brüder als die Vertreter ihrer Stämme zu verstehen seien, d. h. daß sich in ihrem Verhältnis zueinander Beziehungen der Stämme zueinander spiegelten. Von da aus wäre es nicht zu erklären, warum in der Geschichte nur Ruben und Juda als Sprecher hervortreten. Es ist also ganz unmöglich, die Josephsgeschichte stammes- geschichtlich aufzuschlüsseln, denn die Ahnherren der Stämme sind in ihr schon zu novellistischen Figuren verblaßt. Nur bei Joseph selbst darf man annehmen, daß seine überragende Rolle in der Erzählung mittelbar ein Reflex des politischen Übergewichtes des Hauses Joseph ist. (Die Erzählung 1. Mose 48 war, wie wir sahen, ein selbständiger Erzählungsstoff; er fällt durch die Direktheit seines Hin­weises auf Stammesgeschichtliches aus dem Tenor der Josephsgeschichte heraus.)

Freilich, ebensowenig will es gelingen, die Josephsgeschichte für eine exakte geschichtliche Biographie zu halten. Selbst wenn ihr ein tatsächliches geschicht­liches Ereignis zugrunde läge, also wenn sich in ihr die Erinnerung an das Wirken eines Wesirs aus Palästina erhalten haben sollte – und das allein wäre diskutabel –, so wäre doch dieser ihr „geschichtlicher Kern“ gegenüber der novel­listischen Umrankung niemals mehr genau zu fassen. Und wer diese ganze Er­zählung nur nach dem Grad ihrer historischen Verbürgtheit gelten lassen wollte, würde geradezu vorbeigehen an all dem, was ihr selbst anliegt. Wie weit sie selbst von den erzählten Ereignissen entfernt ist und wie wenig sie sich als eine exakte Urkunde versteht, wird besonders daran deutlich, daß sie an keiner Stelle den in die Handlung verwickelten Pharao zu benennen vermag. Wie anders ist dem­gegenüber die Präzision wirklicher historischer Berichte etwa 1.Kön. 14,25; 2.Kön. 23,29! Das gleiche gilt von „der Stadt“ in Kap. 44,4.13. So braucht sich der Aus­leger auch nicht um die Frage zu bemühen, ob denn überhaupt in der in Frage kommenden Zeit ein Pharao seine Residenz in Unterägypten gehabt habe. Die Pharaonen des Neuen Reiches residierten nämlich in Theben (Oberägypten); erst die Ramessiden haben ihre Residenz nach Unterägypten verlegt (um 1300), also zu einer Zeit, die unter allen Umständen später liegt als die Josephs, denn Ram­ses II. ist wahrscheinlich der Pharao der Bedrückung Israels. Viel näher liegt die Annahme, daß der Erzähler auch hinsichtlich der Residenz des Pharao die Verhält­nisse seiner Zeit im Auge hatte. Niemand wird ihm eine gute Kenntnis ägyptischer Verhältnisse absprechen; aber dies ist in allem Wesentlichen die Kenntnis seiner eigenen Zeit. Besonders in der Zeit Salomos bestanden ja rege Beziehungen zu Ägypten, und zwar nicht nur in politischer Hinsicht, sondern auch auf allgemein-kulturellem Gebiet. So wie sich Salomo für die Lebensweisheit der Südaraber interessiert hat (1.Kön. 10,1 ff.), so sind gewiß auch zwischen Palästina und Ägypten die Weisheitslehrer hin- und hergereist und haben sich ausgetauscht (Sir. 39,4). Und gerade die Josephsgeschichte hat, wie noch zu zeigen sein wird, eine ausgesprochene Verwandtschaft mit der älteren Weisheitslehre. Tatsächlich glaubt man der Josephsgeschichte eine Freude an dem Aufgehen eines weiten Ho­rizontes noch abspüren zu können. Schon Gunkel hat jenes aufgeklärte Interesse an den Bräuchen und Verhältnissen eines großen fremdartigen Volkes gesehen. Der glänzende Hof, die Installation eines Wesirs, mit dem man nur durch einen Dolmetscher reden kann, die staatliche Speicherung des Getreides, die seltsamen bodenrechtlichen Verhältnisse, die Mumifizierung der Leichen usw. Dieses ge­weckte Interesse am Exotischen ist das Zeichen einer in geistiger und kultureller Hinsicht reifen und aufgeklärten Zeit. Und so muß gerade die Ära Salomos be­stimmt werden.

