Oscar Cullmann, Eschatologie und Mission im Neuen Testament (1941): „Darum hat in jeder Generation die Kirche ins Werk der Apostel einzutreten und das Evangelium der ganzen ihr zugänglichen Welt zu verkündigen.“

Eschatologie und Mission im Neuen Testament (1941)

Von Oscar Cullmann

Wirkt die Enderwartung lähmend auf die Mission? Lenkt sie das In­teresse ab von den hier und jetzt zu erfüllenden Aufgaben der Ver­kündigung? Hat sie überhaupt, wie man gesagt hat, einen hemmenden Einfluss auf das christliche Handeln? Wenn diese Fragen zu bejahen wären, so müsste man annehmen, dass Mission im grossen Stile erst mit dem allmählichen Zurücktreten der eschatologischen Hoffnung möglich geworden wäre. In der Tat wird sie denn auch oft als eine Art Ersatz dargestellt für die enttäuschte Erwartung des Reiches Gottes, das nicht gekommen sei. Demnach habe die Kirche Mission getrieben, weil sie die Eschatologie habe aufgeben müssen.

Dieser Auffassung liegt ein falsches Verständnis der urchristlichen Eschatologie zugrunde. Wohl hat es in der alten Kirche auch eine ver­kehrte Hoffnung gegeben, die von der Erfüllung der Aufgabe in der Welt ablenkte, etwa in Thessalonich zur Zeit des Paulus und hundert Jahre später in Kleinasien in der Bewegung des Montanismus. Sie ist aber schon im Neuen Testament als häretisch ausdrücklich abgelehnt worden. Die genuin urchristliche Hoffnung wirkt nicht hemmend auf das christ­liche Handeln in der Welt. Im Gegenteil, dieses gehört insbesondere in Form der missionarischen Verkündigung als fester Bestandteil hinein in den endzeitlichen Heilsplan Gottes. Ja, die Mission ist geradezu eschatologisches Vorzeichen und erhält von der biblischen Hoffnung aufs Ende ihren stärksten Antrieb. Die Verkündigung des Evangeliums an die ganze Welt gehört zu den letzten Dingen.

Dass diese Auffassung sich durchs ganze Neue Testament hindurch verfolgen lässt und im Wesen der neutestamentlichen Eschatologie ver­ankert ist, soll im folgenden nachgewiesen werden.

1.

Zwei Hauptmerkmale der neutestamentlichen Eschatologie begründen die enge Beziehung zwischen christlichem Handeln und Enderwartung: 1. Wir verfügen nicht über das Datum des Endes. 2. Obwohl das Ende in der Zukunft liegt, gehört die Gegenwart bereits der Endzeit an, da diese durch Tod und Auferstehung Christi eingeleitet ist.

a. Das erste hängt damit zusammen, dass alle biblische Eschatologie ihrem innersten Wesen nach allerstärkste Betonung der Allmacht Gottes ist. Diese kommt nirgends so sehr zum Ausdruck wie in dem Glauben an die Schöpfung und in der eschatologischen Hoffnung. Eschatologie ist Neuschöpfung. Auf ein Befehlswort hin (1.Thess. 4, 16), das mit der gleichen göttlichen Autorität gesprochen wird wie das Wort im Anfang: Es werde Licht!, wird auch der letzte Tag erscheinen. Es handelt sich um den souveränsten Akt Gottes. Damit ist aber gesagt, dass wir Men­schen nicht verfügen über das Datum des Kommens des Reiches, und zwar weder mit unserm Handeln noch mit unserm Wissen.

Nicht mit unserm Handeln: wir können es nicht herbeikommen lassen. Das Gesamtzeugnis des Neuen Testaments ist über diesen Punkt so ein­deutig, dass wir diesen Beweis nicht aufs neue zu erbringen brauchen. Aber folgt daraus nicht doch, dass die Eschatologie nur die mensch­liche Passivität fördert, anstatt Ansporn zum Handeln zu sein? Keines­falls. Denn nur wo der Glaube unerschüttert ist, dass das Reich Gottes von Gott her kommt, ist uns der Mut geschenkt, jetzt und hier zu ar­beiten, auch abgesehen von Erfolg oder Misserfolg. Müssten wir an­nehmen, dass sein Kommen von uns abhinge, so müssten wir und würden wir verzagen über unserer Arbeit angesichts unvermeidlicher Misserfolge. So aber handeln wir freudig und mutig, nicht um das Reich Gottes kom­men zu lassen, sondern weil wir wissen, dass das Reich von Gott her kommt.

