Jürgen Ebach, Schweigen und Stille in der Bibel: „Bei Worten und nicht zuletzt bei biblischen und theologischen Worten sollten wir stets fragen, wer sie sagt, wem und in welcher Lage sie gesagt, aber auch, wogegen sie gesagt sind. All das gilt auch für das Schweigen. Manch­mal ist es darum zu tun, gegen das Schweigen und das Verschweigen zu reden, aber manchmal hat gegen die vielen Worte und Parolen das Schweigen seine Zeit.“

Schweigen und Stille in der Bibel. Eine kurze Einleitung und sieben Miniaturen

Von Jürgen Ebach

Eminente Bedeutung hat in der Bibel das Wort, das Sprechen von Menschen, das Sprechen Gottes und das Sprechen von Gott. Demgegenüber erscheint das Schweigen als ein Nebenmotiv. Gleichwohl verdient es in seinen vielfältigen For­men Beachtung.[1] Es kann als »beredtes Schweigen«[2] seinerseits eine Form der Kommunikation sein, es kann einen ebenso leisen wie kraftvollen Gegenton zum Wort und den Wörtern zum Klingen bringen. In allen Formen des Schweigens bleibt für die »Schrift« das Oxymoron, dass das Schweigen in Sprache gebracht ist[3] und dass es selbst etwas zur Sprache bringt. Und was besagt es? Keine Theo­logie des Schweigens und der Stille sollen die folgenden fragmentalen Miniaturen ins Bild setzen, sie wollen vielmehr jenen Gegenton in seinen verschiedenen und durchausgegensätzlichen Formen und Intentionen zum Sprechen bringen. Es gibt eine wohltuende und eine tödliche Stille, es gibt ein bequemes und ein wi­derständiges Schweigen. Es gibt ein solidarisches Schweigen und es gibt ein ge­lähmtes und lähmendes Schweigen. Dämonische Mächte werden in der Bibel zum Schweigen gebracht, aber auch Menschen, vor allem Frauen, sollen zum Schweigen gebracht werden. Es gibt die Klage gegen das Schweigen, aber es gibt auch das Schweigen gegen die Anklage. Und immer wieder geht es um die Frage, wann das Schweigen seine Zeit hat, und darum, dass es nicht das letzte Wort ha­ben möge. »The rest is silence« – das steht bei Shakespeare[4], aber nicht in der »Schrift«.

Zu den in Koh 3,1-9 in vierzehn Gegensatzpaare gefassten Handlungen und Haltungen, für die es je ihre Zeit gibt, gehört in V. 7 »eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden« (et lachaschot w’et l’dabber). Wie bei den anderen Paaren geht es darum, zu erkennen und zu beherzigen, was wann an der Zeit ist. Das Schwei­gen kann ebenso die Weisen kennzeichnen (Spr 11,12; 17,27) wie die Dummen, die nichts zu sagen wissen (Sir 20,5), aber auch diejenigen, die schweigen, statt für die Schwachen und Rechtlosen den Mund aufzumachen (Spr 31,8f). Und manch­mal ist sogar im Umgang mit der »Schrift« das Schweigen geboten. In der Lektü­re von Koh 3,7 erzählt der Midrasch Kohelet rabba, ein Rabbi habe bei einem an­deren, dessen Frau gestorben war, einen Kondolenzbesuch abgestattet und ihn gebeten, er möge doch etwas aus der »Schrift« vortragen. »Die«, antwortete er, »lehrt gerade für diese Zeit still zu sein und Schweigen zu wahren.«

Schweigen als compassion

»Es hörten aber die Freunde Ijobs von dem ganzen Unheil, das über ihn gekommen war. […] Die verabredeten sich hinzugehen, ihm zuzunicken und ihm Trost zu geben. Sie erhoben von ferne ihre Augen und erkannten ihn nicht wieder. Da erhoben sie ihre Stimmen und weinten. Sie zerrissen ein jeder sein Obergewand und streuten Aschen­staub auf ihr Haupt zum Himmel hin. Dann setzten sie sich zu ihm auf die Erde – sie­ben Tage lang und sieben Nächte lang. Keiner sprach ein Wort zu ihm, denn sie sa­hen, dass der Schmerz sehr groß war.« (Ijob 2,11-13)

