Rudolph Penzig, Wer ist das: „der liebe Gott“? Ernste Antworten auf Kinderfragen (1898): „Viele, sehr viele, ja fast die meisten Menschen glauben, dass ein gütiges, großes, allmächtiges Wesen die ganze Erde und alles, was du siehst, geschaffen hat; es war da, ehe die Welt war und alles, was existiert, lebt durch seinen Willen. Gott sieht auch heute, so glauben diese Menschen, alles, was da geschieht; ohne seinen Willen könntest du nicht atmen, nicht springen, nicht spielen; sie wissen von ihm viel zu erzählen, wie gütig er ist, mit welcher Liebe er alle Menschen, auch dich, umfasst.“

Wer ist das: „der liebe Gott“?

Von Rudolph Penzig

Das sollen elterliche Antworten auf Kinderfragen sein, die der Freidenker Rudolph Penzig (1855-1931) 1898 in seinem Buch Ernste Antworten auf Kinderfragen. Ausgewählte Kapitel aus einer praktischen Pädagogik fürs Haus vorgestellt hatte. Hier ein Auszug aus dem achten Kapitel: Das Kind und die Gottheit:

Da ist sie, auf den Lippen deines Kindes, die ungeheure Frage, die tiefste, die sich Menschenwitz bis jetzt hat ausdenken können, die Frage, auf die jahrtausendelang Millionen über Millionen Menschen am Fuße des Himalaya, im Nildelta, im afrikanischen Urwalddickicht, in den Säulenhallen griechischer und römischer Tempel, in den Wäldern Germaniens, am nord­lichtbestrahlten Strande Skandinaviens — keine Antwort ge­funden haben. Oder doch — haben sie nicht Antwort ge­geben? Haben sie nicht den lichten Himmel, die strahlende Sonne, die geheimnisvoll auftauchende und verschwindende Morgenröte, den Mond, die Gestirne, den brausenden Sturm, den Urheber des majestätischen Blitzgewitters, das sanfte Säuseln des befruchtenden Frühlingswindes, das über allem Lebenden ewig schwebende Schicksal, die segnende Macht des guten Geistes, die zerstörende des bösen Geistes, das Unendliche — von jeher mit dem Namen „Gott“ geschmückt? Wissen die Millionen, die heute noch allmorgendlich beten: „Vater unser, der du bist im Himmel“, so gut wie ihre arischen Vorfahren vor zehn Jahrtausenden im Gangesthal ihren Dyaus-pitar an­riefen, wissen sie wirklich keine Antwort zu geben aus diese ein­fache Frage?!

O ja, sie wissen es, sie glauben es wenigstens zu wissen, wenn auch die Ernstesten unter ihnen seufzen mögen: ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben! Sie leben der tröstlichen Zuversicht, daß ein allmächtiger, gütiger persönlicher Wille über ihnen waltet, von dem sie ausgegangen, zu dem sie hingehören; sie erkennen im Endlichen nur die Brücke zum Unendlichen; sie nennen ihn Vater, und ihr bestes Wollen, das Edelste in ihrem ganzen Sein und Wesen, drängt sich nach Vereinigung mit ihm, nach Abstreifung all des Endlichen, Sündhaften, Störenden in ihrer zeitlichen Erscheinung. Sie wissen es, daß auch der höchste Name, den Menschenzunge ihm erteilen kann, nur ein unbeholfenes Stammeln bleibt, daß sein eigentliches Wesen hier stets unbegreiflich, unerforscht bleiben muß: „Wer darf ihn nennen, und wer bekennen: ich glaub‘ ihn?“ Aber doch nahen sie sich ihm mit ihren Lippen und mit ihren Herzen — es macht nichts, daß ihre Zungen stammeln, daß ihr endlicher Geist das Unendliche nur verworren, nur stückweise zu erfassen vermag: Gott wird sie schon verstehen. Wo ist der Vater, der nicht für die stammelnden Laute seines Kindes, mit denen es unvollkommen und oft falsch, den Vater herbeizurufen ver­sucht, ein gütiges Lächeln, ein nachsichtiges Verstehen übrig hätte? Und wenn sie nun ihren Kindern in derselben un­beholfenen Sprache das Geheimnis ihrer Beseligung mitteilen, wenn sie den aufhorchenden Kleinen erzählen von dem allliebenden Vater, der Sonne, Mond, Sterne und die ganze Welt erschaffen, aus dessen Geheiß die Ströme rauschen, die Winde blasen, die Gestirne sich drehen, der Tier- und Pflanzenwelt erschaffen hat und noch erhält, ohne dessen Wissen kein Haar von ihrem Haupte fällt — wollen wir es wagen, können wir sie der Un­wahrheit zeihen?