Auf der andern Seite verfügen wir nicht über das Datum des Gottes­reiches mit unserm Wissen. Hier ist sogar der Offenbarungsmission Jesu selber eine Schranke gesetzt: «Über jenen Tag und die Stunde weiss niemand… auch nicht der Sohn, nur der Vater allein» (Mk. 13, 32). Dass dieses Nichtwissen des Sohnes um das Datum des Gottesreiches besonders betont wird, ist sehr zu beachten im Bereich des Neuen Testa­ments, nach dem doch niemand den Vater kennt als der Sohn. Auch dieses Nichtwissen ist ein Ansporn zum christlichen Handeln, zur «Wach­samkeit»: «Wachet, denn ihr wisset nicht, zu welcher Stunde euer Herr kommt!» (Matth. 24, 42). Wir sind in der Lage des Hausherrn, der nicht weiss, wann der Dieb kommt (Luk. 12, 39); der Jungfrauen, die nicht wissen, wann der Bräutigam kommt, und deshalb ihre Lampen immer bereit halten müssen (Matth. 25, 1 ff.), Wohl erwartet Jesus, dass das Entscheidende fürs Ende mit seinem Tod und seiner Auferstehung ein­treffen wird, und in der Tat ist es Überzeugung der Gemeinde seit Ostern, dass das Ende bereits eingeleitet ist mit diesem fürs Heil grund­legenden Geschehen. Aber sie weiss auch, dass die Neuschöpfung doch noch aussteht. Darum gilt es für sie auch im Lichte des Osterglaubens noch, dass «der Tag des Herrn kommen wird wie der Dieb in der Nacht» (1.Thess. 5,2 ff.), und dass es deshalb gilt zu «wachen» und nicht zu «schlafen wie die andern». Weil der Tag des Herrn immer nahe bleibt, darum darf es kein fieberhaftes Agitieren geben, als käme er an dem und dem Datum, um die und die Stunde, wohl aber handelt der Christ auf Grund seiner Hoffnung ständig als ein «Wacher».

b. Damit gelangen wir zum zweiten Wesensmerkmal der neutestamentlichen Eschatologie, das nun seinerseits das christliche Handeln begrün­det. Das Ende ist zwar noch nicht da, aber seitdem der Osterglaube herrscht, dass das Entscheidende fürs Ende schon geschehen ist, kann es keine Enttäuschung und kein Verzweifeln mehr geben wegen des langen «Ausbleibens» des Endes. Wo der Osterglaube ungebrochen ist. da ist ja auch der Glaube lebendig, dass die Königsherrschaft Christi schon begonnen hat und unbestimmte Zeit weiterdauern wird, bis Christus dem Vater alles unterworfen haben wird (1. Kor. 15, 24 f.). Es ist also falsch zu glauben, die Eschatologie habe mit der Gegenwart nichts zu tun, und deshalb lähme die Enderwartung das christliche Handeln. Vielmehr ist das Gottesreich in der Tat mit Christus näher gekommen, als dies durch den normalen Ablauf der Zeit der Fall gewesen wäre. Mit dem Kommen Jesu ist in chronologischer Hinsicht etwas geschehen: der gegenwärtige «Äon» hat einen gewaltigen Sprung nach vorwärts getan. Wir werden daran erinnert, dass Gott der Herr der Zeit ist. Wir sind eingetreten in die letzte Phase dieses Äons, an deren Ende die Wiederkehr Christi steht.

Ein endzeitliches Element ist bereits verwirklicht und weist deutlich darauf hin. dass wir schon in der Endzeit stehen, wenn auch das Ende selbst erst noch kommen musst der heilige Geist. Er ist ein Stück Zu­kunft, «Angeld» (2. Kor. 1,22), «Erstlingsgabe» (Röm. 8, 23). So ist das Pfingstwunder von Petrus richtig interpretiert worden (Apg.2,17 ff.) mit Berufung auf die Joelstelle: «in den letzten Tagen» geschieht das, was sich da ereignet hat. Da ist schon mehr als Vorzeichen; der Geist ist schon ein Stück Verwirklichung. Darauf weist der Auferstan­dene die Jünger, die ihn fragen, ob das Reich Gottes jetzt aufgerichtet werde (Apg. 1, 6 ff,). Seine Antwort lautet: die «Zeit» zu wissen, das sei Sache des Vaters, der sie in seiner «Vollmacht» bestimmen werde. Die Jünger aber werden den heiligen Geist empfangen, und zwar jetzt schon. Das heisst aber, dass die Endzeit eingeleitet ist, obwohl dieser Aon noch nicht verschwunden ist. Innerhalb der Endzeit gibt es eine Phase von unbestimmter Dauer, die noch in diesen Äon fällt. So stehen wir anders zur Eschatologie als alle vorhergehenden Perioden seit der Erschaffung der Welt. «Kinder, es ist letzte Stunde!» sagt der Verfasser des 1. Johannesbriefs (1. Joh. 2, 18).