Diese Szene setzt die tief solidarische Haltung der drei von weit her kommenden Freunde zu dem von böser Krankheit und schrecklichem Unheil getroffenen Hiob ins Bild. Ihre Klagen und Entsetzensbekundungen münden in wortlose Zu­wendung. Ganze sieben Tage und sieben Nächte lang schweigen sie mit Ijob. Die Siebenzahl und die vorausgehenden Riten – Kleider zerreißen, Asche aufs Haupt streuen, sich auf die Erde setzen – lassen an Trauerriten denken. Ijobs Freunde trauern um einen, der sich bereits in der Sphäre des Todes befindet. Zugleich trauern sie mit ihm um seine Toten (Ijob 1,13-19), und schließlich zeigen sie dem in Schmerz und Leiden Lebenden ihr Mit-Leiden, sie erweisen compassion[5]. Kondolenz und compassion vereinigen sich im Schweigen. Auch von Ijob gibt es in diesen sieben Tagen und sieben Nächten kein Wort. Ins Bild kommt ein gemein­sames kommunikatives Schweigen.

Dann aber, einsetzend mit Ijob 3,1, spricht Ijob. Und nun schweigen auch die Freunde nicht länger, sondern versuchen, auf Ijobs Klagen und Fragen zu ant­worten. Angesichts ihrer dann folgenden Reden und deren zunehmender Schär­fe mag man fragen, ob sie nicht besser weiter geschwiegen hätten. Aber darf man schweigen, wenn der Getroffene Antwort fordert? Denn dann würde im Weiter-Schweigen aus der Kondolenz eine Indolenz, aus der Solidarität eine Ab­schottung und aus der Kommunikation eine Kommunikationsverweigerung.

Manches Schweigen sagt mehr, als es jedes Reden könnte. Zuweilen tut nach langem Reden das Schweigen wohl, weil es keiner weiteren Worte bedarf. Und es gibt ein schroffes Schweigen, weil nun jedes weitere Wort verschwendet wäre. Es gibt ein Schweigen, das die Kommunikation abschließt, und es gibt ein Schwei­gen, das die Kommunikation abbricht. Es gibt mit Koh 3,7 »eine Zeit zu schwei­gen und eine Zeit zu reden«. Und immer wieder ist zu fragen, was wann an der Zeit ist.

A sound of sheer silence

»Und nach dem Erdbeben ein Feuer, doch Adonaj war nicht im Feuer. Und nach dem Feuer der Laut eines dünnen Schweigens.«
(1 Kön 19,12)

Der in 1 Kön 18 am Karmel so machtvoll aufgetretene Elija flieht vor Isebels Ver­folgung in die Wüste. Depressiv geworden will er nur noch sterben (1 Kön 19,4). Doch ein Gottesbote gibt ihm die Kraft, den Weg bis zum Gottesberg fortzuset zen. Da begegnet ihm Gott. Voraus gehen Sturm, Erdbeben und Feuer, in denen Gott nicht ist, und dann folgt jene qōl d’mama daqqa. Wie lässt sich diese in der Bibel singuläre Wortverbindung verstehen?[6] Von einer phone auras lepes, einem Laut eines schwachen Hauchs, spricht die Septuaginta und entsprechend die Vul­gata (»sibilus aurae tenuis«). Lutherübersetzte (1534/1545): »ein still sanfftes sau­sen«, die Einheitsübersetzung hat »ein leises sanftes Säuseln«. Ein »Flüstern eines sanften Windhauchs« bietet die Neue Zürcher Bibel und die Verdeutschung der Schrift von Martin Buber und Franz Rosenzweig »eine Stimme verschwebenden Schweigens«. Ähnlich vielfältig sind Übersetzungen in andere moderne Sprachen, z. B. »a still small sound« in der Revised Standard Version und dem gegenüber »a sound of sheer silence« in der New Revised Standard Version. Gerade die letzt­genannte Wiedergabe bringt die Spannung zwischen Laut und Schweigen zum Klingen.

