Leo Baecks Vortrag über Maimonides, der Mann, sein Werk und seine Wirkung (1954): „Er war ein Eigener, ein Jude im Eigenen, ein Denker im Eigenen, ein Eigener auch inmitten der Tage des Schicksals. Für die anderen zu leben und doch im Eigenen zu stehen, Maimonides hat es erfüllt.“

Maimonides. Der Mann, sein Werk und seine Wirkung[1]

Von Leo Baeck

Das 12. Jahrhundert, in welches uns diese Stunde geschichtlichen Gedenkens zurückführen will, war eine der reichen Perioden in der Geschichte menschlichen Geistes. Damals waren Morgenland und Abendland in der Wissenschaft einander begegnet. Das, was so oft bezweifelt worden ist, daß die beiden den Weg zueinander finden können, das, worüber Kipling, der Sohn Englands und Indiens, jenes Niemals ausgesprochen hat: „Denn Ost ist Ost, und West ist West, und nie werden die beiden sich treffen“ — „For east ist east and west is west, and never the twain will meet” —, damals war es dennoch wirklich geworden: Morgenland und Abendland kamen zueinander, in der Welt der Erkenntnis und der Kultur. Der Geist fand seine Wege, und auf ihnen haben damals auch Islam und Christentum und Judentum einander getroffen und haben in Gemeinsamem zueinander gesprochen.

Besonders hier in diesem westlichen Teile Europas war ein Boden bereitet. Neues regte sich damals hier, Bereitschaft zu neuen Gedanken und zu neuen Formen wurde lebendig. In der histori­schen Forschung der letzten Jahre — einen klaren Überblick ge­währt ein Aufsatz von H. Liebeschütz im „Archiv für Kultur­geschichte“ — wird das 12. Jahrhundert gern das der Protorenais­sance, der ersten Renaissance, genannt, und viel Richtiges spricht darin. Die Renaissance hat nicht erst im fünfzehnten Jahrhundert eingesetzt.

Gewiß, die Zeit war mittelalterlich. Sie glaubte an ihr endgül­tiges Fundament, sie hatte ihre gegebenen Sätze und ihre fest­gestellten Methoden. Aber innerhalb dessen beginnt nun eine Bewegung, man besinnt sich auf anderes und früheres und fängt an, umherzublicken. Schon in einem zeigte es sich: in einer Verfeinerung des lateinischen Stils. In den Briefen und den staatlichen Urkunden jener Zeit ist ein Einfluß der Sprache Ciceros erkenn­bar. Man legt Wert darauf, die gute lateinische Schreibweise zu pflegen. Der französische Gelehrte Gilson sagt in seinem Buch über die Theologie des Bernhard von Clairvaux — „La theologie de St Bernhard de Clairvaux“ —, daß er, der große Asket, der die Entsagung lehrte, und mit ihm seine Genossen und seine Schü­ler, auf alles zu verzichten bereit gewesen wären, nur nicht auf die Kunst, gut zu schreiben.

Aber das Entscheidende ist, daß damals Straßen sich öffneten, auf denen Gedanken und Bücher vom Osten hierher nach Frank­reich und Deutschland gelangten. Von der arabischen Welt her, vielfach auf dem Wege über die jüdische Welt, kamen nun grie­chische Philosophie und Wissenschaft nach dem Westen. Vor allem im Namen des Aristoteles zogen sie ein. Es ist ein eigenes Kapitel in der Geschichte der Menschheit; diese Wanderung der griechi­schen geistigen Kultur.

Als Justiniam 529 die Universität von Athen schloß und den Unterricht in der Philosophie verbot, meinte er, der Philosophie ein Ende bereitet zu haben. Aber Menschen der Philosophie waren am Leben; Lehrer zogen nach dem Osten, nach Ländern des Islam, der auf dem Boden des alten persischen Reiches neue Staaten ge­gründet hatte. Es war eines der großen Ereignisse in der immer erneuten und wechselvollen Geschichte der Emigrationen. Die Män­ner selbst — in ihrer ersten Generation zumal —, wurden auf dem neuen Boden nicht heimisch. Aber sie haben dort ihre Gedanken, ihre Wissenschaft, ihre Lehre eingepflanzt, und diese haben dort Wurzeln geschlagen. Die Rezeption griechischer Philosophie und Wissenschaft durch den arabischen Genius ist eine der großartigen Leistungen in der Geschichte menschlichen Geistes. Plato, Aristote­les und Plotin, die in Griechenland verboten oder verworfen waren, wurden nun in arabischer Sprache, in arabischen Ländern gelehrt, und sie wurden von arabischen Denkern kommentiert. Der griechische Geist hatte jetzt seine zweite große Zeit. Griechenland lebte nun in Bagdad und in all den anderen Kulturzentren der großen mohammedanischen Welt, die sich bis zum Atlantischen Ozean hin erstredete.

In der Dankesschuld dafür steht auch das jüdische Volk. Dank jenen arabischen Meistern ist die griechische Philosophie, die schon einmal in den Generationen nach Alexander dem Großen, in der sogenannten hellenistischen Zeit, sich mit jüdischem Denken ver­bunden hatte, nun zum zweiten Male von ihm durchdrungen wor­den. Die große Epoche jüdischer Philosophie hob an.

Und die Juden sind in ihrer eigenen Weise dafür dankbar ge­worden. Sie haben das, was sie empfangen hatten, immer wieder weitergereicht. Sie sind die großen Übersetzer geworden: in den Ländern der mohammedanischen Kultur haben sie aus dem Arabi­schen die großen griechischen Philosophen, Astronomen, Mediziner und Mathematiker ins Hebräische übertragen, und aus dem Hebräi­schen wurde das ins Lateinische übersetzt. Wir haben hierüber ein gelehrtes Buch: „Die hebräischen Übersetzungen des Mittel­alters“ von Moritz Steinschneider, dem Vater der jüdischen Bibliographie. Es ist ein nüchternes, trockenes Buch — der Mann, der es verfaßt hat, hatte die Ambition der Nüchternheit —, aber wer es liest und das, was hinter den trockenen Namen und Daten steht, zu sich sprechen läßt, der ist ergriffen: Ein Bedeutungsvolles, eine kulturelle Leistung spricht zu ihm. Diese jüdischen Übersetzer haben zu ihrem Teil den Weg bereitet, einen dieser geschichtlichen Umwege, der die griechische Wissenschaft nach dem Abendland führte und neues Denken und Streben in die Universitäten des Westens einkehren ließ. Sie haben das ihre dazu getan, daß Ost und West damals sich fanden.

