Karl Rahner über Gefängnisseelsorge (1959): „Wer sich also dem tötenden Abenteuer der bedingungslosen Liebe zum Nächsten aussetzt, der findet Gott, und wer ihn findet, kann den Nächsten lieben wie sich selbst. Er erhält die Klarheit des Blickes desjenigen Glaubens, der die Wirklichkeit Gottes auch noch im verlorensten Menschen sieht, die ihn in aller Wahrheit mit demütiger Ehrfurcht liebenswert macht.“

Gefängnisseelsorge

Von Karl Rahner

Wenn Sie als Seelsorger in Strafanstalten zu einer priesterlichen Besinnungsstunde zusammenkommen, dann kann der Sinn dieser Stunde gerade nicht darin bestehen, daß in ihr bedacht wird, wie dieses Amt für die fruchtbar und segensreich wird, die Ihrer Sorge anvertraut sind, sondern es muß diese Besinnung darauf­hin gehen, wie dieser Seelsorger in diesem seinem Amt selbst seinen Gott findet. Damit ist das Amt der selbstlosen Sorge für andere, die christliche Nächstenliebe, nicht in Egoismus verkehrt. Es ist vielmehr nur der einfachen und doch fundamentalen Ein­sicht Raum gegeben, daß wir in unserem priesterlichen Dasein nur insoweit anderen dienen können, als wir selbst von der Gnade dessen erfüllt sind, für den wir Zeugnis ablegen, den wir in seinem Wort, seinen Sakramenten und seiner Gnade den Menschen ver­mitteln sollen. Daran ändert auch die objektive amtliche Sendung nichts noch die Gewalt des opus operatum. Denn beides muß von den Menschen angenommen werden, damit es wirksam wird Beides wird aber nur angenommen, wenn die, die es bringen, durch ihr eigenes christliches Dasein ihre objektive Sendung und ihre objektive Gabe glaubwürdig machen. Man kann auch nicht nur sagen, daß der selbstlose Dienst selbst heilige und daß, je mehr ein Mensch darin sich selbst vergißt und sich stirbt, er er­füllt werde von der Gnade Gottes und so am ehesten Aussicht habe, durch Zeugnis der Kraft und des Geistes den Nächsten zu gewinnen. Ein solcher Satz ist in seinem positiven Sinn wahr. Er würde sich aber in eine gefährliche Lüge verwandeln, wollte man meinen, er könne die einzige und alles umfassende Norm für unsere Sendung sein. Es gibt im geistlichen Leben keine solche Maxime, die für sich allein die totale Formel des ganzen geist­lichen Leben abgeben könnte. Man kann nirgends alles in einer Übung haben. Denn wir sind Kreaturen, die auch in dieser Hin­sicht keine bleibende Stätte haben, sondern in demütiger Endlich­keit vielerlei tun müssen, um das Ganze zu erreichen. So muß man sich um seine eigene Nähe zu Gott bemühen, um dem Nächsten dienen zu können, und man nähert sich Gott, indem man dem Nächsten dient: jedes hängt vom anderen ab und beides ist doch nicht dasselbe. Und darum sind wir in einer solchen Besinnungs­stunde auch von der Aufgabe und vom Amt her geheißen, uns die Sorge für unser eigenes Heil mitten in unserer Aufgabe zu Herzen gehen zu lassen.

Was in dieser kleinen Besinnungsstunde bedacht werden mag, sei in die zwei Sätze zusammengefaßt: In den Gefangenen, die unserer Seelsorge anvertraut sind, finden wir Christus den Herrn; in diesen Gefangenen finden wir uns, indem wir in ihnen unsere eigene verborgene Situation erblicken.

Christus in den Gefangenen

Wir finden Christus den Herrn in den Gefangenen; wir sollen ihn finden, er ist da wirklich so zu finden, daß wir ihm selbst für uns zu unserem Heil und unserer Seligkeit begegnen.

Ich brauche Sie nicht an Ihre Erfahrung als Strafanstaltsseel­sorger zu erinnern. Sie haben diese Erfahrung, die bittere, die grausig-realistische selbst besser, als ich sie Ihnen schildern und nahebringen könnte: die Erfahrung der gescheiterten menschlichen Existenzen, der geistig und moralisch Defekten, der Labilen, der Psychopathen, der Boshaften, der Hochstapler, der Zynischen, der Heuchler und Lügner, der bloß Triebhaften, der Opfer der Ver­hältnisse, der Süchtigen, der haltlos Rückfälligen, der religiös Un­empfänglichen, der armen Teufel, der Imbezillen. Auch wenn diese Erfahrung nicht die einzige ist, die Sie in den Gefäng­nissen machen, auch wenn Sie auch da Menschen begegnen, die Sie von vornherein nicht anders empfinden als sonstige — normale und anständige — Menschen, so hat Sie doch schon oft ein Grau­sen über diese Menschheit gepackt, die Ihnen da begegnet; Sie waren schon oft die Be­trogenen, die Dummen, die mit Undank Belohnten, diejenigen, die vergebens an verschlossene Herzen pochten, die Hilfe leisteten, um dafür als Vertreter verhaßter In­stitutionen selbst abgelehnt zu werden; Sie haben Vergeblichkeit erlitten und die Hoffnungslosigkeit solcher Bemühungen; Sie wer­den oft den Eindruck gehabt haben, daß all Ihre Mühe, Sorge und Liebe, Geduld und Arbeit in einen leeren Abgrund fällt, aus dem keine Antwort zurückkommt; Sie sind Menschen, die dem Bösen dauernd begegnen in seiner dumpfen, gereizten, hoffnungslosen, häßlichen Wirklichkeit. Sie wissen all das besser als ich. Und nun lesen wir das Wort Christi, das unglaubliche, aufreizende, aben­teuerliche Wort: Kommt, ihr Gesegneten meines Vaters, nehmt das Reich in Besitz, das euch seit Anbeginn der Welt bereitet ist … denn im Gefängnis war ich und ihr seid zu mir gekommen … Da werden die Gerechten fragen: Herr, wann haben wir Dich im Gefängnis gesehen und sind zu Dir gekommen? Der König wird ihnen zur Antwort geben: „Wahrlich, ich sage euch: was ihr auch nur einem von meinen geringsten Brüdern getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,34-40).