Bereits die drei einzelnen Wörter qōl, d’mama und daqqa haben ihre Band­breite. Von einer qōl ist die Rede, von einer Stimme, einem Laut. Das folgende d’mama verbindet jenen Laut mit einem Wort, dessen Wurzel dmm für Schwei­gen, Stille steht. Ps 107,29 lässt Gott einen Sturm l’d’mama, »zur Stille/zum Schweigen« bringen. Ijob 4,16 bringt d’mama und qōl zusammen: Elifas hörte »Stille und Stimme«, einen leisen Laut. Die leise Stimme, der stille Laut in 1 Kön 19,12 erklingt zudem daqqa, »dünn« (wie Haar, Lev 13,30), »mager« (wie die Kühe im Pharaotraum, Gen 41,3), »zermahlen« (wie Staub, Jes 29,5). Die dreifäl­tig gekennzeichnete qōl d’mama daqqa folgt den drei Vorboten der Gotteserschei­nung in V. 11f (Sturm, Erdbeben, Feuer), in denen Gott nicht war, Im (hebräi­schen!) Text in V. 12 steht nicht, dass Gott in jener stillen, dünnen Stimme war, wohl aber nimmt Elija in deren Aura, deren Tonlage Gott wahr. Das besagt nicht, wie Gott an und für sich ist, sondern wie ein stiller, dünner Laut Gottes Präsenz für Elija anzeigt. Der stürmische, feurige Gotteskämpfer selbst ist zum still ge­wordenen, gleichsam abgemagerten Propheten geworden. Ihm begegnet Gott, wie er ihn jetzt wahrnehmen kann. In Abwandlung von Koh 3,7: Es gibt für Gott eine Zeit für Sturm, Erdbeben und Feuer, und es gibt eine Zeit für eine leise dünne Stimme.

Gegen das Schweigen klagen

»Zu meinen Tränen schweige nicht!« (Ps 39,13)

Ein vielfach aufscheinendes und vielfach gebrochenes Motiv bildet das Schweigen in den Psalmen.[7] Dazu kann es hier nur wenige Hinweise geben. Immer wieder kommt die Klage über Gottes Schweigen[8] zu Wort (z. B. Ps 28,1; 35,22; 39,13; 109,1), Wie kann Gott scheinbar untätig reagieren, wenn das Volk bedroht ist (Ps 18,42; 83,2), wie kann Gott schweigen, wenn die Gerechten vernichtet werden (Hab 1,13)? Und immer wieder geht die Erwartung darauf, dass dieses Schweigen nicht das letzte Wort hat[9] und dass darum auch die Betenden nicht im Land des Schweigens verenden werden.[10] Doch die Gefährdung bleibt vor Augen: »Wäre Adonaj mir nicht Hilfe«, so Ps 94,17, »nicht viel hätte gefehlt und meine Kehle wohnte im Schweigen.«

In der Spannung zwischen der Erinnerung an Gottes Hilfe, der empfundenen Qual der Abwesenheit Gottes und der Erwartung der Wieder-Zuwendung Gottes vermöchte das Gebet selbst schier zerbrechen, wenn es nicht eben diese vielfach gebrochene Erfahrung in sich aufnehmen könnte.[11] Wenn ein Gebet das vermag, ist es kein psychohygienisches Selbstgespräch, sondern eine inständige Bitte um Gottes Antwort – wann und wie immer diese Antwort erfolgen mag. Im Gebet können Klage und Lob, Widerspruch und Ergebung lauthals zu Wort kommen. Alles, aber auch alles dürfen die Betenden vor Gott bringen – auch ihre abgrün­digsten Rache und Gewaltwünsche. Auch sie sollen zu Wort kommen, damit sie nicht das letzte Wort haben. Aber all das kann auch in einem stillen und wortlo­sen Gebet geschehen. Es gibt ein Schweigen, das ein tiefes Vertrauen in Gott zum Ausdruck bringt. »Man lobt dich in der Stille«, heißt es in der Lutherbibel in Ps 65,2[12], näher am hebräischen Text: »Dir ist Schweigen Lobgesang« (l’cha dumi jja t’hilla). Manchmal ist ein solches Schweigen an der Zeit, ein Schweigen, in dem Klage und Lob aufgehoben sind. Wer so schweigt, ist nicht zum Schweigen verurteilt, sondern womöglich zum Schweigen befreit.