In verhältnismäßig kurzer Zeit ist die griechisch-arabische Philo­sophie nun in den zwei großen Universitäten Paris und Köln, die eng zueinander gehörten, heimisch geworden. So konn­te es auch geschehen, daß schon wenige Jahrzehnte nach dem Tode des Man­nes, dem diese Stunde gilt, des Moses ben Maimon, sein philoso­phisches Hauptwerk in den Auditorien von Paris und Köln behan­delt wurde, daß es in den Büchern des Alexander von Hales und des Wilhelm von Auvergne, der großen Lehrer von Paris, und dann in den Werken der drei großen Dominikaner in Köln, des Albertus Magnus, des Thomas, des Aquinaten, und des Meister Eckehart, einen Platz hatte. Auch das war ein Ergebnis jener Protorenais­sance und ihrer lebendigen Bereitschaft.

In dem Leben dieses Mannes selbst, des Moses Maimonides, war diese große Erschlossenheit, eine stete Bereitschaft, zu begreifen. Das Geschick selbst, das ihm Lehrjahre in immer neuer Anforde­rung bestimmt hatte, hat Tore seines Wesens geöffnet. Das hat dazu beigetragen, ihn zu einem Manne eigenen Denkens zu machen. Seine Tage hatten allerdings im Geborgenen begonnen, innerhalb der spanischen Heimat des Judentums und des spanischen Gebie­tes der arabischen Kultur — zweier Bereiche des Blühens und Wach­sens. Er war in Córdoba im März 1135 geboren, einer Stätte sowohl arabischen wie jüdischen geistigen Lebens. Arabisch ist hier seine Muttersprache geworden, und ist die entscheidende Sprache sei- nes literarischen Schaffens geblieben. In der ansehnlichen, gebilde­ten jüdischen Gemeinde in Córdoba war, wie überall, das Hebräi­sche die Sprache der Bibel und die Sprache des Gottesdienstes. Aber hier, im südlichen Spanien hatte es durch Dichter und Den­ker zudem eine wundersame Bereicherung und Vertiefung erfahren. So wurde Hebräisch auch die Sprache dieses Mannes, eine Sprache, der er neue Züge verlieh.

Sein Vater, Maimon ben Joseph, war Dajan, Richter, in der Gemeinde Córdoba. So wuchs er in eine Atmosphäre der Juris­prudenz und des Respektes vor dem jüdischen Recht auf. So konnte dieses Recht ihm ein Inhalt und eine Aufgabe seines Lebens werden. Dort in Spanien hatte damals jüdische Philosophie mehr und mehr sich selber entdeckt, und sie war, in ihrer platonischen wie in ihrer aristotelischen Richtung, ein Teil der Bildung gewor­den. So hat von Beginn an die Philosophie eine Kraft in diesem Manne werden können.

Diese zwei, das Recht und die Philosophie — dieses Wort in seinem allgemeinsten Sinne genommen — sind seit altem wirksame Elemente in der jüdischen Kultur. Jahrhunderte hindurch hat sie im Recht sich gewissermaßen selber aufgebaut. In der Torah und dann dem Talmud und dem weiten Schrifttum, das sich um sie und an sie fügte, hat ein Wille zum Recht sich seinen Ausdruck geschaffen. Im Empfangen und Geben hat er den Geist lebendig erhalten. Und ebenso ist der philosophische Zug hier seit je ein Antrieb. Es ist bezeichnend, daß der erste Grieche, der von den Juden erzählte, Theophrast, der Schüler und dann der Nachfolger des Aristoteles, von ihnen sagte, sie seien „philosophoi to genos“, Philosophen von Geburt, eine philosophische Rasse, und daß sein Zeitgenosse, Megasthenes, welcher Gesandter des seleucidischen Reiches an einem der indischen Höfe war, in seinem Buche über Indien meinte, was in Indien die Brahmanen sind — die Philoso­phen im Lande —, das seien in der vorderasiatischen Welt die Juden. Der philosophische Trieb, das stetige Fragen, das Suchen und Forschen nach Prinzipien und nach Zusammenhängen und Analogien, alles das, was in der Auseinandersetzung mit dem Bibelwort durch den talmudischen Begriff „Haggadah“ bezeichnet wird, ist in der Tat seit je dem jüdischen Wesen zu eigen. Auch in das jüdische Recht und in die Philosophie war Maimonides durch sein Elternhaus in Córdoba gleichsam hineingeboren.

Aber auch ein Drittes, das wie ein geschichtlicher Wesensteil jüdischer Existenz ist, das hat er dann früh schon erfahren: das jüdische Schicksal, die jüdische Heimsuchung, die jüdische Wande­rung. Als er dreizehn. Jahre alt war, wurde Córdoba von den Almohaden erobert. Die Almohaden, die „Bekenner der Einheit“ waren Männer einer puritanischen Bewegung, wie sie innerhalb des Islams oft erwacht ist: einer Rebellion — der Islam hat nie Revolutionen, sondern nur Rebellionen erlebt — in der sich die Wüste gegen die Stadt erhob, die Askese gegen die Kultur, der strenge Glaube gegen das Bildungsstreben, der Koran gegen die vielen Bücher. Eine solche Bewegung war im achtzehnten Jahrhun­dert die der Wahhabiten in Arabien gewesen, in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts die des Mahdi im Sudan und in neuerer Zeit die des Ibn Saud, der das Königreich Arabien schuf.

In raschem Ansturm hatten damals die Almohaden sich einen großen Teil Nordafrikas unterworfen und waren nach dem süd­lichen, dem arabischen Spanien vorgedrungen und hatten nun den Sitz des Emirats, Córdoba, eingenommen. Audi hier proklamierten sie ihre strenge Lehre, und diese schloß die Ablehnung alles Frem­den und aller Fremden ein, und ein Fremder war für sie der Andersgläubige nur — trat er zum Islam über, so hörte er auf, ein Fremder zu sein. Man könnte eine Geschichte der Kultur danach schreiben, xvelcher Inhalt jeweils dem Worte „Fremder“ gegeben worden ist. Dort und damals war das Bekenntnis das Zeichen: der „Frem­de“ hatte die Wahl, sich zum Islam zu bekennen oder fort­zuziehen. Manche nahmen, allermeist zum Scheine die andere Religion an. Man machte es ihnen leicht; eine Inquisition, welche die Beständigkeit der Convertiten nachprüfte, gab es nicht. Andere wanderten fort, unter ihnen der Dajan Maimon ben Joseph mit den Seinen. Das jus emigrandi, das Recht, fortzugehen, wie es in Mitteleuropa später durch den Westfälischen Frieden festgelegt wurde, war hier die gewohnte Übung. Jahre hindurch hielt sich die Familie, wohl wie in einer gekannten Ungekanntheit, bald hier, bald dort im südlichen Spanien und dann in Marokko auf, bis auch dort schließlich — der Rabbiner von Fes starb als Märtyrer — der Boden immer unsicherer wurde. Auf dem Wege über Palästina ge­langten sie endlich nach Ägypten. Hier ließen sie sich in dem alten Kairo, in Fostat nieder, im Jahre 1165, und diese Stadt wurde ihnen nun eine bleibende Heimat.