Wir leben in einer Zwischenzeit, die schon zum Ende gehört und doch noch in diesen Äon fällt. So mag man die Ethik, die für diese Zeit gilt, mit A. Schweitzer als Interimsethik bezeichnen, aber nicht in dem Sinne, als ob sie nur fürs erste Jahrhundert Geltung hätte. Denn das Interim geht weiter. Wohl bestimmt die Zukunft diese Ethik, aber sie wird auch bestimmt durch das Zukunftselement, das partiell schon Gegenwart ist: den heiligen Geist. Der heilige Geist, der dafür bürgt, dass dereinst auch unsere sündigen Leiber und die ganze Materie von ihm neugeschaffen werden, befähigt uns jetzt schon, das alte Gesetz in seinem ganzen Radikalismus ernst zu nehmen, zu erfüllen. Vom heiligen Geiste aus wird jene endzeitliche Aufforderung zum Handeln: Tut Busse! ins rechte Licht gerückt. Weil das Himmelreich nähergerückt ist und im Heiligen Geiste schon partiell da ist, darum ist es jetzt möglich, christlich zu handeln.

Vom heiligen Geiste her wird aber nun auch das endzeitliche Han­deln der Kirche als solcher bestimmt. Die Kirche selbst ist eine endzeitliche Erscheinung. Sie steht im Zentrum der gegenwärtigen Königs­herrschaft Christi. Sie ist vom heiligen Geiste an Pfingsten konstituiert worden. Daher besteht nun die Aufgabe der Kirche in der missionari­schen Verkündigung des Evangeliums an die Welt. Das gehört nämlich zum Wesen des heiligen Geistes. Das ist ja der Sinn des Pfingstwunders, wo sich plötzlich alle verstehen. Gerade in der Zeit, in der wir stehen, zwischen der Auferstehung und der Wiederkehr Christi, hat die Kirche Mission zu treiben, im Hinblick aufs Ende. Darum heisst es in jener schon angeführten Antwort des Auferstandenen auf die Frage der Jün­ger nach dem Wann des Reiches Gottes: nicht ihr habt die Zeit zu wissen, die Gott in seiner Vollmacht bestimmen wird, aber ihr werdet die Kraft des heiligen Geistes empfangen, und ihr werdet meine Zeugen sein in Jerusalem, Judäa, Samarien und bis ans Ende der Welt (Apg. 1,7 f.);

Heiliger Geist und Mission, das sind die Merkmale der von der Zu­kunft bestimmten Endphase, in der wir stehen. Heisst das etwa, das Reich Gottes werde erst kommen, wenn alle bekehrt sind? Dann hinge ja doch wieder sein Kommen von den Menschen ab, und die Allmacht Gottes wäre nicht respektiert. Anderseits gehört doch gerade zur christ­lichen Enderwartung die Überzeugung, die Schlechtigkeit nehme in der letzten Zeit zu. Deshalb ist das, worauf es hier ankommt, nur die Tat­sache, dass das Evangelium allen verkündet werde. Wohl will Gott, dass alle von dieser Gelegenheit Gebrauch machen. Deshalb soll der Bussruf an alle ergehen. Aber das Kommen des Reiches hängt nicht von der Annahme dieses Rufes ab. Diese Auffassung enthält den stärksten Ansporn zur menschlichen Entscheidung, und doch erleidet die göttliche Allmacht nicht, die geringste Einbusse. Die Predigt des Evangeliums an alle Nationen wird selbst zum Vorzeichen des Endes, zum integrierenden Bestandteil des eschatologischen Heilsplanes Gottes.

2.