Schweigend am Wort arbeiten

»Darum schweigt der Verständige zu dieser Zeit, denn es ist eine böse Zeit.«
(Am 5,13)

Wie passt die Bemerkung in Am 543, der Verständige, Kluge (maskil) schweige in böser Zeit, zum Auftreten des Propheten Amos? Der hatte in böser Zeit ja gerade nicht geschwiegen, sondern in großer Schärfe das soziale Unrecht benannt. Da der Vers auch formal nicht den Worten des Amos entspricht, handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine spätere Ergänzung. Aber was will sie besagen? Fehlt es denen, die sie einfügten, am Mut und an der Gewissheit eines Amos? Wir wissen es nicht. Aber wir ahnen, dass sie, die in ihrer eigenen Situation für sich als Ge­bot der Klugheit das Schweigen reklamierten, nicht untätig blieben, sondern die Botschaft des Amos und deren Bedeutung für ihre Zeit bewahrten, indem sie das Amosbuch redigierten und komponierten. Sie sprachen mit der »geretteten Zun­ge« des Amos und derer, die dessen Worte bereits ergänzt und fortgeschrieben hatten. Indem sie für sich selbst das Schweigen vorzogen, retteten sie die Pro­phetie des Amos. Ihr Schweigen ließ die Prophetenworte ihre eigene und manch weitere »böse Zeit« überdauern. Vermöge ihrer stillen Arbeit an den Worten und den Texten können wir bis heute das Amosbuch hören und lesen.

Zum Schweigen gebracht

»Und jetzt, meine Schwester, schweig!« (2 Sam 13,20)

Ein machtvolles Wort kann jemanden zum Schweigen bringen. Dieser »jemand« kann eine personal vorgestellte Macht sein, aber auch ein Mensch. Das zum Schweigen bringende Wort kann heilsam, aber auch niederdrückend sein. Für beides gibt es in der Bibel Beispiele. Mk 4,35-41 erzählt, wie Jesus den Seesturm stillt, der für die mit ihm im Boot Sitzenden tödlich erscheinen musste: »Und er wachte auf«, heißt es da in V. 39, »bedrohte den Wind und sprach zu dem See: ›Schweig, verstumme!‹ Und der Wind legte sich und es entstand eine große Stil le.« Wind und See sind hier nicht einfach Naturgrößen, sondern Mächte. Jesus bringt sie zum Schweigen, wie Gott über Sturm und Wellen gebietet (z. B. Ps 65,8 und mehrfach in Jona 1). Das Schweigen jener Mächte lässt die von ihnen Be­drohten leben.

Aber es gibt auch Schweigebefehle, die das Leben derer, denen sie gelten, un­erträglich einengen. »Und jetzt, meine Schwester, schweig!«, sagt Absalom (2 Sam 13,20) zu Tamar, die von ihrem Halbbruder Amnon vergewaltigt wurde[13], und er fügt hinzu: »Er ist doch dein Bruder.« Tamar selbst hatte gegenüber Am non nicht geschwiegen. Sie hatte ihn mit Bitten und Argumenten von seinem ge­waltsamen Übergriff abhalten wollen (13,12f), und sie hatte auf das hin, was ihr angetan wurde, laut geschrien (13,19). Es ist ihr Bruder Absalom, der sie zum Schweigen verurteilt. Er, der doch auf ihrer Seite steht, steht nicht an ihrer Sei­te. Er will die Sache unter Männern ausmachen, indem er Amnons Tod plant. Geht es ihm um das, was Tamar angetan wurde, oder mehr um seine eigene Ehre und seine eigenen Interessen? Tamar jedenfalls wird schlicht mundtot ge­macht. Im Folgenden wird sie kein einziges Mal mehr erwähnt. Gegen dieses von Männermacht verfügte Schweigen freilich steht die Erzählung in 2 Sam 13 selbst, die all das eben nicht verschweigt.