Ägypten war damals eine Blütezeit beschieden. Der große Sultan Saladin, der sich zum Herren über Syrien und Ägypten gemacht und Palästina den Kreuzfahrern entrissen hatte, war ein Mann fast so, wie Lessing ihn in seinem Nathan geschildert hat: Ein freier Sinn waltete, die Wirtschaft gedieh, Wissenschaft wurde gepflegt. Flüchtlinge konnten das Gefühl gewinnen, hier wieder eine Stätte ihres Lebens zu haben.

Maimon ben Joseph selbst hat freilich nur kurze Zeit hier noch ge­lebt, und auf das Haus fiel weiterer Schatten. Der jüngere Sohn, Da­vid, der einen Juwelenhandel begonnen hatte, um sich und zugleich dem Bruder Moses, der sich der Wissenschaft zugewandt hatte, die Existenz zu sichern, erlitt auf einer geschäftlichen Fahrt Schiffbruch: er ertrank. Auch das Vermögen der Brüder war verloren. Es war eine schwere Zeit, zumal Moses mit Krankheit zu kämpfen hatte. Er hat von alle dem nicht erzählt; es wäre nicht die Art des Man­nes gewesen, der immer ruhig seinen Weg ging.

Er war nun in die dreißiger Jahre seines Lebens eingetreten, und er sollte seinen eigenen Platz haben. In den Jahren der Wanderung hatte er sich um das Studium der Medizin bemüht. Wir können es uns vorstellen, wie er Meister der Kunst aufsuchte, wo immer die Rast und die Gelegenheiten sich boten. Jetzt sah er seinen Beruf vor sich und war selber ein Meister geworden. Als er nun die Heilkunst in Fostat auszuüben begann, verbreitete sich bald sein Ruf. Binnen kurzem war er einer der anerkannten Ärzte Ägyptens, einer der Gesuchten. Er wurde einer der Ärzte Saladins, der Leib­arzt des Sohnes Saladins, der Leibarzt auch des Wesirs. In einem Briefe aus späteren Jahren schildert er die Anspannung, in der sein Beruf ihn hält, wie er manchen Abend fast erschöpft niedersinkt. Und für ihn bedeutete die Medizin zugleich ein Studium ohne Ende, eine immer erneute wissenschaftliche Aufgabe. Er hat von dem in einer Reihe von wissenschaftlichen Schriften Rechenschaft gegeben, und diese haben seinen Ruf und dann seinen Ruhm weit­hin getragen. Einige seien hier genannt: ein Buch über Gifte und eines über Diätetik, eine Schrift über Sexualhygiene, die er auf Verlangen eines Sultans schrieb, und in der er mit großem Freimut mahnte und warnte, und schließlich und vor allem ein Handbuch der Medizin unter dem Titel: Medizinische Aphorismen — man könnte vielleicht besser sagen: Paragraphen der Medizin —, das auch schon bald in das Lateinische übersetzt und als Autorität angeführt wurde. Mit den Worten „Rabbi Moses dixit“, „Rabbi Moses hat gesagt“, berief man sich oft auf dieses Buch.

Aber in all dieser Zeit waren zugleich immer zwei andere Auf­gaben in seinem Geiste lebendig geblieben: das Recht, dieses Erbe von seinem Vaterhause her, und die Philosophie, dieses Erbe aus der alten spanischen Heimat. Diese drei, die Naturwissenschaft, das Recht und die Philosophie, voneinander empfangend und ein­ander gebend, haben seinen Geist geprägt. Das Recht hat ihn den Respekt vor der Form gelehrt, die Philosophie den Respekt vor der Idee und nun die Naturwissenschaft den Respekt vor der Tat­sache. Dieser dreifache Respekt, der ja im Grund einer ist, war immer in diesem Manne, blieb eine lebendige Kraft in ihm. Diese drei haben seinem Können und seinem starken Willen die Ziele der Arbeit gewiesen.

In den Wanderjahren schon, mit dreiundzwanzig Jahren, hatte er ein Werk der Rechtswissenschaft begonnen: einen in arabischer Sprache geschriebenen, aber dann bald auch ins Hebräische über­setzten Kommentar zur Mischnah; 1168 wurde dieser in Kairo veröffentlicht. Mit ihm bereits hat Maimonides einen endgültigen Platz in der Geschichte des jüdischen Denkens gewonnen.

Seit anderthalb Jahrtausenden schon war in steigendem Maße die Wissenschaft vom Recht ein Bestandteil des jüdischen geistigen Lebens geworden, zu der Einheit des Glaubens trat das Bewußt­sein von der Einheit des Rechts deutlich hinzu. Auf der Grund­lage der im Pentateuch gegebenen Rechtsvorschriften hatte sich in Palästina in den Wegen der Zeit und ihrer Wandlungen ein „common law“ mit seinen Autoritäten, seinen Präzedenzfällen und sei­ner Tradition gestaltet. Der Charakter der Tradition, das heißt der des Mündlichen sollte ihm gewahrt bleiben, und es wurde darum auch als die „mündliche Lehre“ bezeichnet. Erst verhältnismäßig spät, um das Jahr 200 post Chr., da die äußeren Verhältnisse es ratsam erscheinen ließen, wurde dieses Recht durch maßgebende Lehrer der Zeit niedergeschrieben, und es wurde die „Mischnah“ genannt, die „Darlegung“. Die Rechtsforschung und Rechtsprechung entwickelte sich aber in gleicher Weise wie bisher fort in Palästina sowohl wie nun auch in den babylonischen jüdischen Rechts­schulen und Gerichtshöfen. Auch sie wurde mündlich weiter- gegeben, bis schließlich, wiederum dem Gebote des Tages folgend, zuerst etwa 350, in Palästina, und etwa 150 Jahre später in Babylon, auch das alles schriftlich niedergelegt wurde: als Gemarah und zu­sammen mit der Mischnah als Talmud bezeichnet. Aber die Mischnah blieb das klassische Grundbuch.