Diesen Gedanken müssen wir nun noch näher verfolgen, und zunächst wollen wir seinen Ursprung im Judentum feststellen, um die Neuheit und die theologische Tragweite der neutestamentlichen Auffassung tiefer zu erfassen.

a. Das vorchristliche Judentum kennt zwar die Mission, aber nicht als Vorbedingung des Kommens des messianischen Reiches. Wohl aber stellen wir eine andere Lehre fest, die jenen neutestamentlichen Glauben an die Mission als Zeichen der Endzeit vorbereitet und von ihm zugleich korrigiert wird. Im Judentum sucht man immer wieder das Datum des messianischen Reiches zu errechnen. Die Rechenkünste und so verschie­denen Ergebnisse, zu denen man gelangte, können wir hier nicht anfüh­ren. Immer wieder wurden diese Bemühungen Lügen gestraft, denn das Reich Gottes kam nicht an den errechneten Daten. Da kam denn nun die im Talmud und den Apokryphen fürs Judentum des neutestament­lichen Zeitalters vielfach bezeugte Ansicht auf, das Reich Gottes könne erst kommen, wenn ganz Israel Busse getan hätte. Im Talmud taucht in diesem Zusammenhang öfters die Frage auf: «Wer hält zurück? Wer hält den Messias zurück?» Es ist für die Beurteilung der neutestament­lichen Auffassung der Mission charakteristisch, dass es im Judentum nach den rabbinischen Texten zwei verschiedene Schulen gab, die in verschiedener Weise jene Frage beantworteten und dabei beide dem Ge­danken der Allmacht Gottes Abbruch taten, die doch das konstituierende Element aller Eschatologie ist. Die Schule Eliesers verzichtete auf alles weitere Berechnen jenes Datums. Sic lehrte, der Messias werde kommen, wenn ganz Israel Busse getan haben werde. Damit wird aber das Kom­men des Reiches von der moralischen Haltung des Menschen abhängig gemacht und die göttliche Allmacht geschmälert. Das Kommen des Rei­ches ist nicht mehr ein souveräner göttlicher Akt. Dieser Ansicht steht die der Schule des Rabbi Jehoschua gegenüber, der wieder ein festes Datum errechnen will, nämlich das Jahr 240 n. Chr., das unabhängig von den Menschen als Endpunkt eintreffe. Auf die Frage: «Wer hält den Messias zurück?» antwortet er nicht: die noch nicht erfolgte Busse, son­dern: das noch nicht fällige Datum. Damit tut auch er, aber auf andere Weise, der göttlichen Allmacht Abbruch, indem er das Kommen des Messias an diese den Menschen zugängliche Berechnung bindet.

In der neutestamentlichen Eschatologie hingegen ist die göttliche Allmacht voll gewahrt, insofern der Mensch weder durch sein Handeln noch durch sein Wissen über dieses Datum verfügt. Dem wird voll Rech­nung getragen in der besonderen Auffassung von der Mission, der wir hier nachgehen und nach der das Ende erst kommen wird, nachdem das Evangelium allen Nationen gepredigt sein wird.

Bevor ich die Belegstellen für diese Glaubensanschauung anführe, verweise ich noch auf zwei andere Linien innerhalb des Judentums, welche die christliche Auffassung von der Mission als endzeitlichem Vorzeichen in direkterer Weise vorbereiten: zunächst diejenige, wonach Elia am Ende der Zeiten Busse predigen wird (Mal. 3, 1; Sir. 48, 10 f.), und die andere, wonach erst dann, wenn die Zahl der Erwählten voll ist, das Reich kommen wird (1. Hen. 47, 4; Bar. Syr. 30, 2; 4. Esr. 4, 35).

b. Wir kommen nun zu den neutestamentlichen Belegstellen. Aus­zugehen ist von den beiden parallelen Stellen in der synoptischen Apo­kalypse, Mk. 13, 10: «und zuerst muss das Evangelium allen Heiden ver­kündet werden»; Matth. 24, 14: «dieses Evangelium vom Reiche wird in der ganzen Welt verkündet werden allen Heiden zum Zeugnis, und dann wird das Ende kommen». Besonders hervorzuheben ist in beiden Texten die klare chronologische Bestimmung; bei Markus: «zuerst» (nachher ist die Rede von der Erscheinung des Antichrists). Bei Matthäus noch deutlicher: dann wird das Ende kommen; und dieses Ende ist ebenfalls eingeleitet durch das Erscheinen des Antichrists. An beiden Stellen ist die Mission als göttliches Vorzeichen zusammen genannt mit den endzeitlichen «Wehen»: Kriegen, Hungersnöten, kosmischen Kata­strophen, Verfolgungen usw. und dem Zunehmen der Schlechtigkeit der Menschen. Es ist also nicht so, als ob vom Erfolg dieser Predigt das Kommen des Reiches abhinge, sondern von der Tatsache der Predigt.