Ich meine, Sie sollten sich zunächst einfach freuen über dieses Wort. Es gilt Ihnen, es gilt ohne jede Übersetzung Ihnen, so, wie es damals gesprochen wurde. Es braucht nicht übersetzt, angepaßt, auf neue Verhältnisse übertragen werden. Sie leben eine ganz ur­tümliche, ewig bleibende Lebensform, die Jesus genau in ihrer bleibenden Gestalt gesehen hat, sie ausspricht und die Aussage die­ses Daseins emporhebt und konsekriert zu einem Wort des Gerich­tes Gottes, das alle Weltgeschichte vollendet und den letzten Sinn dieser Geschichte keltert und verwandelt in den Wein ewiger Freude. Es gibt wenig Berufe, die sich solcher Worte erfreuen kön­nen, die unverwandelt sich so aus dem Munde des Menschensoh­nes anrufen lassen können mit einem ganz realistisch menschli­chen und ganz himmlisch göttlichen Wort.

Aber dann müßten Sie erschrecken über dieses Wort: Es ist Ihnen geboten, den Herrn in denen zu finden, die Sie im Gefäng­nis besuchen. Welch erschreckende und überfordernde Aufgabe! Sagen Sie nicht, das Wort sei nicht so ganz ernst zu nehmen, ver­langt sei doch im Grunde ein wenig menschliches Mitleid, ein wenig vernünftig dosierte Hilfe, ein nüchterner Realismus, der sich nichts vormachen läßt, aber auch nicht zu schnell über die Mensch­heit verzweifelt, sondern in einem humanistischen Optimismus an das Gute in jedem Menschen glaubt, es weckt und nochmals eine Chance gibt, es besser zu machen, und wo das nicht mehr geht, eben sich damit tröstet, daß es Psychopathien gibt, die ebensowenig zu heilen sind wie andere Krankheiten und einem auch nicht mehr zu Herzen gehen sollen als diese anderen Krankheiten, die schließlich alle zum Tode führen, unheilbar sind, ohne daß darum die Menschheit sich ihre gute Laune verderben läßt. Nein, und abermals nein. Es ist von Ihnen mehr verlangt. Sie sollen den Herrn in den Gefangenen finden; er soll Ihnen selbst zu Ihrem eigenen Heil in diesen Gefangenen begegnen. Sind wir da nicht auch in Versuchung, im Namen des nüchteren Realismus, der Ver­nunft und unserer Erfahrung ungeduldig und unsentimental (so will es uns scheinen) den Herrn zu fragen: wann haben wir Dich im Gefängnis gesehen? Sind wir nicht versucht zu sagen: wir waren im Gefängnis, aber Dich haben wir dort nicht gefunden? Wir haben erbärmliche Menschen gefunden, arme Teufel und zynische Verbrecher, ganz gewiß. Aber Dich? Nein, Dich nicht. Wir werden vielleicht sagen: wir haben nichts dagegen, wenn Du so groß­zügig und freundlich bist, diese Dienste und unsere Gefängnisbe­suche so anzurechnen (in einer großartigen himmlischen Fiktion), als ob wir das alles Dir erwiesen hätten. Gut, schön und recht, wir wenden nichts gegen eine solche Fiktion ein. Aber sie bleibt eine Fiktion. Du bist Du, und diese Leute sind eben diese Leute. Und Dich haben wir in den Gefängnissen nicht gefunden. Dort am allerwenigsten. Jesus aber sagt, daß es anders ist. Jesus ver­wirft unseren ganzen Realismus als unwirklich. Er identifiziert sich nicht in einer juridischen Fiktion mit diesen Menschen, son­dern so, daß wir in aller Wahrheit ihm in diesen Menschen be­gegnen. Wir müssen dieses Wort stehenlassen, wie es steht. Und es glauben. Wir können darüber nachsinnen, wie es wahr sein könne, aber wir müssen es wahr sein lassen. Wir können darüber erschrecken, wie wenig wir von der sich entäußernden Liebe Got­tes in Christus, von der Agape Gottes begriffen haben müssen, wenn wir nicht begreifen, daß es wirklich eine Liebe in der Welt, die Liebe Gottes nämlich gibt, die annimmt, wo wir nichts mehr sehen, was man annehmen könnte, eine Liebe, die sich nicht gnädig herabläßt, sondern sich wirklich in aller Wahrheit und Wirksamkeit mit diesen Sündern identifiziert, eine Liebe, die sich entäußert und exponiert, einläßt und verschwendet, in der der Liebende sich selbst nur mehr durch den Geliebten hindurch findet. Wir können nach­denken, daß diese Liebe schöpferisch ist und verwandelt, daß sie ernsthaft und radikal bis zum Tod, zum Tod am Kreuz ist, daß sie sich hinabgewagt hat in die äußerste Leere der gottverlassenen, töd­lichen Liebelosigkeit und da gesiegt hat, da alles angenommen hat, daß sie eine Liebe war, die den Sohn Gottes zum Fluch werden ließ, um wirklich zu retten, was wirklich unentrinnbar verloren ist, was von sich aussichtslos und hoffnungslos tot ist, was sich ingrimmig sperrt gegen die Liebe, was mit kaltem Hohn und zynischer Eindeu­tigkeit Liebe, Reinheit, Güte und Treue als verlogene Utopien abtut. Mit solchen Sündern hat sich diese Liebe in aller Wirklichkeit identifiziert. Denn sonst wären sie nicht erlöst, denn sonst wäre nur gerettet, was von sich aus heil ist (was es aber nicht gibt, auch wenn es oft den Anschein hat und wir darum meinen, dieses im Grunde doch Gute würde von Gott angenommen, weil es gut ist, anstatt zu glauben, das wirklich Verlorene werde angenom­men, damit es gut werde). Wir müssen darüber nachdenken, glaubend und gegen unsere eigene „Erfahrung“, daß der Herr in aller Wahrheit in diesen Verlorenen ist, denen wir in den Gefängnissen begegnen: in ihnen ist durch seinen Liebeswillen, der das Nichtige und Verlorene beim Namen ruft und schafft, in ihnen ist durch seine Geduld, durch die Allmacht, die auch in diesem Strandgut der Weltgeschichte noch die Person, eine Ewigkeit, einen Bruder des ins Fleisch gekommenen Wortes Gottes, einen Geliebten, einen mit göttlicher Ernsthaftigkeit Ernstzunehmenden sieht, besser: schafft, indem er ihn liebend anblickt. In ihnen ist ER in aller Wahrheit, weil das Urmysterium der einenden und schöpferi­schen Liebe, die Gott selbst ist, nicht verstanden und damit das Wesen des Christentums radikal verkannt ist, wenn dieses Un­wahrscheinliche, Paradoxe und unsere kurzsichtige Erfahrung radi­kal Überwältigende nicht bedingungslos glaubend angenommen wird.