Im Jahrhundert vor Maimonides hatte Rabbi Salomo Jizchaki, Raschi genannt, aus Troyes in der Champagne, den dann bestim­mende Jahre des Lernens und Lehrens mit Worms verbanden, einen Kommentar zum Talmud geschrieben, welcher der Kommentar geworden und geblieben ist, und der in der Tat seinesgleichen kaum mehr finden konnte. Raschi war der große Pädagoge, unter dessen Händen, man könnte sagen, alles zur Klarheit wurde. Er hatte den genialen Blick für das, was nicht verstanden oder vielleicht mißverstanden werden würde, die wunderbare Gabe, zu erklären, durch jede Schwierigkeit hindurchzuführen. Die Aufgabe, die er sich gestellt hatte und die er mit einem eigenen schlichten Stil durchführte, war die, überall einen Weg zu weisen. Er ist damit der große Helfer, der Vater der Schüler geworden.

Wenn Maimonides es jetzt unternahm, selbst zu dem Grund­buche des Talmud, der Mischnah, einen Kommentar zu verfassen, so stand ihm ein anderes Ziel vor Augen. Er dachte wohl weniger, wie Raschi getan, an den Lernenden als vielmehr an den Lehren­den. Ihm will er zur Seite treten, ihm den Ausblick aufzeigen. Gewiß, auch er will erklären, auch er hat den Respekt vor der Ein­zelheit — der Weg zum Ganzen führt nur über alle die Einzelheiten. Aber er denkt vor allem an das Verbindende, zu dem sich die Ein­zelheiten zusammenfügen und das ihnen ihre Bedeutung gibt. Er geht darum von Prinzipien aus und lenkt zu allgemeinen Sätzen immer wieder hin. Seine Kraft ist ganz besonders die Systematik. Der philosophische Zug ist in ihm. Er weiß um die Idee, um das Ganze, das vor den Teilen ist.

Wenn man diesen Kommentar liest, so empfindet man immer wieder, wie er über sich hinausweist. Das Gesamte des Talmuds, das Gesamte des Rechtes scheint schon im Hintergründe zu ste­hen und danach zu verlangen, dargelegt und systematisch auf­gebaut zu werden. Ein inneres Erfordernis hat so zu einem zweiten, dem größeren Werke hingeführt. Durch zwölf Jahre hat Maimoni­des den Genius und die Kraft der Stunden, die sich außerhalb der Pflichten des Berufs öffneten, dieser gegebenen Aufgabe gewidmet. Im Jahre 1180 erschien das Buch, mit vierzehn Hauptteilen, unter dem Titel „Mischneh Torah“, „Darlegung der Torah“, der alten Bezeichnung des Deuteronomiums. Es ist in hebräischer Sprache geschrieben; Moses ben Maimon hatte, ein eigener auch hierin, seinen charakteristischen hebräischen Stil gefunden. Der Stil des Raschi im Westen und der des Maimonides im Osten sind zwei neue Stilformen im jüdischen Mittelalter. In der hebräischen Sprache geschrieben, der Sprache, die zu allen hintrat, konnte das Werk alsbald für die gesamte jüdische Welt, für alle, die in ihr das Recht suchten, bestimmt sein. Der Einheit des Rechtes in einem Bereiche, der sich über die drei alten Kontinente erstredete, konnte es damit unmittelbar dienen.

Von diesem Werke kann nur mit Worten der Bewunderung, ja des Staunens gesprochen werden. Mit einer unendlichen Ge­duld — alles Genie ist im Grunde auch eine unendliche Geduld —, mit einem unbezwinglichen Heiße, der sich mit keinem Vorläufigen begnügt, in einer Spannkraft, einer Dynamik, die das Begonnene, das Konzipierte immer weiter gestaltet, bis es beendet, bis es wahr­haft zum Abschlusse gebracht ist, hat dieser Mann, der beanspruchte Arzt, dieses Werk gewagt, es nicht verlassen, bis er es geschaffen. Ein fast endloser Stoff, überall in die Weite und Tiefe geschichtet, hier zusammenhängend, dort auseinanderstrebend, immer neu sich darbietend, ist hier überblickt, ist hier gesammelt und gemeistert, durchdrungen und geordnet worden. Und alles das hat eine unver­gleichliche architektonische Kunst zu einer Einheit gestaltet: ein in sich geschlossener Bau, in welchem in der Fülle seiner Teile jeder einzelne den anderen trägt, den anderen aufzeigt, ist hier auf- gerichtet. Allem, was durch viele Jahrhunderte im jüdischen Geiste seinen Rechtsausdruck suchte, ist hier sein Platz bereitet, seine Stelle zugewiesen, seine Bedeutung gewährt. Der Sinn für die Tat­sache, für die Einzelheit, dieses aufbauende Element, das Gefühl für die Form, diese zusammenerhaltende Kraft, das Verständnis für die Idee, von der her und zu der hin sich alles fügen will, haben sich vereint, damit dieses Werk erstehe.

Neben der großen und bleibenden wissenschaftlichen Leistung, die im Mischneh Torah vollbracht ist, kommt dem Werke auch eine Wirkung in einer eminent praktischen Richtung zu. Es hat dazu beigetragen, die Rechtsordnung in den jüdischen Gemeinden zu konsolidieren. Dadurch, daß es das Recht in seinen Grundlagen und seinen logischen Zusammenhängen darstellte, hat es auch in gewissem Maße Recht geschaffen. Es ist in diesem Sinne eine schöpferische Leistung, die nicht unterschätzt werden kann.

Die jüdischen Gemeinden in Europa, Afrika und Asien waren in politischer, sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht unterschieden. Aber sie alle hatten ein gemeinsames Gefüge, gewissermaßen die­selbe Konstitution. Jede von ihnen besaß eine Selbstverwaltung und dadurch, inmitten der zahlreichen Beschränkungen, in denen sie zumeist leben mußte, doch eine innere Autonomie. Sie waren alle wie kleine Republiken in allen den Ländern. Sie hatten — wie Franz Delitzsch es in seiner Schrift über die weit erstreckte jüdische Dichtung hervorhob — ihre Freiheit inmitten der Bedrückung. Wie jede echte Autonomie beruhte auch diese auf einem lebendigen einheitlichen Rechte, das hier zudem seine starken sozialen Züge hatte. Diese jüdischen Gemeinden hatten eine Rechtsordnung, eine Rechtssicherheit und eine Rechtsbeständigkeit zu eigen, wie sie die scheinbar so viel stärkere Welt ringsumher zumeist noch nicht besaß. Um so beachtlicher war diese Rechts Stetigkeit, da diese Ge­meinden über keine eigentliche Exekutivgewalt verfügten. Sie zeig­ten das außergewöhnliche geschichtliche Bild einer Judikatur ohne Vollstreckungsorgan. Das letzte und selten angewandte und sehr selten mißbrauchte Mittel, um einen Spruch gegenüber einem Bös­willigen durchzusetzen, war der Bann, diese Trennung der Be­ziehungen; er hat hier so nicht den kirchlichen, sondern eher den rechtlichen Charakter. Die Autorität des Richters war hier im wesentlichen eine moralische, und sie wurde durch eine lebendige Tradition unterstützt. Der Bund zwischen Persönlichkeit und Ge­setz, zwischen Richter und Recht bestand hier und machte sich auch unter schwierigen Verhältnissen geltend. Er bedeutete mehr als der Besitz einer Vollzugsgewalt.