Einen weiteren Beleg für die gleiche Auffassung finden wir in der Offenbarung des Johannes in dem bekannten Kapitel von den «apoka­lyptischen Reitern» (Apk. 6, 1-8). Was der zweite, dritte und vierte Reiter dort bedeutet, ist klar. Es handelt sich jedesmal um eine der cha­rakteristischen endzeitlichen «Plagen», die diese düsteren Gestalten per­sonifizieren. Ihre äussere Erscheinung entspricht ganz dieser unheil­bringenden Aufgabe, die sie auf der Erde vollbringen. Was bedeutet aber der erste Reiter? Es sind viele Deutungen gegeben worden. Zuerst haben wir darauf zu achten, dass seine Beschreibung nichts mit dem unheimlichen Aspekt der drei andern gemeinsamen hat. Im Gegenteil, er ist eher eine lichtvolle Gestalt: er sitzt auf weissem Pferd, und wenn man bedenkt, dass in der ganzen Apokalypse die weisse Farbe immer als himmlisches Attribut erscheint, so muss schon von hier aus die Deutung Zweifel erwecken, nach der dieser erste Reiter wie die drei folgenden auch Unheil, auch eine eschatologische Plage über die Welt auszubreiten hätte. Auch die Krone, mit der er geschmückt ist, gibt ihm eher den Charakter einer Segensmacht. Endlich heisst es: «Er ging aus als Sieger und um zu siegen». Nun hat aber das Verbum «siegen» in der Apoka­lypse nicht den schlechten Nebensinn von «siegen durch Gewalt», son­dern es bezeichnet im Gegenteil göttliches Handeln. Es ist daher sehr unwahrscheinlich, dass, wie die übliche Exegese behauptet, mit diesem ersten Reiter irgendeine kriegerische Macht, Römer oder Parther, ge­meint seien. Das scheint mir auch deshalb ausgeschlossen, weil dieser Reiter ja in diesem Falle die gleiche Aufgabe hätte wie der zweite, der auf rotem Pferde sitzt und das Schwert trägt, und von dem ausdrücklich gesagt ist. er habe die Aufgabe, den Frieden von der Erde fortzunehmen, d. h. den Krieg zu verbreiten.

Wer ist aber dann mit diesem ersten Reiter gemeint? Das ergibt sich, wenn wir die andere Stelle der Offenbarung, Kap. 19, 11, herbeiziehen. wo wiederum ein Reiter auf weissem Pferde erscheint. Dort ist die Er­scheinung erklärt: «Er heisst: treu, wahrhaftig; der Name, mit dem er genannt ist, ist: Wort Gottes.» Mit andern Worten: er hat die Aufgabe, das Evangelium der Welt zu verkünden. Das muss auch die Mission des ersten Reiters sein und passt übrigens sehr gut zu seiner Beschreibung. Was hat aber nun die Predigt des Evangeliums in der Welt mit den von den drei andern Reitern dargestellten Plagen gemeinsam? Sie ist wie jene ein göttliches Vorzeichen aufs Ende und läuft als ein letztes Anbieten des Heils all jenen Schrecken, die gerade auch mit einer besonderen Bosheit der Menschen Zusammenhängen, parallel. Übrigens wird auch an anderer Stelle der Offenbarung Johannis die Notwendig­keit einer Busspredigt vor dem Ende betont. In Kap. 11, 3 begegnen wir den zwei Zeugen (Elia und Mose), die prophezeien. In Kap. 14, 6—7 er­scheint der Engel mit dem ewigen Evangelium, und er richtet einen letzten Appell zur Busse an alle Heidenstämme, Zungen und Völker.

Dass es sich bei der Erwartung des endzeitlichen «Zeichens» der Missionspredigt nicht nur um eine an der Peripherie auftauchende Anschauung handelt, geht aber besonders aus der schon erwähnten Stelle Apg. 1, 6-7 hervor. Dort lehnt der von den Jüngern be­fragte Auferstandene alle Fragen nach dem «Wann» des Gottesreiches ab als einen Eingriff in die Allmacht Gottes, der dieses Datum «in seiner Vollmacht» festsetzt. Das aber sollen die Jünger wissen, dass sie bis dahin Mission zu treiben haben. Diese Aufgabe ergibt sich aus der Verleihung des Geistes, den sie empfangen haben. Die Zeit von der Auferstehung bis zu dem unbekannten Datum der Wiederkehr muss mit der missionarischen Verkündigung «von Jerusalem bis ans Ende der Erde» ausgefüllt sein. Denn es ist Gnadenzeit, die den Menschen ge­währt ist: alle sollen Gelegenheit haben, jetzt das Evangelium zu hören. Auch hier ist dieser Hinweis auf die Mission vor dem Ende nicht primär als Imperativ, sondern als Indikativ, als eschatologische Aussage hin­gestellt: ihr werdet meine Zeugen sein. Es ist Gott, der durch seine Boten dieses Vorzeichen einführt, der das Evangelium der Welt anbietet. Die Apostel sind dabei nur die ausführenden Werkzeuge des eschatologischen Heilsplanes.

