Roger Mehl über die Vaterlandsliebe (1962): „Man kann von einer Pathologie der Vaterlandsliebe sprechen. Die Verabsolutierung ihres Gegenstandes liegt in der Natur jeder Liebesleidenschaft: alle guten Eigenschaften werden auf ihn übertragen, alle übrigen Gegenstände verachtet oder gehaßt. So hat die Vaterlandsliebe bei den einzelnen Nationen zu Argwohn und Empfindlichkeit geführt, zum Machtwillen, zu Verachtung oder Hass dem Ausland gegenüber, zur Bildung eines Mythenkranzes, der die inter­nationalen Beziehungen vergiftet.“

Vaterlandsliebe

Von Roger Mehl

Vaterlandsliebe ist ein spontanes und tiefes Gefühl, das einerseits zu aufopferndem, ja heldischem Handeln anspornen kann, sich aber andererseits nur wenig über das Wesen seines Gegenstandes und seine Berechtigungsgründe Rechenschaft gibt. Deshalb erscheint Vaterlandsliebe so oft als heftige Leidenschaft. Sie steht zweifellos dem Gefühl der Liebe und Blutsverbundenheit zu Vätern und Brüdern nahe. Aber das Objekt der Vaterlandsliebe variierte in der Geschichte. Zunächst Familienliebe, die sich auf das Land als väterliches Erbe richtet, wurde sie zur Liebe der »civitas«, d. h. einer abstrakten Größe, die sich nicht mehr in gleicherweise »besitzen« läßt. Civitas meint zunächst Rechtsordnung, eine Form des Zusammenlebens, dann ein Kulturerbe und schließlich ein Zukunftsbild von Herrschaft und Größe. Sobald es der röm. civitas gelang, ihre Eroberungen auf die ganze Welt auszudehnen, durchbrach auch die Vaterlandsliebe die Grenzen der civitas und richtete sich auf jene noch abstraktere Größe, das Reich. Auch die Christen, die anfangs einen ausgeprägten Sinn für die Vorläufigkeit der civitas terrena besaßen, bekundeten seit dem 4. Jh. eine solche Liebe zum Reich, seiner Ordnung und Kultur, daß der Zusammenbruch Roms für sie wirklich eine Katastrophe war. So wird der Staat nach und nach ins Objekt der Vaterlandsliebe aufgenommen. Grundsätzlich richtet sich das Gefühl auf Werte und findet in diesen seine Rechtfertigung. Dabei besteht freilich die Gefahr, daß diese einen religiösen Anstrich erhalten und das Reich zur »geheiligten« Sache wird. Der Kaiserkult hatte bereits in diese Richtung gewiesen; der Ersatz des heidnischen Imperiums durch ein christliches Reich, die »Christenheit«, mußte erst recht zur Verklärung des Gegenstandes der Vaterlandsliebe mit religiösem Glanz führen. Das Reich mußte »heilig« werden, die Liebe zum Reich mit der Treue gegen Gott verschmelzen. Außerhalb der Grenzen des Reiches mit seinen zwei geweihten Häuptern, Papst und Kaiser, konnte es nur noch Feinde Gottes geben. Diese Liebe zum christlich-kaiserlichen Vaterland äußerte sich im sinnlosen und grausamen Unternehmen der Kreuzzüge.

Die Entstehung der modernen Nationalstaaten führte zum Zerbrechen der seit dem 12. Jh. tief eingewurzelten Einheit des christlichen Westens. Die alte Vaterlandsliebe verlor ihre universalistischen Dimensionen. Von nun an gab es Franzosen, Deutsche, Italiener usw., und Vaterlandsliebe wurde wieder zur Anhänglichkeit an das Geburtsland. Andererseits weitete sich die Vaterlandsliebe mit der Entstehung moderner monarchischer Nationen auf eine ganze Nation aus. Bis heute richtet sich die Vaterlandsliebe ausschließlich auf die Nation, d. h. auf einen Boden (seine Schätze, seine Landschaften), eine Sprache, bisweilen ein Glaubensbekenntnis, eine Geschichte (die die Vaterlandsliebe oft in mythisch verklärter Einheitlichkeit und Großartigkeit sieht), ein gemeinsames Schicksal, eine solidarisch zu gestaltende Zukunft. In einem Universum, das sich in beängstigendem Maße ausdehnt, scheint der Mensch das Bedürfnis zu haben, sich lieber an ein Teilstück von Geschichte und Raum zu hängen, das er überschauen und als sein eigen betrachten kann. Heute kann man weder die künftige Entwicklung der Vaterlandsliebe voraussehen noch damit rechnen, daß sie sich auf ein endgültiges Objekt festgelegt hätte. Schon jetzt entwickelt sich etwa ein arabischer Patriotismus, der an nationalstaatlichen Grenzen nicht haltmacht, und das panafrikanische Solidaritätsbewußtsein könnte leicht zu einem regelrechten afrikanischen Patriotismus anwachsen. Selbst Europa als »Vaterland« ist kein unmöglicher Gedanke mehr.