An solche Verhältnisse konnte Maimonides denken, als er diese Kodifikation des gesamten jüdischen Rechtes unternahm. Keine Behörde hat das Werk sanktioniert oder legitimiert, und keine Behörde war ja da, welche das hätte tun können. Man durfte zu ihm Stellung nehmen, und sehr bald ist das auch durch Rabbi Abraham ben David aus Posquieres, bisweilen recht temperament­voll, geschehen. Aber um so freier und lebendiger hat das Buch wirken können. Es hat sehr bald seinen unangezweifelten Platz gewonnen, so wie immer eine Vereinigung von Wissenschaft, Ein­dringlichkeit und Rechtschaffenheit sich durchsetzt. Dieser Mann wurde und blieb kraft seiner selbst Autorität. Generationen von Rich­tern und Forschern wurde sein Werk Hilfe zugleich und Mahnung, Rückhalt zugleich und Ansporn. Die, die sich gegen ihn gewandt hat­ten, wären ohne ihn vergessen worden. Es ist eindrucksvoll, in der umfangreichen Rechtsgutachten-Literatur in den Jahrhunderten nach ihm seinen Einfluß zu verfolgen. „Der Rambam“ — wie das abkür­zende Anagramm für Rabbi Moses ben Maimon ihn nennt — „hat gesagt“, das gab einem Satze höhere Geltung, als sie ihm die Sank­tionierung durch eine weltliche oder geistliche Behörde hätte ge­währen können.

Ein besonderer geschichtlicher Platz kommt dem Buche durch seine philosophische Bestimmtheit zu. Recht ist hier nicht etwas, das nur für sich und um seinetwillen da ist. Es ist hier Ausdruck einer Philosophie, einer Welt- und Lebensanschauung. Bezeichnend ist, daß der erste Teil des Buches, welcher die Einleitung gibt, die Fragen der „Erkenntnis“ zum Thema hat; Methoden und Gren­zen des Wissens wollen aufgezeigt sein. Nicht der Gelehrte bloß, sondern der Denker spricht hier. Es ist wichtig, den Mischneh Torah mit einem anderen Buche zu vergleichen, dem Schulchen Aruch, in welchem fast vierhundert Jahre nach Maimonides der Mystiker Joseph Karo, auch er ein Flüchtling aus Spanien, eine neue Kodifi­zierung des jüdischen Rechtes gegeben hat. Auch sein Werk, das um eines praktischen Zweckes willen sich engere Grenzen setzte, ist eine außerordentliche Leistung und war von großer geschichtlicher Wir­kung, aber es ist ohne die Philosophie. Manche Nachdenklichkeit kann durch einen Vergleich zwischen den beiden Werken angeregt werden. Das Judentum, wenn es sich selbst, in seiner Eigentümlich­keit, in seiner Religiosität und seiner Sehnsucht, zum Ausdruck bringen will, kann weder des einen noch des anderen entraten, weder des Rechtes noch der Philosophie. Man könnte in zwei alten Begriffen andeutend sagen: es darf weder seine Halachah noch seine Haggadah verlieren.

Wie der Mischnah-Kommentar psychologisch und logisch zum Mischneh Torah hingeleitet hatte, so führte dieser zu dem dritten der großen Werke des Maimonides hin, dem philosophischen. Es ist arabisch geschrieben, aber ist mit dem Titel, wie ihn die klas­sische hebräische Übersetzung wiedergibt, bekannter: „Moreh Nebuchim“ — „Führer der Schwankenden“. In der lateinischen Sprache, in die das Buch bald übertragen wurde, lautet es: „Doctor perplexorum“ oder auch „Dux perplexorum“.

Die drei Werke sind in einem höheren Sinne eines. Sie sind es nicht nur in der persönlichen Hinsicht, daß ihr Verfasser ein Mann der Naturwissenschaft, des Rechtes und der Philosophie war. Sie sind es auch in sachlichem Betracht. Die Prinzipien des Rechts sollten sich an denen der Philosophie legitimieren und die der Philosophie an denen des Rechts. Von der Wissenschaft her und um der Wissenschaft willen sollten sie es tun.

Aber das alles, das Wissen von dem Leben und der Lebensordnung ist doch umfaßt und getragen von der Welt der Religion. Und Religion, und darin stimmten der Jude, der Christ und der Mohammedaner überein, ist doch offenbarte Religion, sie hat Erkenntnis erschlossen von einer anderen Sphäre, der prophetischen her. Damit aber trat ein Problem unabweisbar vor das Denken hin. Die Frage mußte sich immer wieder einstellen: Wo ist die Grenze der Erkenntnis, welche die Wissenschaft gewährt, und wo öffnet sich die Erkennt­nis, die durch die Religion, den Glauben gegeben wird. Hierin war ein anderes Problem zugleich enthalten, das des Geheimnisses.

Für die Wissenschaft ist das Geheimnis ein Grenzbegriff, sie muß, wie Aristoteles sagte, irgendwo „stehen bleiben“. Für die Religion ist das Geheimnis das Zentrum; aus dem Geheimnis kommt Offenbarung. Unendlichkeit und Ewigkeit, die ja im Grunde eines und dasselbe besagen, sind für die Wissenschaft eine Frage, die sich hier und dort nicht abweisen läßt. Für die Religion sind sie Bestandteil des tragenden Geheimnisses. Es ist bedeutsam, daß das hebräische Wort „olam“, welches sowohl die Ewigkeit wie die Unendlichkeit benennt, zugleich, in seinem Wortstamm das Ge­heimnis einschließt. Und fernerhin: was ist ewig — unendlich? Ist es Gott allein, ist es der Geist, der von Gott kommt, die Kraft, welche schafft und ordnet und gestaltet? Oder ist es der Stoff, die Materie auch, wie Plato und Aristoteles, deren Philosophie siegreich in den mohammedanischen, jüdischen, christlichen Bildungsbereich eingedrungen war, es gelehrt hatten? Wer gab hier die letzte Ant­wort? Oder geben etwa beide sie? Geben das Glauben und das Wissen sie, jedes in seiner Weise, jedes für seinen Bezirk? Das war die Ungewißheit, das Schwanken, aus dem der „Moreh Nebuchim“ herausführen wollte.