Aber, wenn wir das Wort des Herrn verstehen wollen und den Herrn in den Gefangenen finden wollen, müssen wir nicht nur glaubend und betend darüber nachdenken, daß er in ihnen ist, son­dern noch mehr darüber, wie man ihn nun selber in ihnen finden kann. Denn das ist ja das Erschütternde, das tödlich Gefährliche, daß man ihn verkennen kann, obwohl er in diesen seinen verlo­renen und armseligen Brüdern ist, eins ist mit ihnen. Wir kön­nen in ihnen an IHM vorbeilaufen, unsere Augen können gehal­ten sein, unser Herz kann stumpf und verschlossen bleiben, so daß wir ihn nicht sehen. Immer zwar werden wir ihn in dieser Zeit des Glaubens und nicht des Schauens nur wie verhohlen finden. Immer werden wir die verwundert Fragenden sein, wenn der letzte Tag kommt, ebenso fragen wie die, die den Herrn nicht be­sucht und nicht gefunden haben: Wann haben wir Dich im Ge­fängnis gesehen und sind zu Dir gekommen? (Mt 25,39-44). Die Erfahrung also wird immer so sein, daß wir den Eindruck haben, er sei es nicht, man könne ihn in den Gefangenen nicht finden. Aber auf dieses Finden, obwohl man meint, nicht gefunden zu haben, auf dieses Sehen, obwohl man den Eindruck hat, ins Finstere zu schauen, auf dieses Haben, obwohl man meint, verloren zu haben, kommt es im Christentum gerade an. Und so auch hier. Wir müssen ihn in den Gefangenen suchen und finden. Und es ist nicht leicht. Man kann ihn auch übersehen und blind an ihm vorbeigehen, selbst wenn man mit dem Leib und mit seiner „Pflichterfüllung“ in den Gefängnissen anwesend ist, selbst wenn man im Rufe eines guten Gefangenhausseelsorgers steht. Was heißt nun, Christus selbst in seinen Brüdern im Gefängnis finden? Es heißt zunächst einmal: ehrfürchtige Demut vor dem anderen Menschen, der ein Kind Gottes und ein Bruder Jesu Christi ist, ein Berufener, ein Geliebter Gottes, ein von der Ge­walt göttlicher Liebe Umfangener. Wir wissen alle (wer es leugnen würde, wäre zumindest ein jansenistischer Häretiker, der am allge­meinen Heilswillen Gottes zweifeln würde), daß jeder noch in diesem Leben pilgernde Mensch zum Heil berufen, von Gott ge­liebt, von Christi Gnade umfangen ist, selbst wenn er sie noch nicht in Freiheit angenommen hat. Wir wissen, daß wir im Grunde keinen richten können, von gar niemandem mit absoluter Sicher­heit sagen können, daß er in Gottes Gnade lebt, und so aber auch von gar niemand sagen können, daß er sie verloren hat. Und so wie wir mit unbedingter Sicherheit im Vertrauen auf Gott für uns selbst die barmherzige Gnade Gottes erhoffen müssen und das ewige Heil, so haben wir dieselbe Pflicht der Hoffnung (da wir den Nächsten lieben müssen wie uns selbst) auch für jeden Nächsten. Und wir wissen, daß in jedem Menschen ein ewiges Geschick am Werden ist und in aller Belanglosigkeit des Alltags und der erbärmlichen Dutzendware Mensch heranreift. Das alles wissen wir. Wir haben es nie bestritten. Aber wir leben es nicht. Diese unendliche Würde, dieser unverlierbare Adel, die Tatsache, daß jeder Mensch unend­lich mehr ist als ein Mensch, ist bei uns weitgehend eine sehr dünne sonntägliche Ideologie, die wir theoretisch nicht bestreiten, weil sie uns nicht weh tut und uns im Alltag nicht hindert, den Normen und Haltungen des Alltags zu folgen. Wenn aber im nüchternen Alltag unser Blick, den wir auf den Nächsten richten, hindurchginge durch alle degenerierte Leiblichkeit, durch alle Fas­saden seiner Triebhaftigkeit, seiner Dressate, seiner physiologisch bedingten seelischen Physiognomie, hindurch durch alles, was die­ser andere selbst von sich denkt und will, durch alle Selbstinterpre­tationen, die ja nie die letzte Wahrheit eines Menschen von sich selbst