Das Daseinsrätsel steht vor uns ebenso dunkel, unergründet und antwortslos, wie vor ihnen; wir wissen es nicht, von wannen die Welt kommt und wohin sie fährt; es ist uns un­bekannt, ob ein in seinem Dasein unbedingter Demiurg oder Weltenwerkmeister einem ebenso unbegreiflich vorhandenen Chaos von Stoffen und Kräften einen ersten Anstoß erteilte, ob ein Allseiendes sich zu einem Unendlichwerdenden differenzierte, ob ein Schöpferwille aus Nichts ein All ins Leben rief, ob eine bewußte oder unbewußte Vernunft in erfreulichem oder be­klagenswertem Werdegang sich selbst wiederzufinden strebt — und doch sollen und wollen wir auf die Frage unseres Kindes eine Antwort geben. Werft mir keinen Stein auf die „Gläubigen“, die ihren Kindern das furchtbare Rätselwort mit anmutiger Hülle umkleiden, die ihnen einen persönlichen Gott, den greisen, gütigen, allmächtigen Vater über den Wolken, über dem Himmel, über all unserer Sinnenwelt zu zeigen suchen, die ihn im Gebet, in dem freundlichen Hauskleide eines Gottmenschen zu uns hernieder zu ziehen streben, die den Menschen vergotten, um Gott ganz in ihr Menschentum aufzunehmen — ihr Gott ist liebenswürdig, er ist wirklich: der liebe Gott.“ Sie wissen von ihm zu erzählen — um so besser für sie; ob auch für ihre Kinder so besser — wer mag es entscheiden?! Eins nur ist zu sagen und festzuhalten: das Gottesbild, wie es unsere heutigen Väter und Mütter ihren Kindern einzuprägen suchen, es ist nicht ein Phantasiebild der kurzlebigen Weisheit einer oder zweier Gene­rationen, sondern es ist das Resultat einer vieltausendjährigen Entwickelung der Menschheit, das beste, was der Menschengeist bis jetzt zu bieten hat — daß es noch unvollkommen, wissen die Gläubigen am besten!

Zu diesen Gläubigen zähle ich mich mit, obwohl oder weil ich den Gottesnamen, sagen wir immerhin „aus religiöser Scheu“, oder aus „Frömmigkeit“ so wenig unnützlich brauchen möchte, daß ich dazu gekommen bin, ihn lieber garnicht mehr anzuwenden. „Abusus non tollit usum“ — der Mißbrauch darf den richtigen Gebrauch nicht aufheben — sagen Sie; Sie haben Recht. Aber wenn man zu der Erkenntnis gelangt ist, daß sich der endliche Geist, der das Unendliche zu umfassen strebt, notwendig an seinen Schranken wundstoßen muß, daß jeder Versuch, das Unbegreifliche zu begreifen, in Träumereien und Delirien hineingeführt hat und hineinführen mußte, dann versteht man, daß es auch einen frommen Atheismus giebt, einen Atheismus, wie ihn die Buddhisten seit Jahr­hunderten predigen, natürlich in dem Gewände ihrer Nationalität, ihrer örtlichen und zeitlichen Eigenheiten, ein von Gott-los-sein, das sich nicht viel von dem mystischen Rein-in-Gott-Sein unterscheidet.

Aber der Atheist kann doch auf die Frage: Wer ist das, der liebe Gott? keine Antwort geben?!