Um den Weg zu weisen, sucht er vorerst darzulegen, was in­mitten der Zweifel feststehe. Eine solche Tatsache ist für ihn die Prophetie: diese psychologische und geschichtliche Tatsache, daß Erkenntnisse, vor allem sittlicher Art, zu denen kein Forscher­geist und kein Scharfsinn hingelangt waren, sich hier unmittelbar und vollkommen eröffnet hatten. In den Propheten, unter denen Moses seine ganz besondere Steilung besitzt, waren Kräfte des schöpferischen Intellekts wirksam, wie sie in gleicher Weise auch in große Denker nicht eingetreten waren. In den Worten der Pro­phetie, wie die Bibel sie überliefert hat, ist darum — und dies ist eine weitere Tatsache — mehr enthalten, als der bloße Wortsinn schon zugesteht; sie bedürfen daher der ganz besonderen eigentüm­lichen Erklärung. Diese Erklärung ist nie zu Ende; fortschreitendes Wissen gibt hier — und das ist eine fernere Tatsache — neue oder vertiefte Einsichten. Und Wissenschaft ist nie zu Ende. Wie ein epigrammatischer Satz im zweiten Buche des „Moreh“ sagt: „Die Tore der Forschung sind nicht zugeschlossen“. Der Mensch darf der Glaubens Wahrheit gewiß sein, aber er darf sich deshalb nicht als „beatus possidens“, als der glückliche Besitzer fühlen. Die Philosophie wird immer neu zum Antrieb, und man könnte in die­sem Sinne die Lehren des Maimonides als eine biblische Philo­sophie bezeichnen.

Die Sicherheit dieser Position sucht Maimonides in eingehender Beweisführung, teils mit Hilfe des Aristoteles, teils gegen ihn dar­zulegen. Was ihn von Aristoteles trennt, ist vor allem die Lehre von Gott. Für Aristoteles ist Gott der höchste, der in sich selbst ruhende Geist, und ewig wie Gott ist die Welt. Sie geht, wie die durch den Neuplatonismus beeinflußten arabischen Ausleger des Aristoteles es erklärten, in einem ewigen Prozeß mit Notwendigkeit aus Gott her­vor. Gott ist unbewegt, und die oberen Sphären streben zu ihm empor und dadurch werden sie bewegt. Das oberste Vliesen bewegt, wie ein Satz in der Metaphysik des Aristoteles sagt — „kinei de hos eromenon“ — „indem er geliebt wird“; das ist diese Liebe, von der die Schlußverse in Dantes Göttlicher Komödie sprechen: „die da bewegt die Sonne und die anderen Sterne“. Dieses wundersame Bild, das Aristoteles gezeichnet hat, kann aber, so sucht Maimo­nides nun zu beweisen, gegenüber der Wirklichkeit der kosmischen Bewegung, gegenüber der Mannigfaltigkeit des Universums, der ge­kannten wie der geahnten, nicht standhalten. Das, was ist, in der Fülle seiner Formen, erfordert einen Schöpfungsakt. Auch eine ewige Materie würde, damit Bewegung sei, desselben bedürfen, und diese Ewigkeit der Materie sei zudem, so oft es auch versucht wor­den, niemals stringent bewiesen worden. Und in dem Weltbilde des Aristoteles sei ebenso wenig der Grund für den sittlichen Kosmos, für die Welt der großen und bleibenden Aufgaben der Menschheit, für das messianische Ziel und sein Ideal. Nur der Gott des Gebotes, der offenbarende Gott spricht hier das ewige Wort. Die Welt um uns und in uns und über uns, so will Maimonides zeigen, hat ihren Sinn und ihre Vernunft, nur wenn wir um den Gott der Bibel wissen, den Gott der Schöpfung, den Gott der Offenbarung. In dem, was die Propheten geschaut und verkündet haben, ist die eine Wahr­heit erschlossen, die jedes neue Wissen, jede Erkenntnis immer wieder in sich aufnimmt.

Dies ist der Weg, den der Moreh Nebuchim weist. Mit einer starken Kraft der Dialektik und der Kritik, der Begriffsscheidung und der Konsequenz, mit der sicheren Fähigkeit, Probleme zu erkennen und festzuhalten, mit der besonderen Gabe auch, metaphysische Fragen in den psychologischen Bereich hineinzuführen, hat Mai­monides hier sowohl Grenzen abgesteckt wie auch Ausblicke er­öffnet. Er ist in der Tat ein Führer geworden. Das tiefe Problem, das das eigentümlich jüdische religiöse Problem ist, und aus dem hier alle Fragen und alle Forderungen hervorkommen, dieses Pro­blem des Eintritts des Ewigen, des Unendlichen, des Geheimen, des Unbedingten, des Gebietenden in diese Welt des Endlichen, des Begrenzten, des Irdischen, des Natürlichen, des Wahrnehm­baren, dieses Problem der Schöpfung und der Offenbarung ist hier erfaßt worden. Mit den Methoden und der Sprache der Zeit, in dem wissenschaftlichen Raume jener Tage, hat Maimonides es auf­gezeigt und dargelegt. Aber er hat es in seinem Wesentlichen und Entscheidenden und damit in seinem Bleibenden begriffen. Und, was bedeutungsvoll ist, er hat an der Einheit des Problems fest­gehalten. Er hat die verhängnisvolle Ausflucht abgewiesen, welche sein Zeitgenosse Ibn Roschd, den die lateinische Welt Averroes nannte, auch er ein Sohn Córdobas, neu aufgetan hatte — und bis zu Hegel hin läßt sich hier eine Linie verfolgen —, daß es eine dop­pelte Wahrheit gebe, die eine in der Wissenschaft, die andere in der Religion, die eine für die Großen und die andere für die Kleinen im Geiste. Maimonides hat bestimmend dazu beigetragen, daß solche Lehre dem Judentum fernblieb. Für ihn ist Wahrheit die eine, die eine und selbe im Glauben und im Wissen, die eine und selbe in der Welt der Offenbarung und der Welt der Schöpfung. Die Einheit geistigen Lebens, und so auch die Einheit menschlicher Aufgabe und Hoffnung, war damit gefordert wie auch verbürgt.

