Von Günther Anders
Da wir es in einer Welt, die zu uns kommt, nicht nötig haben, eigens zu ihr hinzufahren, ist dasjenige, was wir bis gestern «Erfahrung» genannt hatten, überflüssig geworden.
Die Ausdrücke «zur Welt kommen» und «erfahren» hatten bis vor kurzem für die philosophische Anthropologie ungewöhnlich ertragreiche Metaphern abgegeben.[1] Als instinkt-armes Wesen hatte der Mensch, um auf der Welt zu sein, nachträglich, d.h.: a posteriori zu ihr zu kommen, sie zu erfahren und kennenzulernen, bis er angekommen und erfahren war; das Leben hatte in einer Entdeckungsreise bestanden; und mit Recht hatten die großen Erziehungsromane nichts anderes dargestellt, als die Wege, Umwege und Fahrtabenteuer, die er zu bestehen hatte, um, obwohl längst auf der Welt, schließlich doch bei ihr anzulangen. – Nun, da die Welt zu ihm kommt, zu ihm eingelassen wird, und zwar in effigie, so daß er sich auf sie nicht einzulassen braucht – ist diese Befahrung und Erfahrung überflüssig und, da Überflüssiges verkümmert, unmöglich geworden.[2] Daß der Typ des «Erfahrenen» von Tag zu Tag seltener wird, und die Einschätzung des Gealterten und Erfahrenen ständig abnimmt, ist ja offensichtlich. Da wir, ähnlich dem Flieger im Unterschiede zum Fußgänger, weg-unbedürftig geworden sind, verfällt auch die Kenntnis der Wege der Welt, die wir früher befahren, und die uns erfahren gemacht hatten; damit verfallen auch die Wege selbst. Die Welt wird weglos. Statt daß wir selbst Wege zurücklegen, wird nun die Welt für uns «zurückgelegt» (im Sinne der reservierten Ware); und statt daß wir zu den Ereignissen hinfahren, werden diese nun vor uns aufgefahren. –
Dieses Bild unseres Zeitgenossen mag nun freilich im ersten Augenblicke verzeichnet aussehen. Denn es ist ja umgekehrt üblich, in Auto und Flugzeug die Symbole des heutigen Menschen zu sehen, ja man hat ihn sogar als «homo viator», das Wesen, das fährt, definiert (Gabriel Marcel). Mit wieviel Recht, ist aber eben die Frage. Auf sein Fahren legt er ja nicht deshalb Wert, weil er Interesse an der Gegend nähme, die er durchfährt, oder an den Plätzen, an die er sich als Expreßgut expedieren läßt oder selbst expediert; nicht um erfahren zu werden, sondern deshalb, weil er nach Omnipräsenz hungert und nach rapidem Wechsel als solchem. Außerdem beraubt er sich ja grade durch die Schnelligkeit der Chance der Erfahrung (sosehr, daß ihm nun diese zur einzigen und letzten Erfahrung wird) – ganz davon zu schweigen, daß er durch die Egalisierung der Welt, die er effektiv durchführt, die Zahl der erfahrungswürdigen und erfahren machenden Gegenstände tatsächlich vermindert; und daß er sich schon heute, wo immer er landet, erfahrungsunbedürftig bei sich zu Hause vorfindet. «Mit uns», ermuntert sogar das Plakat einer bekannten Fluglinie in Worten, die Provinzialismus mit Globalismus aufs Verwirrendste verbinden, «mit uns reist du überallhin wie zu Hause». «Wie zu Hause»: es ist also durchaus nicht unbegründet, anzunehmen, daß für den Menschen von heute jede Reise (und erlaubt sie ihm selbst, elektrisch geheizt, den Nordpol tief unter sich, seinem Reiseziel entgegenzuschlafen) bereits etwas Altertümliches darstelle, eine unbequeme und unzulängliche, weil eben in falscher Richtung vor sich gehende, Methode der Omnipräsenz, zu der er sich nur deshalb noch bequemt, weil er es eben, trotz aller Anstrengung, doch noch nicht restlos zustande gebracht hat, sich alles ins Haus zu liefern – worauf er eigentlich Anspruch erhebt.
Auf keinen Fall ist der in Millionen von Exemplaren reglos zu Hause in seinem Fauteuil hingegossene Radio- und Fernseh-Konsument, der die Welt in effigie von dort aus regiert: sie anschaltet, vor sich auffahren läßt und wieder ausschaltet – auf keinen Fall ist dieser Herr der Bildscharen untypischer für uns als der Flieger und Automobilist; umsoweniger, als ja auch dieser, wenn er über Land rollt, das Radio laufen läßt: also auch er sich die Genugtuung und die Tröstung verschafft, zu wissen, daß nicht nur er hinaus in die Welt muß, sondern die Welt auch hin zu ihm; und daß sich diese (nun zur Strafe hinter ihm her und mit ihm mitrollend) eigentlich ausschließlich zu dem Zweck abspiele, um ihm aufzuspielen.[3]
«Um für ihn sich abzuspielen.» «Um ihm aufzuspielen.» «Wie zu Hause.»
Diese Ausdrücke zeigen nun eine Daseinsart, eine Beziehung zur Welt von so abgründiger Verkehrtheit an, daß selbst Descartes’ mauvais génie trompeur nicht imstande wäre, uns in eine verkehrtere hineinzulotsen; ein Dasein, das, wenn wir den Ausdruck «idealistisch» nun im vorhin bestimmten Sinne verwenden, «idealistisch» im prononziertesten Sinne ist. Dies in doppelter Hinsicht:
- Obwohl wir in Wahrheit in einer entfremdeten[4] Welt leben, wird uns die Welt so dargeboten, als ob sie für uns da wäre, als ob sie unsere wäre und unseresgleichen.
- Als solche «nehmen» (= betrachten und akzeptieren) wir sie, obwohl wir zu Hause im Fauteuil sitzen; d.h.: obwohl wir sie nicht effektiv, wie das «fressende Tier» oder der Eroberer, nehmen und sie nicht effektiv zu unserer machen oder machen können; jedenfalls nicht wir, die durchschnittlichen Radio- und Fernseh-Konsumenten. Vielmehr «nehmen» wir sie so, weil sie uns so in Form von Bildern serviert wird. Dadurch werden wir zu voyeurhaften Herrschern über Weltphantome.
Quelle: Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München: C.H. Beck, 1956, S. 114-116.
[1] Siehe des Verfassers «Une Interprétation de l’Apostériori» in «Recherches Philosophiques», Paris 1934.
[2] Es ist wohl kaum zufällig, daß dieses «zur Welt kommen» im gleichen Augenblick und im gleichen Kulturraum abstirbt, in dem das Trauma des physischen Zur-Welt-kommens gleichfalls durch technische Mittel abgeschafft werden soll.
[3] Auch Fernseh-Apparate werden nun ja in Autos eingebaut. So z.B. seit Dezember 54 in die Cadillacs von General Motors.
[4] Da die Vorsilbe «ent» (wie in «enthüllen» oder «entflecken») privativ ist, sollte auch «entfremden» eigentlich nicht «fremdmachen» bedeuten, sondern umgekehrt «des Fremden berauben». Dem Terminus diese, dem eingeführten Sprachgebrauch widersprechende, Bedeutung zurückgeben zu wollen, wäre vergeblich. Wir ersetzen daher von nun an den doppeldeutigen Ausdruck durch den unmißverständlichen «verfremden», den Brecht zur Bezeichnung bestimmter Bühneneffekte eingeführt hat.