Wer nun den eigentlichen inneren Gehalt der Josephsgeschichte erfassen will, wird gut tun, nicht zu schnell und nicht zu einseitig die Frage nach ihren Glaubensgedan­ken zu stellen. Sie ist ja ein innerlich so weiträumiges Kunstwerk, das gewiß nicht nur unter einem Gesichtspunkt betrachtet sein will. Daß sie es nicht verschmäht, ihre Leser mit allerlei kulturgeschichtlich Interessantem zu unterhalten und zu bilden, davon war schon die Rede. Vor allem aber war Joseph selbst – der aus tiefstem Elend zu höchsten Ehren Gekommene – durch die seltsamen Situationen, in die er gestellt wurde, für die alten Leser eine äußerst fesselnde Gestalt, weil sich an ihr Probleme abzeichneten, die in der Zeit des Erzählers besonders aktuell waren. Aber auch da geht es zunächst um etwas sehr viel Umfassenderes als nur um das, was wir unter dem „Religiösen“ verstehen, also etwa nur um seine innere Läute­rung oder um seine Strenge oder um seine Güte den Brüdern gegenüber. Vielmehr wird in Joseph das Bild eines Jünglings und Mannes entworfen, von bester Bildung und Zucht, von Gläubigkeit und Weltgewandtheit, wie es die Weisheitslehrer in ihren Sentenzen die Jugend gelehrt haben. Da ist vor allem eines zu bedenken: Joseph ist Beamter an einem Hofe. (Was wußte das Israel der Richterzeit von den Möglichkeiten und Problemen einer solchen Existenz!) Die vornehmlichste Aufgabe, ja die Kunst eines Beamten bei Hofe war aber die der Rede; er mußte – und zwar in politischen Angelegenheiten – Vortrag halten, oder, wie man es da­mals nannte, einen „Rat“ geben können. Zwei schöne Beispiele solcher kunstvollen politischen Vorträge liest man in 2. Sam. 17,1-13. So werden die alten Weisheits­lehrer nicht müde, auf die Wichtigkeit des rechten Redens und auch des rechten Schweigens hinzuweisen, denn es war ein erstrebtes Ziel, derart vor dem König zu stehen und seinen Räten zugezählt zu werden („Siehst du einen, der geschickt ist in seinem Auftrag, – vor Könige kann er hintreten“, Spr. 22,29; „Vernachlässige nicht die Rede der Weisen … denn dadurch wirst du Bildung lernen, daß du vor Fürsten treten kannst“, Sir. 8,8. Vgl. außerdem Spr. 10,21; 11,14; 12,8; 15,7; 16,23 f.; 18,21; 25,11 f.). Um dazu zu gelangen, war aber eine steile Leiter zu er­klimmen. Ein solches Amt setzte eine große Übung in Zucht und Selbstbeherr­schung voraus. Es ist völlig klar, daß auch die Josephsgeschichte auf und ab an diesem Bildungsideal interessiert ist; man könnte Zug um Zug das Verhalten Josephs mit schlagenden Sentenzen der Weisheit belegen. Von seiner Kunst der wohlanständigen Rede bis zu seiner Selbstbeherrschung und zu seinem Glauben.