sagen können, hindurch durch alle schicksalsbedingten Ab­läufe in einem solchen Leben aus Vererbung, Erziehung, Milieu, verborgener Krankheit, Psychopathologien, ja selbst noch hin­durch durch wahre, furchtbare Schuld, weil auch sie nicht das Letzte ist, weil auch sie noch (wie Paulus sagt) umfangen und eingeschlossen ist vom größeren und mächtigeren Erbarmen Got­tes, wenn so unser Blick durch alles Vorläufige hindurch das Eigentlichste und Letzte im anderen Menschen suchte und fände, Gott, seine Liebe, sein Erbarmen, die diesem Menschen eine ewige Würde verliehen hat und ihm in der unbegreiflichen Selbstverschwendung göttlicher Torheit der Liebe reuelos sich selbst anbietet und anträgt, wenn dieser Blick da wäre nicht in einer Feierstunde, sondern dort, wo uns dieser Mensch mit seinem stumpfen Blick, seiner Unempfänglichkeit und seinem Armeleute­geruch begegnet, wo er uns mürrisch und gereizt, böse und unbe­lehrbar, dummschlau und raffiniert entgegentritt, dann würden wir diesem Menschen wirklich mit ehrfürchtiger Demut begegnen, die eigentlich uns in uns selbst auch keine höhere Würde und heiligere Berufung erkennen lassen kann, als sie in diesem anderen ist. Und wenn wir ihn so in ehrfürchtiger Demut anblickten, dann würden wir in ihm Christus sehen, das menschgewordene Wort des Vaters, das überall (ob man es weiß oder nicht) verehrt und an­gebetet wird, wo ein anderer Mensch absolut ernst genommen wird, wo der Mensch weiß, daß es gar keine schlechte und furcht­bare Erfahrung mit dem Mitmenschen geben kann, die den ande­ren Menschen so durchschauen könnte, daß sie ins Leere blickte anstatt in das Geheimnis Gottes, in dem das ewige Bild diese» Menschen verborgen ist, ohne das (wie Angelus Silesius sagt) Gott keinen Nu leben könnte. Es gibt den Menschen in Natur und Gnadenbestimmung, weil Gott den Gottmenschen, weil ER sich selbst als Menschen gewollt hat, weil es keine Wahrheit Gotte, mehr gibt, die nicht die Wahrheit des Menschen wäre, weil Gott (aus freier Gnade ist es so, so aber wirklich so) nicht wäre, wun­der Mensch nicht. Und dort also, wo die erbärmlichste Menschkreatur und der dummgemeine Schuft noch ehrfürchtig und demütig ins eigene Herz aufgenommen wird, da wird Christus aufgenommen und gefunden. Und (darf man so zu sagen wagen?) da am besten Denn wo dürfen wir eher hoffen, daß es uns gelungen sei, Gott zu finden, als in solchem Fall? Dort, wo uns die eigene Größe und Schönheit des Menschen, seine eigene Güte und Herrlichkeit bezaubert, mag dies zwar auch ein Tor sein in die Unendlichkeit der Größe, Schönheit, Güte und Herrlichkeit Gottes hinein. An sich. Aber wir bleiben in einem solchen Fall so leicht in der menschlichen Größe als solcher stecken. Das können wir nicht bei den armen Sündern, wenn wir das Bleibende und Unzerstörbare in ihnen entdecken, wenn wir ehren, was sie vielleicht selbst in sich nicht achten, wenn wir an Gott in ihnen glauben, den sie selbst nicht in sich zu finden meinen. Und weiter: es ist noch ein anderes Gottfinden im gedemütigten Nächsten möglich. Wenn wir dem er­bärmlichen Nächsten so begegnen, wie wir es sollten, wenn wir ihn achten, ohne von einem Gefühl instinktiver, physiologisch be­dingter Sympathie getragen zu sein, wenn wir verzeihen, obwohl wir uns dabei nur als die dumm Geprellten vorkommen, wenn wir uns wirklich verschwenden, ohne durch das Gefühl innerer Be­friedigung belohnt oder durch Dankbarkeit entschädigt zu wer­den, wenn gerade solche Begegnung mit dem Nächsten uns unsag­bar einsam macht und alle solche Liebe nur wie ein vernichtender Sprung in eine absolute Leere erscheint, dann ist eigentlich die Stunde Gottes in unserem Leben, dann