Man kann von einer Pathologie der Vaterlandsliebe sprechen. Die Verabsolutierung ihres Gegenstandes liegt in der Natur jeder Liebesleidenschaft: alle guten Eigenschaften werden auf ihn übertragen, alle übrigen Gegenstände verachtet oder gehaßt. So hat die Vaterlandsliebe bei den einzelnen Nationen zu Argwohn und Empfindlichkeit geführt, zum Machtwillen, zu Verachtung oder Haß dem Ausland gegenüber, zur Bildung eines Mythenkranzes, der die inter­nationalen Beziehungen vergiftet: die eine Nation gilt als »Erbfeind«, eine andere als »perfide« usw. In ihrer pathologischen Ausprägung ist die Vaterlandsliebe für Nationalismus und Volksvergötterung verantwortlich. Je uneingeschränkter die Nation als religiöse Größe gilt, um so mehr wird »Vaterland« zum hl. Wort und erhält eine besondere Rolle in der Erfüllung des göttlichen Planes zugewiesen. Sehr rasch nimmt übrigens diese Vaterlandsreligion heidnische Elemente in sich auf. Extremer Ausdruck dieser krankhaften Entwicklung ist der »Blut-und-Boden«-Kult des Nationalsozialismus.

Die Gefahren der Vaterlandsliebe bleiben nicht immer unbewußt. Bes. wenn sich die nationalen Grenzen verhärten, kommt es zu Gegenströmungen. Als sich das röm. Reich zur geschlossenen Gesellschaft entwickelte, erklärte sich der Stoiker zum Weltbürger und predigte das Christentum die Liebe zu allen Kreaturen, und mitten im Aufbruch der modernen Nationalstaaten schrieb Erasmus: »Einst trennte der Rhein den Franzosen vom Deutschen, aber der Rhein kann nicht den Christen vom Christen trennen.« Gerade das 18. und 19. Jh., als die alten Nationen sich konsolidierten und neue entstanden, erlebte den Kosmopolitismus der geistigen Eliten und die tiefergehende Erscheinung des sozialistischen Internationalismus. Alle diese Bewegungen, die man das schlechte Gewissen des Patriotismus nennen kann, mahnen dazu, das Vaterland nicht zu verabsolutieren.

Trotz dieser Pathologie hat die Vaterlandsliebe eine positive, ja theologische Bedeutung. Das Vaterland gibt der Nächstenliebe Gelegenheit, sich konkret als Dienst zu betätigen. Für den Menschen in seiner Begrenzung ist der Nächste derjenige, der ihm in Zeit und Raum nahesteht. Dies gilt in ethischer wie in kultureller Beziehung: so wenig ich allen Menschen dienen kann, so wenig kann ich alle Kulturtraditionen in mir tragen. Wenn nach dem Zeugnis der Hl. Schrift die Nationen (bei aller soziologischen Relativität des Begriffes) in Gottes Augen einen Sinn haben und demnach trotz ihres provisorischen Charakters Geschenk der göttlichen Gna­de sind, dann deshalb, weil sie uns die Möglichkeit (freilich nur die Möglichkeit!) bieten, brüderliche Gemeinschaften zu bauen, die Last einer Geschichte gemeinsam zu tragen, in Not und Unglück Solidarität zu üben und gemeinsam eine Zukunft zu planen, für die man kein Opfer scheut – langfristige Investitionen sind oft das deutlichste Zeichen echter Vaterlandsliebe. Auch durch die Liebe des Kindes geht die Vaterlandsliebe hindurch und läßt damit eine tiefe Gemeinsamkeit zwischen Familie und Vaterland entstehen. Zugleich darf freilich die Relativität des Vaterlandes nicht übersehen werden: auch der Ausländer kann jeden Augenblick mein Nächster werden, den ich wie meinen Mitbürger zu lieben habe. Ich kann die Verpflichtung fühlen, meinem Vaterland für immer den Rücken zu kehren. Mein eigentliches Vaterland, das ich lieben muß, ist stets dort, wo ich meinen Mitmenschen einen Dienst zu leisten habe. Deshalb ist auch das Los der Vertriebenen trotz seiner Härte kein Anlaß zur Verzweiflung: sie können ein neues Vaterland finden, wenn ihnen Gelegenheit gegeben wird, durch ihre Arbeit dem Nächsten zu dienen. Vaterlandsliebe ist im letzten Grunde aktives Zeugnis der Dankbarkeit gegen Gott für die Gabe des Dienendürfens und dient der Erfüllung der Aufgabe am Nächsten.

Lit.: E. HIRSCH, Die Liebe zum Vaterland, 1924 – H. BERGSON, Les deux sources de la morale et de la religion, Paris 1932 – J. LACROIX, Force et faiblesse de la famille, ebd. 1948, Kap. 5 – BARTH, KD III/4 – W. KÜNNETH, Politik zwischen Dämon u. Gott, 1954 – G. GLOEGE, Elite, 1958, 7 ff.

RGG3, Bd. 6 (1962), Sp. 1230-1232.

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