Margarete Susman, Das Gesetz (1950): „Dennoch ist Einer gekommen / Durch die verschlossenen Tore, / Aber er sprengte sie nicht. / Ruhig trat er, ein Licht, / Durch die geschlossenen Fenster / Und verwandelte alles. / Aber er ließ es bestehn. / Aufzulösen war nimmer / ein Werk; sein Werk war Erfüllung.“

Das Gesetz

Im steinernen Haus des Gesetzes
Ist feste, doch düstere Heimat.
Gleichnislose Gewalttat
Göttlichen Geistes – so reckt es
Grau aus der Tiefe des Grundes
Die übermächtigen Pfeiler
Bis zu der Decke Gewölb.
Bilder sind fern und verboten,
Türen sind nicht, der Ausgang
Ist versteint und vermauert.

Dennoch ist Einer gekommen
Durch die verschlossenen Tore,
Aber er sprengte sie nicht.
Ruhig trat er, ein Licht,
Durch die geschlossenen Fenster
Und verwandelte alles.
Aber er ließ es bestehn.
Aufzulösen war nimmer
Sein Werk; sein Werk war Erfüllung.

Alles blieb stehn und ward anders,
Alles vom Lichte erlöst
Zeigte sich erst, und der Säulen
Und Pfeiler ragende Strenge
War von lebendigem Wachstum
Blumen- und rankenumschossen,
Bild und Sinnbild erstrahlten
Und in des Steines Urgrau
Das rote Geäder der Liebe.

Ja, das Haus blieb bestehen.
Aber das Licht ward zur Flamme:
Lodernd mit stummer Gewalt
Nahm es in seine Umarmung
Die versteinerte Welt.

Nicht daß der Tempel verbrannte!
Nein, er steht in der Flamme:
Klares asbestnes Gerüst —
Selber ein flammendes Bild.

Margarete Susman

Quelle: Neue Wege. Beiträge zu Religion und Sozialismus, Band 44 (1950), Heft 2, S. 49.

Hier der Text als pdf.

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