ist ER da. Vorausgesetzt, daß wir nicht umkehren, vorausgesetzt, daß uns nicht unheimlich wird, daß wir uns nicht anderswo und -wie schadlos halten, daß wir nicht klagen, daß wir nicht uns selbst bemitleiden, daß wir schweigen, daß wir die Bodenlosigkeit und die Torheit solcher Liebe wirklich wagen und annehmen. Dann ist die Stunde Gottes: dann ist die scheinbar unheimliche Bodenlosigkeit unserer Exi­stenz, die sich auftut in dieser hoffnungslosen Erfahrung des Nächsten, die Bodenlosigkeit Gottes, der sich uns mitteilt, das Anheben des Kommens seiner Unendlichkeit, die keine Straßen mehr hat, die wie ein Nichts gekostet wird, weil sie die Unend­lichkeit ist. Wenn wir in solcher Begegnung mit dem Nächsten, in der wir durch das Irdische an ihm in seiner Haltlosigkeit hindurchzubrechen und ins Leere zu fallen scheinen, uns losgelassen haben und uns nicht mehr angehören, wenn wir uns selbst ver­leugnet haben und nicht mehr machtvoll oder selbstgenießend über uns verfügen, wenn alles in solcher Begegnung und wir selbst uns wie in eine unendliche Ferne weggerückt sind, dann fangen wir an, Gott zu finden, dann fängt diese einsame und schweigende Leere des inwendigen und wie verstörten Menschen an, sich mit Gott zu erfüllen, dann finden wir Gott, den Christus, der in die Hände des Vaters fiel, da er sterbend seine Gottver­lassenheit bekannte. Das mag uns am Anfang ungewohnt vor­kommen, dieses Sichselbstnichtmehrhaben mag uns erschrecken und uns die Versuchung überkommen, wie erschreckt in die Nähe, in die Dankbarkeit, in das spürbare Geliebtwerden zurückzuflüchten. Ja, wir werden dies sogar oft tun dürfen und müssen. Aber wir sollten doch allmählich lernen, in diesem Sterben das Leben, in dieser Einsamkeit die Nähe, in dieser Verlassenheit Gott zu finden. Erst wenn wir dies können, wenn wir in dieser Enttäu­schung der Liebe zum Nächsten Gott selbst finden und erfahren, wird unsere Liebe zum Nächsten reif und Tat des Heiligen Gei­stes in uns. Sie kann dann wirklich langmütig und geduldig, ohne Arg werden und immer hoffend und nie enttäuscht sein. Sie findet ja immer Gott. Man muß nicht meinen, dadurch werde der Nächste und vor allem der enttäuschende Nächste nur das reine Mittel, an dem man jene Leere schaffende Aszese und Ent­sagung übt, die Gott in freiem Erbarmen mit seiner Nähe unsag­bar und innig erfüllt. Denn all das geschieht ja nur, wenn man den Menschen wahrhaft liebt, wenn man ihn also wirklich an­nimmt so, wie er ist, wenn man aus dieser Liebe kein Mittel macht. Aber wenn dann unbeabsichtigt die Gott liebende Liebe des Näch­sten Gott findet, indem sie den Nächsten sucht, dann wird gerade diese einsame Erfahrung Gottes, die in diesem Sterben der Selbst­sucht geschieht, die letzte Möglichkeit und Kraft, den Nächsten „bis zum Ende“ zu lieben. Man stirbt ja an dieser Liebe; wahr­haft sterben ohne Verzweiflung (und verzweifelt kann man nicht mehr lieben) kann man nur, wenn man in das unendliche Leben Gottes hineinstirbt. Man muß also den Nächsten und nicht seine eigene Erfüllung und Vollendung lieben und suchen, aber bis zum Ende kann man es nur, wenn man dabei Gott findet und diese wahre Liebe zum Nächsten umfaßt und erlöst, geborgen und be­freit ist dadurch, daß sie in der Liebe zu Gott geschieht, als Fin­den Gottes in Christus. Wer sich also dem tötenden Abenteuer der bedingungslosen Liebe zum Nächsten aussetzt, der findet Gott, und wer ihn findet, kann den Nächsten lieben wie sich selbst. Er erhält die Klarheit des Blickes desjenigen Glaubens, der die Wirk­lichkeit Gottes auch noch im verlorensten Menschen sieht, die ihn in aller Wahrheit mit demütiger Ehrfurcht liebenswert macht.