Wie durch seine medizinische Schriften ist Maimonides, wie schon erwähnt, durch seinen Moreh auch in die christliche Welt eingetreten. Auch die Scholastiker hatten Aristoteles, den „Meister derer, welche wissen“, wie Dante ihn nannte, nicht nur aufgenommen, sondern sie mußten sich mit ihm auseinandersetzen. Hierin sind sie in wuchtigen Fragen dem Moreh Nebuchim gefolgt, beson­ders in denen der Schöpfung, der Offenbarung, der Prophetie, der Vernunftslehre und der der Ewigkeit der Materie. In zwei Richtun­gen läßt sich die Einwirkung der jüdischen mittelalterlichen Philo­sophie auf die Scholastik verfolgen. Die eine kommt von dem gro­ßen synagogalen Dichter Salomo ibn Gabirol, lateinisiert Avicebron, her. Sein arabisch geschriebenes philosophisches Werk „Mekor Chajim“, „Quell des Lebens“, war sehr bald ins Lateinische über­setzt worden, und wurde dann bisweilen für das Werk eines Chri­sten angesehen. Seinen Einfluß hat dieses Buch, der „Fons Vitae“, vor allem auf franziskanische Denker ausgeübt. Die andere Rich­tung ist die, in welcher der Moreh Nebuchim eingewirkt hat; sie erstreckt sich vorerst auf die dominikanischen Denker. Wir sehen die Linie deutlich von Alexander von Heles, dem Meister von Paris, und Wilhelm von Auvergne, dem Bischof von Paris, hin zu den drei Großen, deren Namen mit Köln sich verknüpft, Albertus Magnus, Thomas von Aquino und Meister Eckehart. Überall, bei Meister Eckehart in seinen, größtenteils noch unveröffentlichten lateinischen Schriften, begegnen wir hier Sätzen und Gedanken des „Rabbi Moses Aegyptius“, wie er zumeist genannt ward. Und die Linie zieht sich weiter zu dem großen Kardinal von der Mosel, Nicolaus Cusanus, besonders seiner Lehre von der Unerkennbarkeit Gottes, hin zu dem französischen Rechtslehrer Jean Bodin und schließlich bis zu Leibnitz und seiner „Theodicee“ — Leibnitz hatte sich Auszüge aus dem „Moreh“ gemacht. Auch in der Bildungswelt Europas hatte Maimonides seinen Platz gewonnen, weit über den Bereich der jüdischen Gemeinden hinaus.

Mit dem Moreh Nebuchim war das Lebenswerk des Maimonides vollendet. Die Idee, die ihn durch alle die Jahre geleitet hatte, von ihm fordernd, in seinem Judentum es zu zeigen, wie in der lebendi­gen Religion sich ein Zugang zu einer höheren Welt öffnet, diese Idee hat ihn nie verlassen, weil er sie nie verließ. Ihr hat er immer neu den Ausdruck zu geben gesucht, ihr hat er in allen den arbeits­vollen Jahren gedient. Nun war das Werk beendet. Aber die Arbeit seiner Tage war nicht beendet, bis zuletzt. Er war, ohne es zu wol­len, das Oberhaupt der Juden Ägyptens geworden und der Sultan hatte ihn als solches anerkannt. Darüber hinaus war er für die Juden aller Länder die Autorität geworden. Von überall her kamen zu ihm die Rechtsanfragen. Die Rechtsprechung in der jüdischen Welt hat keinen eigentlichen Instanzenzug; die frei dastehende persönliche Autorität eines Mannes war eine oberste Instanz. Die große Rechtsgutachten-Literatur zeugt von dem, was mehr ist als ein Amt. Es gab hierin keine Grenzen der Länder. Wir wissen von einer Anfrage aus einer Gemeinde am Kaspischen Meer, die sich an Raschi wandte. Die große Rechtseinheit und die Rechtsfreiheit sprachen sich auch darin aus. So wurde Maimonides‘ Wort nun zu einer Höchstentscheidung; Fostat in Ägypten wurde wie zu einem Mittelpunkt der jüdischen Welt, so wie einst Mainz und dann Worms und Troyes es gewesen waren. Auch diese neue Pflicht hat Maimonides frei übernommen, und von der Fülle der Pflicht er­zählt die große Zahl seiner Gutachten, die wir noch besitzen. Audi sie sind für den Mann kennzeichnend. Für ihn bedeutete die Anfrage, die an ihn gelangte, nicht einen Fall bloß mit seiner Schwierigkeit, mit seiner Kompliziertheit und Intrikatheit, sondern vor ihm stand ein Mensch, ein Mensch mit seiner Not und seiner Sorge und seiner Pein und seiner Erwartung. In das Bild des Mannes, des Arztes, des Rechtslehrers, des Philosophen, fügen sich als ein wesentlicher Zug diese Gutachten auch ein, ganz wie in das Gefüge seines Lebens, seines Charakters die Sendschreiben hineingehörten, die er, in früheren Jahren schon, aus eigenem Antriebe auch, nach Stätten der Bedrängtheit und des Zweifels geschickt hatte, um Menschen zu be­lehren und zu leiten und, nicht zuletzt, um sie zu trösten. Er war der Mann, der nie von sich abwich. Er war immer er selbst.

Sein Leben war so erfüllt, als seine Jahre endeten. Er starb im Dezember 1204. Im Heiligen Lande, in Tiberias am See Genezareth, wurde er bestattet.

Aus der jüdischen Welt ist Moses ben Maimon nicht fortzuden­ken. Fast zu Lebzeiten schon war er zur Geschichte geworden, und er ist ein Bestandteil der jüdischen Geschichte geblieben. Sein Den­ken ist in ihr einer der Pole geworden, um die viele Tage noch kreisten. Von dieser Bedeutung des Mannes zeugt es auch, daß seine Gedanken von manchen vorerst noch nicht verstandèn und darum von ihnen abgelehnt worden sind. Bald nach seinem Tode erhob sich in südfranzösischen Gemeinden, wo die Philosophie des Maimonides schon früh ihre Schüler gefunden hatte, ein Wider­stand gegen den Moreh. Eine Gruppe von Eiferern, die sich selbst zu Strenggläubigen ernannt hatten, fühlte sich aufgerufen. Es war die Zeit des Kreuzzuges gegen die Albigenser in Südfrankreich. Offenbar wollte auch diese Gruppe das ihre haben und sie etablierte Ketzergerichte gegen den Moreh und seine Anhänger. Menschen der Minderheit leben in der Atmosphäre der Mehrheit. Juden wissen davon im Günstigen wie im Abträglichen. Es ist so eine alte Er­fahrung. Schon der Talmud redete gewisse Leute also an: „Wie die Schlechten unter den Anderen habt ihr gehandelt, wie die Guten unter ihnen habt ihr nicht gehandelt“. Auch über diese „streng­gläubige“ Episode der Tribunale gegen den Moreh ist die jüdische Geschichte sehr bald hinweggeschritten.