Auf das engere Gebiet des Sittlichen führt die Erzählung von Joseph und der Frau Potiphars, und mit ihr befinden wir uns wieder in nächster Nähe von einem wichtigen Gegenstand weisheitlicher Lehre, nämlich der Warnung vor der „frem­den Frau“ (Spr. 2,16; 5,3.20; 6,24; 22,14; 23,27 f.). So liest sich die Versuchungsgeschichte Kap. 39 geradezu wie eine ad hoc verfaßte Beispielerzählung zu diesen weisheitlichen Mahnungen. Diese Erzählung ist aber auch deshalb wichtig, weil sie das absolute Fundament zeigt, auf dem dieses ganze Bildungsideal ruht, näm­lich die „Furcht Gottes“, d.h. den Gehorsam den Geboten gegenüber, der die Basis aller dieser Lebenskunst ist (Spr.1,7; 15,33). Zu dieser absoluten Bindung bekennt sich auch Jo­seph (Kap.42,18). Damit ist etwas grundsätzlich Wichtiges berührt. Die älteren Weisheitslehrer haben nämlich nicht auf Gott und seine Offenbarung hin erzogen, sondern von ihr her. So kommt es, daß sie eine Erziehung und Men­schenbildung entwerfen, die nicht von einer absoluten, über ihr stehenden Idee normiert wird und nicht einem Idealbild entgegenführen will. Dieses Bildungs­streben ist viel labiler und ungrundsätzlicher, undoktrinärer als die meisten mo­dernen Entwürfe; vor allem fehlt ihm jedes Erlösungspathos, hat es in seiner Bedachtheit auf das Mögliche und Erreichbare vielmehr etwas ausgesprochen Rea­listisches, gelegentlich sogar Opportunistisches. Aber ihm fehlt auch jede Auto­nomie. So gibt sich Joseph vom Anfang bis zum Ende als ein Mensch, der nicht „an Stelle Gottes“ steht (Kap. 50,19).

In Israel ist viel später noch einmal das Bild des zu einem hohen Amt emporgestiegenen jungen Mannes gezeichnet worden, nämlich in den Danielerzählungen, besonders in Dan. 1. Vieles berührt sich eng mit der Josephsgeschichte: die Un­befangenheit, mit der solch ein Hofamt angenommen wird, die Bewährung echter, auf Gottesfurcht gegründeter Lebenskunst, die Traumdeutungen, das Ratgeben, eine Konfliktsituation, die zum status confessionis führt (Dan. 1,8ff.). Aber hier liegen auch große Unterschiede. Denn im Unterschied zu der Josephsgeschichte betonen die Danielerzählungen immer wieder, daß Daniel dem Glauben und den heiligen Bräuchen der Väter treu geblieben ist. Daß das in der Josephsgeschichte fehlt, wird gewiß nicht bedeuten, daß der Erzähler in diesem Punkt an Josephs Treue zweifelt, viel eher das Gegenteil, daß er sie – so wie er sie versteht – für selbstverständlich hält; allerdings auch dies, daß ihn das große Problem der rechten Bewahrung des Glaubens in einer heidnischen Umgebung noch nicht beschäftigte. So wird z.B. dem Leser die Frage, ob Joseph trotz des in Kap. 41; 44,5 Erzählten noch jahwegläubig geblieben war, nicht beantwortet. Das alles wird damit Zusammenhängen, daß Israel in der Epoche, der auch die Josephsgeschichte zugehört, überhaupt das erste Mal die ganze Vielfalt und Abgründigkeit des Menschlichen geistig in sein Blickfeld bekam und daß es damit zugleich auch die Möglichkeiten ihrer literarischen Darstellung entdeckte. So muß man die meisterhaften Schilderungen komplizierter psychologischer Vorgänge in einem ge­wissen Sinn geradezu als ein literarisches Neuland ansehen, daß diese Erzähler der salomonisch-nachsalomonischen Ära betraten. (Man denke etwa an die „Seelenangst“ Kap. 42,21, das Erstarren im Staunen Kap. 45,3.26, das Sich-An­sehen beim Erschrecken Kap. 42,28, die Gewissensregung Kap. 42,18 oder an Josephs überwallendes Gefühl Kap. 43,30.) Gewiß, in ihrer Zeit war Joseph ein moderner Mensch und die Josephsgeschichte ein modernes Buch.