Und noch ein verfügtes Schweigen muss genannt werden. 1 Kor 14,34 besagt, dass Frauen in der Gemeinde schweigen sollen, und 1 Tim 2,12 bestimmt, Frauen sollten auf keinen Fall lehren. Lange Zeit und in manchen Kirchen bis heute wa­ren diese Stellen der Grund, Frauen aus Lehre und Verkündigung auszuschlie­ßen. Glücklicherweise gilt dieses Schweigegebot in meiner Kirche und in immer mehr Kirchen nicht mehr. Manchmal darf, manchmal muss man einem biblischen Wort widersprechen. In diesem Fall ist der Widerspruch im doppelten Sinn »prinzipiell«. Denn in Gen i ist der Mensch, männlich und weiblich, als Got­tes Bild erschaffen, und eine Doktrin, welche die Hälfte der Menschheit diskri­miniert, kann ich mit dieser anthropologischen und theologischen Grundaus­sage nicht vereinbaren. Nicht selten kann ich einem biblischen Satz nur zustimmen, wenn ich einem anderen widerspreche. Hier ist kein Schweigen an­gesagt, sondern ein Diskurs über das, was gelten und was nicht gelten soll. Und Frauen haben zum Glück nicht geschwiegen – in der Bibel nicht, man denke an Sara und Mirjam, Debora und Ester, Maria und Elisabeth, an die Syrophönizierin und viele andere -, und sie schweigen auch heute nicht. Wer mundtot gemacht werden soll, darf nicht schweigen und wenn er oder sie nicht reden kann, bedarf es (abermals mit Spr 31,8f) derer, die für sie – und mit ihnen – den Mund aufmachen.

Das Schweigen des Lammes

»Er aber schwieg und antwortete nichts.« (Mk 14,61)

»Und er öffnete seinen Mund nicht«, heißt es zweimal in Jes 53,7 vom misshandelten »Gottesknecht«. Dazwischen steht der Vergleich: »wie das Lamm, das zur Schlachtung geführt wird, und wie ein Schaf, das verstummt vor seinen Scherern«. In der Tat gibt ein Lamm beim Scheren gleichsam schicksalsergeben kei­nen Ton von sich. Dieses Bild scheint in den Passionsgeschichten der Evangelien wieder auf, wenn sie von Jesu Schweigen im Verhör erzählen. Bei Matthäus er­scheint das Motiv zweimal; nach Mt 26,63 »schwieg« Jesus beim Hohenpriester, nach 27,12.14 »antwortete« er dem Pilatus »nichts«. Ähnlich bei Markus: Beim Hohenpriester »schwieg« Jesus »und antwortete nichts« (Mk 14,61), und auch bei Pilatus »antwortete er gar nichts mehr« (15,5). In Joh 19,9 gibt er Pilatus »keine Antwort«. Lukas verbindet das Schweigemotiv dagegen mit dem Verhör durch Jesu Landesherrn Herodes Antipas: Der »befragte ihn ausführlich, er aber antwortete nicht« (Lk 23,9). Die Evangelien konturieren das Schweigemotiv durch­aus unterschiedlich.[14] Vor allem Markus und Matthäus setzen den Schweigenden ins Licht des leidenden Gerechten, wie er vielfach in den Psalmen[15], aber auch in Jes 53 gezeichnet ist. Die johanneische Pilatusszene im Ganzen zeigt geradezu ei­nen Rollentausch: Der Angeklagte wird zum Richter, indem er dem Machthaber die Souveränität bestreitet und ihm Schuld zuweist (Joh 19,11).

Literarisch theologisch zeichnen die Passionsgeschichten in ihren alttestamentlichen Grundierungen den ohnmächtig Leidenden, der nur schweigen kann, sowie auch den, der machtvoll schweigen will, indem er sich dem Urteil irdischer Machthaber nicht unterwirft, sondern den Willen Gottes tut. Er gibt sein Leben hin und damit Israels Gott, wie Er (oder/und Sie) in der »Schrift« bezeugt ist, al­lein Recht.

Schweigen gegen…

»Deine Zunge werde ich an deinen Gaumen kleben, du wirst sprachlos sein. Du wirst sie nicht weiter warnen, denn sie sind ein verschlossenes Haus.« (Ez 3,26)

Denkt man an alttestamentliche Propheten, so denkt man vor allem an ihre Worte. Zuweilen tritt in den Hintergrund, dass Propheten nicht nur durch Wor­te wirken, sondern auch durch die Gestaltung ihrer Botschaft in symbolischen Handlungen und in Körperinszenierungen. Das zeigt sich besonders bei Ezechi­el.[16] Dieser Prophet befindet sich in Babylonien im Exil; er gehört zu den Depor­tierten nach einer ersten babylonischen Eroberung Jerusalems im Jahre 597 v. Chr. Die große Deportation ins »Babylonische Exil« wird ein Jahrzehnt später erfolgen. Noch also stehen Jerusalem und der Tempel, und die Hoffnungen der Exilierten richten sich auf eine heilvolle Zukunft. Eben diese Hoffnungen soll Ezechiel auf Gottes Geheiß destruieren.