Wir finden Christus den Herrn in den Gefangenen; wir sollen ihn da finden; er ist da wirklich zu finden, so zu finden, daß wir ihm auch selbst für uns und zu unserem Heil und unserer Selig­keit begegnen.

Wir selbst in den Gefangenen

Wir finden in den Gefangenen uns selbst, indem wir in ihnen unsere eigene verborgene Situation erblicken.

Jeder Mensch läuft sich selbst immer wieder davon. Nur voll­endete Heilige könnten sagen, daß sie sich selbst nicht mehr über sich selbst betrügen. Nur die Vollendeten halten die Wahrheit Gottes in sich nicht mehr nieder. Die Wahrheit, daß wir Sünder sind; die Wahrheit, daß wir uns selbst suchen; die Wahrheit, daß wir in tausend groben und subtilen Weisen immer Gott und uns selbst zu dienen suchen; die Wahrheit, daß wir feige und bequeme, faule und störrische Knechte Gottes sind; die Wahrheit, daß wir das nicht tun, was wir tun sollten: Gott aus ganzem Herzen und mit allen Kräften lieben. Wir können auch mit der Schrift und den Lehräußerungen der alten Kirche diesen Sachverhalt der von uns selbst niedergehaltenen Wahrheit so aussagen, daß wir bekennen: wir sind die unfrei Gefangenen, wenn uns nicht der Geist Gottes, seine Gnade, befreit. Man kann in einem bürgerlich-forensischen Sinn frei sein, man kann verantwortlich sein, nicht nur vor den Menschen, sondern auch vor Gott und seinem sehr gnä­digen und gerechten Gericht: wenn man nicht vom Geiste Gottes befreit wird zur Freiheit Christi, ist man mit dieser seiner irdi­schen Freiheit und seiner daraus entspringenden Verantwortung vor Gott dennoch im Kerker seiner Schuld, seiner Heillosigkeit und Unfähigkeit zu jeder Heilstat rettungslos und hoffnungslos Ge­fangener. Und dessen sind sie, die wir besuchen, ein Bild, ein Bild aller derer, die in Finsternis und Todesschatten sitzen, ein­gekerkert im Verlies ihrer Endlichkeit, ihrer durch Christus noch nicht befreiten, unter der Sünde, dem Fleisch, der Macht des Bösen versklavten Freiheit. Bild dieses Gefängnisses der „Welt“ ist das Gefängnis, in dem sich Ihre Tätigkeit abspielt, nicht in einem äußerlichen, künstlichen Sinn, nicht durch eine künstliche Analo­gie, sondern Bild als Erscheinung, als wahrer realer Typos, als Sichtbarwerden einer geheimen Wirklichkeit, die sich selbst in diesem realen Symbol ihre Erscheinung und Greifbarkeit schafft. Denn welche immer die nächsten Ursachen der Gefängnisse sein mögen und der Not ihrer Insassen, die eine und letzte Ursache ist die Schuld der Menschheit von Anbeginn an, die Schuld, die sich fortzeugt durch alle persönliche Schuld der einzelnen, die audi in Not, Krankheit und Unglück inkarniert uns anblickt, die Schuld, die auch in unserem eigenen Leben Macht ist, so daß, was wir die Gefängnisse und Zuchthäuser nennen, eigentlich für das Christ liehe Verständnis des Daseins doch nur Einzelzellen greifbarer Art jenes einen großen Gefängnisses sind, das die Schrift die „Welt“, „diesen Äon“, die „Welt, die im argen liegt“, den Herr­schaftsbereich des Fürsten dieser Welt, den Machtbereich dei Mächte der Finsternis, des Todes und des Bösen nennt. Sie gehen nicht aus einer Welt der Harmonie, des Lichtes und der Ordnung in eine Welt der Schuld und der Unfreiheit, wenn Sie aus Ihrem Daseinsraum in die Gefängnisse gehen, Sie bleiben dort, wo Sie immer sind. Es wird nur für die Sinne des Leibes deutlicher, was uns immer umgibt, die Unfreiheit der Schuld, die Gefangenschaft, aus der uns nur Christi Gnade allein zur Freiheit der Kinder Gottes befreien kann. Aber (so könnte man einwenden) wir selbst sind doch, auch wenn dies alles wahr ist, die Erlösten, wir sind doch die zur Freiheit Befreiten, wir sind nicht mehr unter der Knechtschaft der Sünde, des Gesetzes, der Vergeblichkeit und des Todes! Wir sind es; wir hoffen, daß wir es sind; wir machen jeden Tag aufs neue unser Herz fest in dieser Hoffnung, die oft, ach, wie eine Hoffnung gegen alle Hoffnung erscheinen mag. Wii trösten unser Herz jeden Tag neu mit dieser Hoffnung, die allein der Glaube, nicht unsere Erfahrung, nicht unser pharisäisches Selbstbewußtsein uns gibt und geben darf. Aber auch so sind wir, so lange wir in der Hoffnung pilgern, nicht in der Schau, auf Hoffnung erlöst sind noch laufen und nicht am Ziel sind, immer noch so wie Gefangene, denen sich eben die Tür des Kerkers auf­tut, die plötzlich wie durch ein unerwartetes Wunder der Begnadi­gung geheißen werden, zu gehen, die wie Petrus vom Engel in die Seite gestoßen werden: schnell, steh auf (Apg 12,7), gürte dich und folge mir, während eben die Ketten von unseren Händen fallen. Wir sind die, die gerade in die Freiheit kommen, sie nur dann erlangt haben, wenn sie nicht meinen, sie sei ihr selbstver­ständlicher Besitz, wenn sie in Furcht und Zittern wissen, woher sie kommen, wenn sie wissen, daß sie die Freiheit Christi nur dann ungestraft als ihre Gabe empfangen können, ohne daß sie zur letzten Verdammnis wird, wenn sie als die Errettung aus der Sklaverei durch die