Zu einer solchen Geformtheit des ganzen inneren und äußeren Menschen, wie sie in der Gestalt Josephs gezeigt ist, kommt ein Mensch nicht über Nacht. Er lernt sie erst in einer schweren Schule, nämlich in der der Demut. Und das ist wieder die Lehre der alten Weisen, daß vor der Ehre die Demut stehe Spr. 15,33; 22,4), und sie wird im ersten Teil der Josephsgeschichte breit illustriert. Aber von einem Menschen, der derart durch Zucht und Selbstbeherrschung geformt ist, geht etwas Auf bauendes, eine wohltätige Güte aus. Von wem gilt denn die Sentenz, daß „der Langmütige Hader stillt“, wenn nicht von Joseph? Auch Josephs Verzicht auf Vergelten hat ihre schlagenden Parallelen in der älteren Weisheit („Sprich nicht, wie er mir getan, so will ich ihm tun; ich will vergelten dem Mann nach seiner Tat“ Spr. 24,29; „alle Vergehungen deckt Liebe zu“ Spr. 10,12). Aber Joseph beschränkt sich in seinem Verhältnis zu seinen Brüdern keineswegs auf passive Duldung und Vergebung. Er handelt an ihnen, und zwar hart und verwegen. Joseph praktiziert eine Vollmacht, die den Leser angst und bange werden läßt. Aber Joseph hat sie; deshalb nämlich, weil er allein das ganze verworrene Geschehen von Gott her zu deuten weiß. Damit kommen wir auf den eigentlichen theologischen Gehalt der Erzählung.

Von Gott und den Dingen des Glaubens spricht die Josephsgeschichte schon äußerlich im Vergleich zu ihrem großen Umfang selten. Aber auch die Indirektheit fällt auf, in der sie das tut. Viele alte Sagen, wie etwa die Bethelgeschichte, haben direkt und massiv ein heiliges Geschehen berichtet. Davon kann in diesem Sinne in der Josephsgeschichte nicht die Rede sein. Das Geschehen in ihr ist alles andere als heilig; sein Charakteristikum ist vielmehr ein ausgesprochen wunderloser Realismus, und von Gott redet der Erzähler auch nicht selbst, sondern er läßt Joseph davon reden (einen so direkten Satz wie etwa: „Gott aber erhörte Lea“ Kap. 30,17 sucht man in der ganzen Josephsgeschichte vergeblich). – Offenbar erkennt sie dem Joseph ein göttliches Charisma, das der Traumdeutung, zu; aber wie weltlich ist die ganze Szene, in der es sich betätigt (Kap.41,16ff.). Allerdings die Stellen, in denen Joseph wirklich von Gott spricht, haben für das Verständnis des Erzählungsganzen programmatische Bedeutung. Und hier erhebt sich in der Erzählung eine unverkennbar lehrhafte Absicht. Es sind dies Kap. 45,5-7 und 50,20 f. Zu ihnen ist in der Auslegung das Nötigste gesagt, was hier nicht wiederholt wird. Beide Texte weisen auf das in tiefer Weltlichkeit verborgene Heilswalten Gottes hin. Dieses Walten Gottes zum Heile der Menschen durchzieht kontinuier­lich alle Lebensbereiche und es umgreift sogar das Böse der Menschen, indem es die Planungen des Menschenherzens, ohne sie zu hemmen oder sie zu entschul­digen, seinen göttlichen Zielen dienstbar macht. So ist also das menschliche Herz wohl der vornehmlichste Bereich, in dem sich Gottes Vorsehung und Lenkung betätigt. Das ist nun wieder ein Lieblingsgedanke der Weisen: „Die Schritte des Mannes lenkt Jahwe, wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen?“ (Spr. 20,24). Diese Sentenz könnte über die ganze Josephsgeschichte geschrieben werden, denn sie berührt sich nahe mit dem Satz Kap. 50,20. Ebenso verhält es sich mit Spr. 16,9: „Des Menschen Herz denkt sich einen Weg aus, aber Jahwe lenkt seinen Schritt.“ Diese Allgenugsamkeit des göttlichen Waltens drückt nun das Handeln des Menschen fast zur Belanglosigkeit herab (vgl. Spr. 21,30); das kommt in der Josephs­geschichte darin zum Ausdruck, daß hinsichtlich der begangenen Schuld der Brüder jedes moralische Pathos, jede Leidenschaft, sie aufzudecken und genauer zu be­stimmen, fehlt; und das ist gewiß bei einer Schuld solchen Ausmaßes bemerkens­wert. Gewiß, es wird deutlich das Walten einer Vergeltung erkennbar (Kap. 42,21 f.), und auch Joseph beschönigt nichts (Kap. 50,20); aber in dem Satz, daß Gott dies ganze zwielichtige Gelände menschlicher Schuld und Leidenschaft seinem Heilswalten einbezogen hat, ja, daß er in all dem schuldhaften Handeln der Men­schen „das große Entrinnen“ (1.Mose 45,7) vorbereitet hatte, das schloß nach der Meinung des Erzählers auch eine Vergebung der Schuld ein.