So soll er die kommende Belagerung Jerusalems auf einer Art Kleinkunst­bühne inszenieren (Ez 4,1-3). Er soll mehr als ein Jahr lang, erst auf der einen und dann auf der anderen Seite gefesselt da liegen, um die Schuld des Volkes zu demonstrieren (4,4-8). Lange soll er von armseligster Speise leben, um die Hun­gernahrung in einer belagerten und von jeder Versorgung abgeschnittenen Stadt abzubilden (4,9-17). In einer weiteren Inszenierung soll er die kommende Kata Strophe darstellen, indem er sich Kopf- und Barthaare abrasiert, um damit das Kahlrasieren des Landes durch die babylonischen Truppen zu demonstrieren. Er soll dabei einen Teil der Haare verbrennen und einen anderen mit dem Schwert zerhacken (5,1-4). Noch der Tod seiner Frau wird zu einer szenischen Aktion, in­dem ihm über das Schweigen und bewegungslose Stöhnen hinaus keine Trauer­riten erlaubt sind (24,16-18).

Mehrfach gehört zu diesen nonverbalen Aktionen ein ebenso gelähmtes wie lähmendes Schweigen. Statt Hoffnung zu machen verweigert Ezechiel im Reden und im sprechenden Schweigen – in dem, was er darstellt, und in dem, was sich an ihm darstellt – jede falsche Vertröstung. Doch in dem Moment, in dem am Exilsort die Botschaft aus Jerusalem ankommt: »Geschlagen ist die Stadt!« (Ez 33,21), wird Ezechiels Zunge gelöst und er kann wieder reden. Gegen falsche Hoffnungen hatte er geschwiegen, gegen nun ausbrechende Verzweiflung spricht er, und seine Worte lassen leise Hoffnung anklingen.

Abermals mit Koh 3,7: »Es gibt eine Zeit zu schweigen und eine Zeit zu reden.« Und wieder: Was ist wann an der Zeit? Eine Antwort gibt das Ezechielbuch: An der Zeit ist zuweilen das Unzeitgemäße, das, was den Erwartungen der Vielen ge­rade nicht folgt. Bei Worten und nicht zuletzt bei biblischen und theologischen Worten sollten wir stets fragen, wer sie sagt, wem und in welcher Lage sie gesagt, aber auch, wogegen sie gesagt sind. All das gilt auch für das Schweigen. Manch­mal ist es darum zu tun, gegen das Schweigen und das Verschweigen zu reden, aber manchmal hat gegen die vielen Worte und Parolen das Schweigen seine Zeit.

Quelle: Concilium 51, Heft 4, 2015, S. 601-609.


[1] Zum Schweigen im AT nebst einem Blick auf außerisraelitische Traditionen Werner Urbanz, Art. »Schweigen (AT)« in: Wissenschaftliches Bibellexikon im Internet (WiBi-Lex [August 2012]), sowie Pedro Barrado, El silencio en el Antiguo Testamento. Aproxima­ción a un símbolo ambiguo, in: Estudios Biblicos 55 (1997), 5-27.

[2] Dazu Jürgen Ebach, Beredtes Schweigen. Exegetisch-literarische Beobachtungen zu einer Kommunikationsform in biblischen Texten, Gütersloh 2014.

[3] Zu einer Form des Schweigens als Textsignal, nämlich zu literarischen »Leerstellen« vgl. Ebach, Schweigen, bes. »Eine Redeeinleitung ohne folgende Rede – Gen 4,8«, ebd. 23-25, und »Hagar schwieg – Gen 16«, ebd. 45-50.

[4] Es sind Hamlets letzte Worte in Shakespeares Tragödie (Hamlet, V, 2).

[5] Weiter dazu Jürgen Ebach, »Compassion«?! Ein beziehungsreiches Wort im Kontext bibli­scher Erinnerungen und Impressionen, in: Wege zum Menschen 65 (2013), 108-126.

[6] Übersetzungsbeispiele, Hinweise auf weitere Literatur sowie eine Interpretation der Stelle bei Winfried Thiel, Könige (1Kön 19,1-20,40) (BK IX/2,4), Neukirchen-Vluyn 2009, bes. 267-272.