Gewiß kann er nicht mit der satten Herzensruhe des Gläu­bigen, der von dem spricht, was er geschaut hat, was er erlebt zu haben sicher ist, dem fragenden Kinde eine Antwort geben, die unter allen Umständen über das, was wir wirklich wissen, hinausschießt. Er schaut nicht in halbbewußten Augenblicken der Extase das gütige Greisenantlitz hinter dem Wolkenschleier; er hat nicht gefühlt, wie in ernsten Lebensführungen Gottes Finger an sein Herz gepocht hat; er erkennt in dem liebevollen Jesus der Kunst und Geschichte nicht den Gottmenschen; er fühlt sich in Augenblicken der Reue, der Ohnmacht, der Un­zufriedenheit mit sich selbst nicht einer überweltlichen Macht gegenüber schuldig; es genügt ihm, daß sein eigenes Besser­wissen über das, was er soll, sein Gewissen, ihn verurteilt; er hofft nicht von einem Mysterium, sondern von der eigenen ver­nünftigen Kraft Erlösung, Erlösung nicht in dem Taumel eines ekstatischen Moments, sondern von der geschichtlichen Entwickelung der Menschenwelt — er kann also den Gott, den die Gläubigen ihren Kindern bieten, seinem Kinde wirklich nicht vorstellen. Aber eines kann er. Er kann den geschichtlichen Gott, den Gott, wie er in Jahrtausenden in den Gemütern der Mensch­heit geworden ist, er kann den geläuterten Gottesbegriff seinen Kindern mitteilen, rein historisch, erzählend — und er kann es ruhig ihnen überlassen, ob sie diesen Gottesbegriff in ihr innerstes Leben und Denken aufnehmen wollen. Es bedarf auch hier keines anderen Mittels, als der lauteren und reinen Wahrheit, um das Kinderherz zu befriedigen.