Gnade Gottes allein entgegengenommen wird. Und weiter: selbst wenn wir die Erlösten sind, selbst wenn in denen, die in Christo Jesu sind, in den Glaubenden und Liebenden, nichts Verdammungswürdiges mehr sich findet, selbst wenn der Grund unseres Wesens, seine innerste Mitte, begnadet und vom heiligen Pneuma Gottes erfüllt ist, selbst dann also, wenn, was in uns ist, nicht mehr uns selbst, die unteilbaren Subjekte vor dem Gericht Gottes, verdammlich macht, auch dann ist in uns in einer letztlich nicht auflösbaren Gleichzeitigkeit das Erbe der Vergangen­heit noch da. Oder lebt in uns nicht die Begierlichkeit, ist nicht auch in uns, was in der Welt ist: Augenlust, Fleischeslust und Hoffahrt des Lebens? Sind wir nicht die Kranken, die Triebhaften, die nur zu leicht sich selbst Betrügenden, die Egoisten, die in dieser oder jener Hinsicht (in irgendeiner leichteren Form wenig­stens) Süchtigen? Wie, wenn einer käme, wenn Gott käme und nicht nur mit der kalten Unerbittlichkeit eines Psychotherapeuten, sondern mit der Unbestechlichkeit der letzten Wahrheit, welche die des Dreimalheiligen ist, uns ins Herz leuchtete, unsere Motive, unsere Haltungen, unsere Dressate, unsere versteckten und vor uns selbst durch uns verborgenen geheimen Antriebe analysierte, wenn er uns selbst nackt und bloß uns konfrontierte, so, wie wir sind, nicht so, wie wir gerne vor uns erscheinen, müßten wir dann nicht erschreckt vor diesem Richter der Herzen niederfallen: Herr, geh weg von mir, denn ich bin ein sündiger Mensch; würde uns dann nicht seine Gnade, die uns heiligt, vorkommen wie etwas, das wir eigentlich gar nicht sind, müßten wir dann nicht weinend und erschüttert sagen: Das bist Du, die Unbegreif­lichkeit Deiner Liebe, die wie sinnlose Verschwendung Deines Erbarmens; ich aber, ich bin das nicht: ich bin der dumpf und feig in mir selbst Verfangene, ich bin jenes wirre und verwirrte Bündel von Antrieben, von Zufällen, von äußerlich über mich verfügenden Schicksalen, bei dem man nie weiß, was jetzt das Eigentliche und Echte ist, was Fassade, was Wirklichkeit, ob das Schäbige die De­mut der Tugend in mir oder ob die Tugend die Verkleidung des Erbärmlichen in mir ist? Müßten wir dann nicht weinend beten: Wenn Du der Sünde, Herr, gedenken willst, Herr, wer kann vor Dir bestehen; geh nicht mit mir ins Gericht, vom Verhohlenen in mir reinige mich! Müßten wir dann nicht erkennen und anerken­nen, daß wir uns von jenen armen Sündern, die wir in den Ge­fängnissen besuchen, nicht sehr wesentlich unterscheiden? Müßten wir nicht eher sagen, daß wir uns nur dadurch von ihnen abheben, daß der „fomes peccati“, der in gleicher Weise in ihnen und in uns ist, uns nur durch Umstände, die nicht unser Verdienst, son­dern Anlage, Geschick, Zufall sind, nicht so wie jene auch mit der äußerlichen Ordnung der Menschen und der Gesellschaft in Kon­flikt gebracht hat? Wir können Gott auch für diese Umstände dankbar sein. Und sogar sehr. Aber unterscheidet das uns so sehr von jenen, daß wir, weil wir die Erlösten sind, uns selbst nicht mehr in ihnen erblicken könnten, daß wir leugnen müßten, daß aus ihnen unser eigenes Bild uns demaskierend anblickt? Zumal, da wir ja nie sagen können, jene seien nicht in der Gnade Gottes, da alles, was uns in ihnen begegnet, genau so gut wie ihre Schuld auch ihre bloße Krankheit und die Schuld der Gesellschaft sein kann, an der wir vielleicht auch teilhaben und von der auch wir unsere Zinsen des Wohlbehagens, der bürgerlichen Sicher­heit und Saturiertheit bezogen haben und dauernd beziehen. Zumal, da auch wir nicht sicher wissen, ob wir in Gottes Gnade sind. Es bleibt dabei: wir begegnen uns, wenn wir in den Gefängnissen den Gefangenen begegnen; diese halten uns unser eigenes Bild entgegen, jenes Bild, dem wir uns stellen müssen, täglich aufs neue, wenn wir für uns selbst die Gnade Gottes finden wollen, die sich nur denen gibt, die sich als Sünder bekennen und ihr Dasein nur auf eines bauen, auf die unbegreifliche Gnade Gottes, die sich der Verlorenen erbarmt. Wir haben keine Wahl: wir gehen entweder durch die Gefängnisse wie der Pharisäer: Herr, ich danke Dir, daß ich nicht bin wie einer von diesen, wie die Räuber, die Betrüger, die Ehebrecher, oder wie der Zöllner im Evangelium bei Lukas: dieser stand in der Ferne, in jener Ferne, in der unser unerlöstes Empfinden die Gefängnisse von Gott entfernt wähnt, er schlug an seine Brust und nicht an die der anderen (wie wir es gern tun bei unseren Besuchen im Gefängnis) und sagte: Gott sei mir Sünder gnädig (Lk 18,9-14). Nur wenn wir in den Gefängnissen auftreten wie der Zöllner im Tempel, wandelt sich für uns arme Sünder das Gefängnis zu einem Tempel, von dem wir gerechtfertigt nach Hause gehen. Sonst gehen wir in das wahre Gefängnis unserer eigenen Blindheit, Verlogenheit und des Stolzes ein, dem Gott widersteht, während vielleicht diejenigen, die drin­nen bleiben, die Gerechtfertigten und die vor Gott Freien sind.