[7] Susanne Gillmayr-Bucher, Wenn die Dichter verstummen. Das Schweigen in den Psal­men, in: Theologie und Glaube 93 (2003), 316-332; Hermann Spieckermann, Schweigen und Beten. Von stillem Lobgesang und zerbrechender Rede im Psalter, in: Frank-Lothar Hossfeld – Ludger Schwienhorst-Schönberger (Hg.), Das Manna fällt auch heute noch. Beiträge zur Geschichte und Theologie des Alten, Ersten Testaments, FS Erich Zenger (HBS 44), Freiburg u. a. 2004, 567-584.

[8] Walter Dietrich, Vom Schweigen Gottes im Alten Testament, in: Markus Witte (Hg.), Gott und Mensch im Dialog, FS Otto Kaiser (BZAW 345 Bd. 2), Berlin/New York 2004,997­1014; zum Thema im religionsgeschichtlichen Vergleich vgl. Marjo Christina Annette Korpel – Johannes C. de Moor, The Silent God, Leiden 2011.

[9] Mehr dazu am Beispiel von Ps 39 bei Ebach, Schweigen, 81-91.

[10] Zur Klage gegen die vom Verschweigen zugedeckte Gewalt vgl. Ulrike Bail, Gegen das Schweigen klagen. Eine intertextuelle Studie zu den Klagepsalmen Ps 6 und Ps 55 und der Erzählung von der Vergewaltigung Tamars, Gütersloh 1998.

[11] Dazu Magdalene L. Frettlöh, Das Nicht-Beten-Können ins Gebet nehmen. Biblisch- und systematisch-theo­logische Beobachtungen und Reflexionen im Gespräch mit Psalm 77, in: Marco Hofheinz u. a. (Hg.), Verbindlich werden. Reformierte Existenz in ökumenischer Begegnung, FS Michael Weinrich (Forschungen zur reformierten Theologie 4), Neukir­chen-Vluyn 2015,49-65, aber auch Rudolf Mosis, Reden und Schweigen – Psalm 77 und das Geschäft der Theologie, in: Trierer Theologische Zeitschrift 108 (1999), 85-107. (Ich bedauere und korrigiere hiermit den Fehler, dass für diesen Aufsatz in meinem Buch Beredtes Schweigen versehentlich Thomas Hieke als Verfasser aufgeführt ist.)

[12] Vgl. Rüdiger Lux, »Man lobt dich in der Stille« Ps 65,2. Ein biblisches Essay über Gott und das Schweigen in den Psalmen, in: leqach 9 (2009), 7-19.

[13] Vgl. Ilse Müllner, Gewalt im Hause Davids. Die Erzählung von Tamar und Amnon (2 Sam 13,1-22) (HBS 13), Freiburg u. a. 1997, sowie Bail, Schweigen.

[14] Dazu Marlis Gielen, Die Passionserzählung in den vier Evangelien. Literarische Gestal­tung – theologische Schwerpunkte, Stuttgart 2008, hier bes. 119-144 u. 148-181, sowie Michael Theobald, »[…] er aber schwieg« (Mk 14,61; vgl. 15,5). Die Frage nach der Verant­wortlichkeit Jesu im Pilatus-Prozess, in: Ulrich Busse u. a. (Hg.), Erinnerung an Jesus. Kontinuität und Diskontinuität in der neutestamentlichen Überlieferung, FS Rudolf Hoppe (BBB 166), Göttingen 2011, 233-265.

[15] Es sind v. a. Worte aus den Psalmen 27; 32; 35; 37; 38; 39, dazu Theobald, Frage, 239 Anm. 18.19.20.

[16] Zu Texten und Situation Bernhard Lang, Kein Aufstand in Jerusalem. Die Politik des Propheten Ezechiel (SBB), Stuttgart 1978; Ruth Poser, Das Ezechielbuch als Trauma-Litera­tur (VTS 154), Leiden/Boston 2012, sowie Jürgen Ebach, Ezechiel isst ein Buch – Ezechiel ist ein Buch, in: ders., »Iss dieses Buch!« Theologische Reden 8, Wittingen 2008,11-24, sowie ders., Schweigen, 108-116.

Hier der Text als pdf.

Hinterlasse einen Kommentar