Ein Exilprophet, Ezechiel
Von Margarete Susman
Der Tempel ist zerstört, das Land innerlich zerfallen, äußerlich verwüstet, das Volk hinweggetrieben, es hat weder Kultstätte, noch Staat, noch Heimat mehr, was tut nun der Prophet mit dem verstörten Volke?
Er klagt nicht mit ihm um das Verlorene. Aber er versucht zunächst auch keineswegs, es aufzurichten. Er führt es im Gegenteil, indem er ihm seine eigene Schuld an dem Geschehen einhämmert, erst in die ganze Tiefe seines Unglücks hinein. Tiefer, immer tiefer stößt er es hinab in die Nacht seiner Verlorenheit, um so hindurchzustoßen in den Sinn seines Schicksals. Denn ihm ist gewiß: durch das Schicksal des Exils selbst will Gott sein Volk an sich reißen, zu sich emporreißen. Und doch erscheint dies im höchsten Grad widersinnig. Denn im Exil, in der Zerstreuung unter die anderen Völker mit ihren leichteren, bunteren, lockenderen Diensten wächst die Gefahr, von ihnen hingenommen zu werden, unermeßlich an. An diesem Punkt äußerster Gefährdung setzt der Prophet ein. Der Baum des Volkes ist aus dem heimatlichen Erdreich ausgerissen, er wächst und wurzelt nicht mehr. Da wird Ezechiel gewiß: die Wurzelung war verfehlt. Und nun geschieht das Ungeheure: der Prophet ergreift mit gewaltiger Hand den im Leeren hängenden Baum, reißt ihn vollends heraus aus dem alten Erdreich, reißt auch noch die letzten Wurzelfasern, die sehnsüchtig im Heimatboden hängen, aus, reißt ihn herum in die entgegengesetzte Richtung und pflanzt ihn in einer ungeheuren Umkehrung gegen alles natürliche Wachstum, die Wurzeln nach oben, wieder ein.
Diese Umwurzelung, die Einwurzelung in Gott ist von je der innerste Sinn Israels.
Quelle: Margarete Susman, Deutung biblischer Gestalten, Konstanz-Stuttgart: Diana, 1960, S. 61f.