Aber auch in Form eines Missionsbefehls an die Apostel begegnet uns diese Anschauung in dem berühmten Wort am Ende des Matthäus-Evangeliums: «Gehet hin in alle Welt und lehret alle Völker». — Auch dieser Befehl erstreckt sich auf die ausdrücklich begrenzte letzte Phase dieses Äons. Das wird deutlich in der damit verbundenen Verheissung: «Ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende dieses Äons». Das ist keine so vage chronologische Bestimmung etwa im Sinne von «immer», wie wir wohl gewöhnlich deuten, sondern eine klare Anspielung auf den eschatologischen Charakter der Mission, die eben gerade in dieser Zeit vor dem Ende dieses Äons stattzufinden hat und diesem Äon seinen Sinn gibt.

Im Paulinismus durchzieht das Motiv der Heidenmission als Vor­bedingung zum Kommen des Heils die ganze Theologie des Apostels und steht in engstem Zusammenhang mit seinem Sendungsbewusstsein. Dieses ist bei Paulus deutlich eschatologisch bestimmt auf Grund seiner Über­zeugung, ein Werkzeug des endzeitlichen Heilsplanes zu sein. Da ist zunächst auf Röm. 9-11 zu verweisen. Diese Kapitel sind geradezu ein Kommentar zu dem Wort Mk. 13, 10: «zuerst muss das Evangelium allen Heiden gepredigt werden». In Kap. 10 betont der Apostel aufs stärkste, dass zwar Gott seinen genauen Plan verfolgt, aber die Verantwortung der Menschen doch voll und ganz bestehen bleibt. Denn alle bekommen Gelegenheit, das Evangelium zu hören: «Wie werden sie glauben, wenn sie nicht gehört haben? Wie hören, wenn keiner gesandt ist?» (Röm. 10, 14 f.). Allen muss Gelegenheit geboten werden, das Evangelium zu hören. Die Juden haben sie schon gehabt; «aber nicht alle haben das Evangelium angenommen», und darum ergeht der Ruf nun an die Hei­den, bevor dann am Ende die Juden doch noch eintreten. So bekommt das Wort vom Evangelium, das zuerst den Heiden verkündet werden muss, bei Paulus einen ganz besonders konkreten Sinn, wobei der Haupt­ton nun allerdings auf dem Wort «Heiden» liegt. Aber der chronologisch-eschatologisch bestimmte Charakter der Missionspredigt als eines Vorzeichens aufs Ende ist auch hier deutlich. Nur betrachtet Paulus die­ses Zeichen in erster Linie sozusagen von innen her, von seiner aposto­lischen Verpflichtung als Werkzeug dieses Planes aus. Im Hinblick auf den eschatologischen Plan Gottes betont Paulus immer wieder, dass er gerade zu den Heiden berufen sei. Auch in Röm. 11, wo er von «dem Mysterium» jenes göttlichen Plans spricht, erwähnt er sein eigenes Amt, das «er ehrt als Heidenapostel» (Röm. 11, 13). Im Kolosserbrief, Kap. 1, 22-29, unterstreicht er das enge Band zwischen seinem persönlichen Amt («ich, Paulus, Diener», Vers 23) und dem göttlichen Heilsplan («göttliche Oekonomie». Vers 25), der sich bezieht auf das «Mysterium unter den Heiden». Wenn wir bedenken, dass Paulus sich eingefügt weiss in einen Plan, von dessen Ausführung Gott das Kommen seines Reiches abhängig macht, verstehen wir auch besser den «Zwang» (I. Kor. 9, IG), dem er sich unterworfen weiss, «Schuldner» zu sein gegenüber den Griechen und Barbaren (Röm. 1, 14). Er betrachtet sich als Gefan­genen Christi für die Heiden (Eph. 3, 1). Von hier aus verstehen wir auch besser seine Eile, immer neue «Orte» aufzusuchen, wo das Evangelium noch nicht verkündet worden ist, von Jerusalem bis nach Illyrien, und wenn sein Werk in diesem Teil der Welt vollendet ist, so wendet er sich gegen Spanien. Die Zeit ist kurz. «Wehe mir, wenn ich das Evangelium nicht predige!» (1. Kor. 9, 16).