Es bleibt dabei: Wir finden in den Gefangenen uns selbst, indem wir in ihnen unsere eigene verborgene Situation erblicken.

Jedes Leben und auch das heiligste Amt hat einen Todfeind: die Gewohnheit und die Routine. Ach, wir haben die Gewohnheit und die Routine nötig. Wir können nicht lange ohne sie leben. Sie macht uns vieles leichter, was sonst bald über unsere Kräfte ginge, sie mag oft die milde Narkose sein, die Gott für den Schmerz des Daseins uns gnädig gewährt hat. Aber sie ist auch der Todfeind unseres Lebens und unseres heiligen Amtes. Sie stumpft ab, sie bewirkt, daß wir weitermachen, obwohl das Eigentliche, der Geist und die Liebe schon längst aus unseren Werken gewichen sind. Sie kann uns so ein „gutes Gewissen“ geben, wo wir ein schlechtes haben sollten. Sie macht, daß wir auf unsere guten Taten pochen, anstatt an unsere Brust zu schlagen, weil darin so wenig Liebe, Herzlichkeit, Demut und Ehrfurcht vor den Menschen, auch vor den aus der Gesellschaft Ausgestoßenen, lebt. Wir müssen diese tötende Gewohnheit immer aufs neue wie einen listigen und töd­lich gefährlichen Feind bekämpfen. Auch in diesem Ihrem Amt. Gnade Gottes ist es, wenn seine Vorsehung Ihnen in diesem Kampf beisteht, beisteht nicht nur durch die Gnade heiliger Hirten­freude über den, den man zur Liebe Gottes heimführen darf, son­dern auch durch die spürbaren Enttäuschungen und Bitterkeiten dieses Amtes, durch alle seine Erfolglosigkeit, durch all sein Unbeachtetbleiben bei den Menschen, durch alles Zermürbende und Quälende, das mit ihm verbunden sein kann. Wenn diese Erleb­nisse, die harten und bitteren, Sie aus der Mittelmäßigkeit der Gewohnheit und Routine herauszwingen, wenn sie Sie vor die Frage stellen, was Sie eigentlich in solchem Amt suchen und er­streben, wenn sie Sie zur Besinnung zwingen über das, was Sinn und Gnade solchen Berufes ist, dann ist auch dies Gnade Gottes. Und dieser Gnade sollten Sie, wieder in der Kraft einer leise und bescheiden kommenden Gnade, entgegenkommen, indem Sie be­sinnlich und betend immer wieder vor Gott erwägen, was Sie sind und wollen in solchem Beruf. Wenn Sie in solcher betender Medi­tation vielleicht auch erwägen, daß wir in den Gefangenen, die unserer priesterlichen Seelsorge anvertraut sind, in aller Wahrheit Christus auch für uns finden können, und, indem wir in ihnen unserer eigenen Situation wie im Spiegel und Gleichnis begegnen, an jene Demut erinnert werden, der allein Gottes Gnade verheißen ist, dann könnte aus solcher Meditation voller und ganzer jene Einheit von Beruf und Leben, von Amt und eigener Existenz sich bilden, wie sie an sich keinem anderen Beruf herrlicher und gnadenvoller angeboten ist als dem des Priesters.

Quelle: Karl Rahner, Sendung und Gnade. Beiträge zur Pastoraltheologie, Innsbruck-Wien-München: Tyrolia, 1959, S. 452-468.

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