Edmund Burkes Rede an die Wähler von Bristol über die Unabhängigkeit eines Volksvertreters (1774): „Wohl wählt ihr allein einen Abgeordneten, aber wenn ihr ihn ge­wählt habt, dann ist er nicht mehr Vertreter von Bristol, sondern ein Mitglied des Parlamentes. Falls der lokale Auftraggeber ein Interesse verfolgen oder sich eine voreilige Meinung gebildet haben sollte, die ganz offensichtlich im Wider­spruch zum wahren Wohl der restlichen Gemeinschaft stehen, dann sollte der Abgeordnete dieses Wahlkreises, so gut wie jeder andere, davon Abstand neh­men, diese Sonderinteressen durchzusetzen.“

Rede an die Wähler von Bristol über die Unabhängigkeit eines Volksvertreters

Von Edmund Burke

Gewiss, meine Herren, es sollte das Glück und der Ruhm eines Volksvertreters sein, in engster Verbindung, völliger Übereinstimmung und rückhaltlosem Ge­dankenaustausch mit seinen Wählern zu leben. Ihre Wünsche sollten für ihn großes Gewicht besitzen, ihre Meinung seine hohe Achtung, ihre Interessen seine unablässige Aufmerksamkeit. Es ist seine Pflicht, seine Ruhe, seine Freu­den und seine Befriedigungen den ihren zu opfern; und vor allem in jedem Fal­le ihre Interessen den seinen vorzuziehen. Doch seine unvoreingenommene Meinung, sein ausgereiftes Urteil, sein erleuchtetes Gewissen sollte er weder euch, noch irgendeinem Menschen oder irgendeiner Gruppe von Menschen aufopfern; denn er leitet sie nicht von eurer Gunst her, noch aus dem Recht oder der Verfassung. Sie sind ein von der Vorsehung anvertrautes Gut, für des­sen Missbrauch er voll verantwortlich ist. Euer Abgeordneter schuldet euch nicht nur seinen ganzen Fleiß, sondern auch einen eigenen Standpunkt; und er verrät euch, anstatt euch zu dienen, wenn er ihn zugunsten eurer Meinung aufopfert. […]

Eine Meinung zu äußern, ist das Recht aller Menschen; diejenige der Wähler ist eine gewichtige und achtenswerte Meinung, die zu hören ein Volksvertre­ter sich stets freuen sollte und die er immer auf das ernsthafteste erwägen müsste. Doch autoritative Instruktionen, erteilte Mandate, die das Parlaments­mitglied blindlings und ausdrücklich befolgen muss, für die es seine Stimme ab­geben und für die es eintreten soll, obgleich diese Instruktionen im Gegensatz zur klarsten Überzeugung seines Urteils und Gewissens stehen mögen, sind Dinge, die den Gesetzen unseres Landes völlig unbekannt sind und die aus ei­nem fundamentalen Missverständnis der gesamten Ordnung und des Inhalts unserer Verfassung entspringen.

Das Parlament ist kein Kongress von Botschaftern im Dienste verschiedener und feindlicher Interessen, die jeder als Vertreter und Befürworter gegen an­dere Vertreter und Befürworter verfechten müsste, sondern das Parlament ist die beratende Versammlung einer Nation, mit einem Interesse, dem des Gan­zen, wo nicht lokale Zwecke, nicht lokale Vorurteile bestimmend sein sollten, sondern das allgemeine Wohl, das aus der allgemeinen Vernunft des Ganzen hervorgeht. Wohl wählt ihr allein einen Abgeordneten, aber wenn ihr ihn ge­wählt habt, dann ist er nicht mehr Vertreter von Bristol, sondern ein Mitglied des Parlamentes. Falls der lokale Auftraggeber ein Interesse verfolgen oder sich eine voreilige Meinung gebildet haben sollte, die ganz offensichtlich im Wider­spruch zum wahren Wohl der restlichen Gemeinschaft stehen, dann sollte der Abgeordnete dieses Wahlkreises, so gut wie jeder andere, davon Abstand neh­men, diese Sonderinteressen durchzusetzen.

Gehalten am 3. November 1774 (Übersetzung durch Otto Heinrich von der Gablentz).

Quelle: Wilfried Röhrich, Die repräsentative Demokratie, Ideen und Interessen, Opladen: Westdeutscher Verlag, 1981, S. 154f.

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