Von daher wird es nun sehr wahrscheinlich, dass auch in der viel­diskutierten Stelle 2. Thess. 2, 6 f. von «dem, was noch das Kommen des Antichrists aufhält», eine Anspielung auf die Missionspredigt als Vorzeichen aufs Ende vorliegt. Wenn wir bedenken, dass diese Auf­fassung der Missionspredigt sich durchs ganze Neue Testament hindurch verfolgen lässt, wie wir gesehen haben, so ist diese Hypothese so wahr­scheinlich, wie es eine Hypothese sein kann. Gewöhnlich wird die Stelle auf den römischen Staat bezogen. Aber es lässt sich kein anderer Beleg aus dem Neuen Testament beibringen, wonach der Staat das Ende, die Manifestation des Antichrists, verzögere. Im Gegenteil wird sowohl in der jüdischen als in der urchristlichen Apokalyptik der Antichrist ge­wöhnlich als irgendein satanisches Weltreich vorgestellt. Gerade in 2. Thess. 2,4 wird er mit den Bildern aus Daniel beschrieben, die sich dort sicher auf das syrische Weltreich beziehen. Sollte Paulus gerade da, wo er den Antichrist in diesen Bilden) zeichnet, den Staat zugleich eingeführt haben als den, welcher den Antichrist zurückzuhalten habe? Damit hätte er eine merkwürdige Konfusion in die eschatologischen Vorstellungen hineingebracht, indem er an der gleichen Stelle vom Staat als Bekämpfer des Antichrists und als satanische Macht geredet hätte.

Dagegen spricht nun sehr vieles für die Annahme, die zum erstenmal von den Kirchenvätern Theodor von Mopsuestia und Theodoret und späterhin auch von Calvin ausgesprochen worden ist, wonach mit dem «Zurückhaltenden» in 2. Thess. 2, 6 die Missionspredigt der End­zeit gemeint ist. Zunächst hat das griechische Verbum für «zurück­halten» eine temporale Bedeutung im Sinne von «retardieren», «ver­zögern». Es handelt sich um das «Wann» des Reiches Gottes. Nun findet sich nirgends eine solche Beziehung zwischen dem Staat und dem «Wann» des Endes, wohl aber haben wir eine solche deutlich festgestellt zwischen der Heidenpredigt und der Frage nach dem Datum der Parusie. Nach den synoptischen Stellen Mk. 13,10-14 und Matth. 24, 13-15 kommt gerade der Antichrist nach der Heidenpredigt, so wie er nach 2. Thess. 2, 6 ff. nach dem «noch Zurückhaltenden» kommen wird.

Ferner knüpft diese Annahme direkt an jene jüdische rabbinische Frage an: «Wer hält zurück?», von der wir gesprochen haben. Wir haben gesehen, dass die häufigste jüdische Antwort auf jene Frage lautete: «Die noch nicht erfolgte Busse Israels», und diese Antwort tendiert deutlich hin auf die christliche Anschauung von der endzeitlichen Not­wendigkeit der Heidenpredigt und wird von dieser zugleich korrigiert, wie wir gesehen haben, insofern das Wesentliche hier das Anbieten des Bussrufes ist.

Auch der ganze Zusammenhang, in dem die Stelle steht, spricht zu­gunsten der Beziehung auf die Heidenpredigt und zeigt, weshalb das Evangelium vor dem Erscheinen des Antichrists allen verkündet wer­den muss. In den Versen 9-12 lesen wir: Die, welche die Liebe zur Wahrheit, die sic errettet hätte, nicht annehmen werden, werden sich vom Antichrist bestricken lassen. In den Versen 13-14 stellt Paulus denen, welche die Predigt des Apostels ablehnen, die Leser selbst gegen­über, und von ihnen sagt er: Der Herr hat euch erwählt, um euch das Heil zu geben. Dazu hat er euch berufen «durch unsere Predigt». Auch das ganze unmittelbar vorhergehende Kap. 1 handelt schon von der Beziehung der endzeitlichen Ereignisse zur Annahme oder Ablehnung des vernommenen Evangeliums: «Wir rühmen uns … über euer Dulden und Glauben… zum Vorzeichen des gerechten Gerichts Gottes, nämlich dass ihr sollt gewürdigt werden des Reiches Gottes, für welches ihr leidet… Wenn sich der Herr Jesus offenbart vom Himmel her mit den Engeln … wenn er Vergeltung bringt über die, welche… dem Evan­gelium unseres Herrn Jesus nicht folgen.» Man müsste fast eine Er­wähnung der Heidenpredigt in diesem Zusammenhang postulieren, wenn sie nicht in dem Hinweis auf das «Zurückhaltende» einbeschlossen wäre.