Der Leser muß sich aber bewußt bleiben, daß das Wort Josephs Kap. 50,20 durch sein geradezu schroffes Auseinanderhalten von göttlichem und mensch­lichem Tun etwas Extremes aussagt. Es verweist ja das Handeln Gottes in eine radikale Verborgenheit, Ferne und Unerkennbarkeit. Solange der charismatische Deuter da war wie in der Josephsgeschichte, war keine Gefahr. Aber wie es aus­sieht, wenn der Mensch mit dieser radikalen Erkenntnis als solcher allein gelassen ist, zeigt das Buch des Prediger Salomo, in dem die Frage „Wie könnte der Mensch seinen Weg verstehen!“ schon den Unterton der Verzweiflung angenommen hat (Pred.Sal. 3,11; 7,25; 8,17; 11,5). Die Skepsis dieses Buches hat sehr weit zurück­liegende Wurzeln.

Nahe verwandt mit der Weisheitslehre ist endlich die Josephsgeschichte dadurch, daß ihre Glaubensaussagen über Gott und sein Walten ganz abgelöst erscheinen von jeglicher Bundestheologie, von einem Bezug auf Jahwes besondere Pläne mit Israel, mit anderen Worten, von allem Heilsgeschichtlichen. Aber gerade in dieser letzteren Sache hat sich noch etwas Entscheidendes geändert, denn von dem großen Sammler und Gestalter der ganzen Vätergeschichte ist schließlich auch die Josephsgeschichte unter das Thema der Erzväterverheißung gestellt worden. Diese nachträgliche Verankerung der Josephsnovelle in dem großen Ge­schichtsplan, in den Jahwe das Leben Abrahams, Isaaks und Jakobs einbezogen hatte, dient vor allem der Abschnitt Kap. 46,1-5. Jeder aufmerksame Leser er­kennt ja eine gegenüber dem Gros der Erzählung erheblich veränderte Thematik und Darstellungsform. Ebenso fällt es auf, wenn Joseph, nachdem das theologisch Entscheidende doch gesagt war (Kap. 50,20) schließlich noch auf die Verheißung des Landes zu sprechen kommt, die an die Väter ergangen war (Kap. 50,24), denn damit wird ein Vorstellungskreis aufgegriffen, der der ursprünglichen Erzählung fern lag. Dieser Einbau der Josephsgeschichte in das Gros der Vätergeschichten (den wir vielleicht auf den Jahwisten zurückzuführen haben) ist aber theologisch von großer Bedeutung, denn die Führungen der göttlichen Vorsehung, von denen die Josephsgeschichte so Geheimnisvolles zu erzählen weiß, sind nun ein Teil jenes großen Geschichtsplans, den Jahwe entworfen hat, um sein Volk Israel ins Dasein zu rufen. Das „große Entrinnen“, das Jahwe so wunderbar veranstaltet hat (Kap. 45,7), meint nun mehr als die Rettung einer Großfamilie aus der Hun­gersnot, und das Wort von Gott, der das böse Ersonnene zum Heil wenden kann (Kap. 50,20), reicht nun viel weiter, denn es rührt an das Geheimnis des biblischen Heilsgeschehen überhaupt.

Quelle: Gerhard von Rad, Das Erste Buch Mose Genesis, ATD 2/4, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 91972, S. 356-361.

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