Opposition und Kritik haben im Judentum stets ihren weiten Raum gehabt. Als Abraham ben David aus Posgnières seine „Rand­bemerkungen“ zum Mischneh Torah, und oft mehr noch gegen ihn und oft mit dem ganzen Temperament seiner südfranzösischen Hei­mat, geschrieben hatte, hat jede spätere Generation dies als eine Bereicherung anerkannt. Seine Kritik war zur Selbstverständlich­keit geworden, und wenn die Schreiber und dann die Drucker den Mischneh Torah immer wieder neu herausbrachten, so geschah dies fast nie ohne diese „Randbemerkungen“. Der große Mann und sein Gegner, sie beide zusammen, sollten vor dem Blicke stehen. So war es auch getan worden, als in Lothringen die Gelehrten der Genera­tionen nach Raschi ihre kritischen Hinzufügungen, die „Tossaphot“ zu dem Talmudkommentar des Meisters verfaßten. Beieinander, wie untrennbar voneinander, stehen sie in den Handschriften und den Drucken: Raschi und die Männer der Tossaphot. Die Größe des Maimonides wie die des Raschi schien das kritische Wort nicht nur zu ertragen, sondern zu fordern. Die Statur des Mannes wuchs nur.

Fast von Anfang an und dauernd stand die Größe des Rabbi Moses ben Maimon auch im Volksbewußtsein fest. Der schlichte Jude fühlte hier eine Besonderheit, eine seltene Einheit von Geisteskraft und Menschentum, auch wenn er die bestimmenden Züge nicht zu erfassen vermochte. Schon früh ist im Volke der Satz aufgekommen: „Von Moses — dem Propheten — bis zu Moses — dem Sohn des Maimon — war keiner wie Moses — wie Moses ben Maimon — Jene große Ehrfurcht, jene durch Dankbarkeit verstehende Liebe sprach hier, ohne die ein Volk, das jüdische zumal, sich nicht fin­den kann.

Das Werk wie die Persönlichkeit dieses Mannes hat sich damit als eine Kraft bewährt, welche Einheit schuf. Für das jüdische Volk sind solche in eine Einheit führende Persönlichkeiten ein Lebensfaktor. Das jüdische Leben hatte in fast allen seinen Zeiten nicht die Forni eines Kreises mit seinem einen Mittelpunkt, sondern die einer Ellipse mit den zwei Brennpunkten. In alten Tagen waren diese beiden das Nordreich und das Südreich, danach Palästina und die hellenistische Welt, das jüdische Land und Babylon, im Mittelalter die Gebiete der Juden Deutschlands, der Aschkenasim, und die der Juden der Pyrenäischen Halbinsel, der Sephardim, und in neuen Tagen, erst in Umrissen sich abzeichnend, das Land Israel und die Gemeinden in den Ländern. Diese Unterschiede, die ins Gegen­sätzliche bisweilen reichen konnten, verlangten nach den einigen­den Kräften, vor allem auch nach den Persönlichkeiten, in denen sich die Einheit einprägsam darstellte. Das hat Maimonides für seine Zeit und für lange Zeit geleistet. In ihm haben der jüdische Orient und der jüdische Okzident sich zusammengewußt. Auch das, und das nicht zuletzt, ist seine große geschichtliche Bedeutung.

Zu dem Historischen kommt das Moralische hinzu oder vielmehr: es ist im Moralischen gegründet. Maimonides war, wo immer er gekannt und verstanden wurde, eine Stimme des Gewissens ge­worden. Er war wie ein Mahner zu jener Andacht des Denkens, die sich nicht verliert, weil sie um das Wesentliche, um die Idee weiß, zu jener Rechtschaffenheit des Denkens, ohne die es keine echte Erkenntnis gibt, zu jener Ernsthaftigkeit und Treue des Den­kens, die es sich nicht leicht macht, noch auch die Aufgabe an nahe oder ferne Halbheiten verrät, jener Demut des Denkens, die immer dessen gewiß bleibt, was noch zu tun ist, jener Wahrhaftigkeit des Denkens, ohne die alles Wissen und aller Scharfsinn sich als unnütz herausstellen. Wer ihm innerlich nahe trat, hat diesen Appell an das Gewissen vernommen, diesen Ruf, in der Wis­senschaft zu leben und auch in der Wissenschaft fromm zu sein um des Lebens willen, des Lebens und der Wissenschaft wegen so auch ein freier Mensch zu sein, wie keines Menschen Knecht so keines Trachtens Knecht.

Etwas davon hat, wie gesagt, auch das einfache Volk gespürt, wenn es an diesen Mann dachte, von diesem Manne sprach. Statt vieler Beispiele sei eines angeführt, weil es ein keusches Wort ist, nicht vor den Leuten gesprochen war, geschweige denn für die große Welt bestimmt. Im persönlichen Nachlaß von Ferdinand Lassalle, dem großen Arbeiterführer, dessen Name ja auch mit dieser Stadt hier, mit Düsseldorf, verknüpft ist, fand sich ein Brief, den er mit sich trug. Der Großvater, ein Handelsmann in Loslau in Ober­schlesien, hatte 1802 ihn an den Sohn geschrieben, der hinaus­gezogen war, um zu lernen. In diesem Brief sagt er dem Sohne, Ferdinand Lassalles Vater: „Denke nicht, daß Du gebildet bist und keines Studiums bedarfst; denn der Rabbi Hamoreh — der Rabbi, der Verfasser des Moreh Nebuchim — sagt einmal: „Wenn Du glaubst, daß Du wissend bist, so bist Du doch unwissend‘.“ So dachte, so sprach das Volk von diesem Manne, von Moses ben Maimon.

Dieser Mann hatte vieles geschaffen und vieles vollbracht, und hinter allem stand und bestand immer er selbst, die Persönlichkeit. Nicht sein geringstes Werk ist er selbst, diese seine Persönlichkeit. Er war ein Eigener, ein Jude im Eigenen, ein Denker im Eigenen, ein Eigener auch inmitten der Tage des Schicksals. Zur Wirklich­keit seines Lebens hat er das gemacht, was der Vater der moder­nen Medizin, Paracelsus, ein Arzt und ein Philosoph wie Maimoni­des, freilich ohne den sicheren Sinn für die Form des Begriffes, welchen dieser in der Rechtswissenschaft gelernt hatte, einmal mahnend als die menschliche Aufgabe hingestellt hat: „Non sit alterius, qui suus esse potest“, — „Nicht sei eines anderen, wer ein eigener sein kann“. Für die anderen zu leben und doch im Eigenen zu stehen, Maimonides hat es erfüllt.

Das war dieser Mann, Rabbi Moses ben Maimon, der Rambam. Seiner gedenken, heißt, an uns eine Frage richten, die uns selbst gilt.


[1] Vortrag anläßlich der Gedenkfeier zur 750. Wiederkehr des Todestages des großen Gelehrten Moses Maimonides am 7. Juli 1954 in Düsseldorf.

Hier der Text als pdf.

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