An der gleichen Stelle steht zuerst das Neutrum (Vers 6: das Zurück­haltende), dann das Maskulinum (der Zurückhaltende). Wenn das Zu­rückhaltende die Missionspredigt ist. dann liegt es nahe, den Zurück­haltenden als Selbstbezeichnung für den Apostel anzusehen. Das würde ganz zu dem passen, was wir von dem hohen Sendungsbewusstsein des Paulus gesagt haben, das ja durch jene eschatologische Überzeugung be­stimmt ist, dass das Evangelium den Heiden angeboten werden muss. Auch dass Paulus von sich in dieser Weise in der dritten Person spräche, würde keine Schwierigkeiten bereiten, da er auch anderswo, und zwar ebenfalls um auf eine ihm zuteil gewordene Gnade hinzuweisen, die dritte Person gebraucht: «Ich kenne einen Menschen in Christus, der bis zum dritten Himmel emporgehoben wurde» (2. Kor. 12, 2).

Selbst wenn diese jedenfalls am besten begründete Erklärung von 2. Thess. 2, 6 f., für die sich übrigens auch Belege aus der altchrist­lichen Literatur des 2. Jahrhunderts beibringen lassen, auf die wir hier nicht eingehen können, nicht zutreffen sollte, so wäre durch alle andern neutestamentlichen Stellen die fundamentale Glaubensanschauung ge­nügend bezeugt, nach der die Mission das göttliche Werk ist, das seine Diener in der letzten Periode dieses Äons, in der wir leben, vollbringen. Denn diese letzte Periode ist Gnadenzeit, die Gott uns in seiner Langmut gewährt zur Busse. Diese Anschauung geht aus dem Wesen der neu­testamentlichen Eschatologie hervor. Sie lässt die Allmacht Gottes un­geschmälert, insofern sie das Kommen des Reiches Gottes nicht vom Menschen abhängig macht und alles Errechnen ausschliesst, anderseits jedoch die Verantwortung des Menschen gerade im Hinblick auf die eschatologische Gnadenzeit aufs höchste steigert, endlich der Kirche ihren präzisen Auftrag gibt, im Namen Gottes das eschatologische Heils­werk in der Zeit zwischen Auferstehung und Wiederkehr Christi als Ver­kündigung des Evangeliums an die Heiden auszuführen. Es ist ein in jeder Hinsicht theologisch tiefer und fruchtbarer Gedanke, der hier zum Ausdruck kommt, der aber in der Folgezeit bald vergessen wurde und nur noch sporadisch als Missionsmotiv auftaucht.

Wie alle «Vorzeichen», so erlaubt auch das der Mission keinerlei Be­rechnung und auch keinerlei Beschränkung auf diese oder jene Gene­ration. Denn es ist charakteristisch für die letzte Periode, in der wir leben, dass sie eine Einheit bildet, und dass sie als Ganzes durch «Vor­zeichen» charakterisiert wird. Von keinem Vorzeichen können wir sagen, ob es nun seine letzte Erscheinungsform ist. Daraus ergibt sich aber, dass die Reformatoren irrten, wenn sie glaubten, die Heiden-Mission damit abtun zu können, dass sie sagten, das Evangelium sei bereits durch die Apostel allen Heiden angeboten worden. Es gehört vielmehr zum Wesen des Vorzeichens, dass es bis ans Ende in jeder Generation erscheint, die der gegenwärtigen letzten Phase dieses Äons angehört. Daraus folgt aber, dass auch die Missionspflicht die ganze noch bleibende Zeit bis zum unbekannten Endtermin auszufüllen hat und dass jede Generation aufs neue das Evangelium den Heiden ihrer Zeit zu verkünden hat, unbekümmert darum, ob deren Vorfahren vor 1900 Jahren schon Gelegenheit hatten, es zu hören. Darum hat in jeder Generation die Kirche ins Werk der Apostel einzutreten und das Evangelium der ganzen ihr zugänglichen Welt zu verkündigen.

Ursprünglich erschienen in: Evangelisches Missionsmagazin (Basel), 85, 1941, S. 98-108.

Quelle: Oscar Cullmann, Vorträge und Aufsätze 1925-1962, hrsg. von Karlfried Fröhlich, Tübingen: J.C.B. Mohr, 1966, S. 348-360.

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