„Wer ist das, der liebe Gott?“

„Mein liebes Kind, du hast gewiß schon von anderen diesen Namen gehört, wenn nicht anders, bringt dir dein erstes Lesebuch gewiß den Namen Gottes vor Augen. Viele, sehr viele, ja fast die meisten Menschen glauben, daß ein gütiges, großes, allmächtiges Wesen die ganze Erde und alles, was du siehst, geschaffen hat; es war da, ehe die Welt war und alles, was existiert, lebt durch seinen Willen. Gott sieht auch heute, so glauben diese Menschen, alles, was da geschieht; ohne seinen Willen könntest du nicht atmen, nicht springen, nicht spielen; sie wissen von ihm viel zu erzählen, wie gütig er ist, mit welcher Liebe er alle Menschen, auch dich, umfaßt. Man glaubte ihn erst zu erkennen in der Sonne, die täglich Wärme und Leben spendet allem, was da existiert, die mit ihrem Hellen Auge in die dunkelsten Verstecke der Erde scheint; man hat ihn noch in vielen anderen Naturdingen gesucht; endlich hat man zu er­kennen geglaubt, daß Gott überhaupt nicht sichtbar, nicht be­greifbar, daß er ein reiner Geist über allem Irdischen schwebt. So kann man von Gott natürlich nichts wissen, ebendarum aber glauben gerade viele Menschen an ihn, daß er da sei und sie behüte. Andere freilich wieder glauben, daß die Erde und alles, was uns umgiebt, nicht von irgend jemand, und sei er auch noch so allmächtig, wie Gott vorgestellt wird, gemacht ist. Sie glauben, daß alles von jeher so dagewesen ist, wie wir es heute sehen, wenn wir auch nicht da waren, wenn auch die Form der Dinge vielfach gewechselt hat. Nicht immer gab es eine Erde, Sonne, Mond und Sterne, aber immer gab es das, woraus Erde, Sonne, Mond und Sterne im Laufe der jahr­tausendelangen Entwickelung geworden sind. Diese ewige Kraft­masse, so meinen sie, habe sich natürlich und vermöge ihrer inneren Bewegung zu alle dem entwickelt, was wir jetzt die Welt nennen, ganz so wie aus einem Samenkorn vermöge seiner Natur ein starker mächtiger Baum mit Tausenden von Blättern, Blüten und Früchten werde. Auch dabei, bei der Entwickelung des kleinen Körnchens zum kräftigen Stamme mit schattender Laubkrone hat man früher geglaubt, ein Gott habe geholfen, eine Baumfee sei eingeschlossen im Keime und wachse allmählich heran — oder Engel behüteten und pflegten das Keimchen, damit es groß werde. Das glaubt man jetzt nicht mehr, obwohl man immer noch nicht weiß, wie es das zarte Keimspitzchen anfängt, eine so mächtige Pflanze zu werden. Aber darauf kommt es auch ganz und gar nicht an, wie wir uns vorstellen oder begreiflich zu machen suchen, wie alles ent­standen sei, solange wir noch nichts darüber wissen. Solange es überhaupt Menschen giebt, haben sie darüber gegrübelt und nachgedacht und immer haben sie das, wovon sie nichts wußten, lieber geglaubt, als daß sie garnichts davon hätten aussagen wollen. Das ist ein schöner, herzlicher und freundlicher Zug in allen Menschen; darum ist auch einem jeden sein Glauben heilig und es schmerzt ihn, wenn andere ihn durch Nichtglauben, oder gar durch Verspottung und Mißachtung kränken. Die Menschen wollen alle heimisch werden in der Welt, sich dort ganz zu Haus fühlen; nun sehen sie so vieles, was sie nicht begreifen können, was sie auch mit ihren armen Kräften nicht machen können, was sie, wenn es über sie kommt, nicht ver­hindern können. Sie sehen den Wechsel der Jahreszeiten, Auf- und Niedergang der Sonne und Gestirne; rings um sie her sprießt tausendfältiges Leben, von dem sie nicht wissen, von wannen es kommt; sie bemerken das ewige Werden und Ver­gehen; sie hören den Sturmwind rauschen, die Meeresflut branden, den Fluß in ewig erneutem Wechsel unendlich dahin­fließen; ihr Auge schaut und kann kein Ende erschauen; ihr Ohr hört und doch ist nicht alles hörbar, dessen Wirkung sie er­kennen; ihr Finger tastet und kann nirgends in das Innere der Natur dringen — über ihnen das unendliche Luftmeer des Himmels und der unermeßliche Einblick in andere Sonnen­systeme, in ihnen der unersättliche Geist, der alles begreifen, alles verstehen möchte und ein fühlendes Herz, das in Mitfreude und Mitleid alles Existierende zu umfassen sucht — was ist es für ein Wunder, daß ihr Meinen und Fühlen über die Grenze dessen, was sie verstehen und wissen, hinausfliegt, daß sie im Glauben die Wahrheit zu schauen suchen, die für den langsam schreitenden Verstand nur in weitester Ferne winkt. So schaut der Wandrer mit begeistertem Blick längst von weitem die sonnenumglänzten Firnen des Bergriesen; er ist schon dort — im Geiste; er badet die Brust in der reinsten Höhenluft und läßt sein Auge ins Unermeßliche schweifen, lange noch, ehe der müde Fuß die ersten mühseligen Schritte auf dem steinigen Bergpfade stolpert. — Sollte der Menschengeist das nicht dürfen? Will man die Seele an den Schneckengang des Wissens festbannen und ihr verwehren, leichte Schmetterlings­flügel ins Jenseits der Grenze unseres augenblicklichen Wissens zu rühren? Wahrlich nein! Daß der Mensch wissen kann, das bildet den Adel seines heutigen Menschentums; daß er aber auch glauben kann, wo sein Wissen aufhört, das weist ihn hinaus über sein augenblickliches Menschentum in ein höheres Sein, nicht im Sinne der Kirche freilich, aber im Sinne der Entwicklungskraft, die aus der Urzelle ein differenziertes organisches Wesen, aus dem Tier den Menschen werden ließ und die wahrhaftig heute nicht schwächer ist, als vor Millionen von Jahren. Laßt ihn nur glauben, wo er noch nicht wissen kann — aber laßt ihn da nicht mehr glauben, wo das Wissen begann.“

Quelle: Rudolph Penzig, Ernste Antworten auf Kinderfragen. Ausgewählte Kapitel aus einer praktischen Pädagogik fürs Haus, Berlin: Dümmlers Verlagsbuchhandlung, 1898, S. 223-229.

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