Es fehlt an ihr – einer Ethik des Richtens, wohlgemerkt des Richtens, nicht des Urteilens. Das Urteilen – so es nicht in einem Gerichtsprozess von einem Richter gesprochen wird – gilt als regelgebundenes Unterscheiden einem Sachverhalt bzw. menschlichen Handlungen, wofür im Griechischen das Verb diakrínō (discerno) bzw. das Nomen diákrisis (discretio) stehen. Anders hingegen das Richten, das einem Menschen gilt und diesen als Person beurteilt oder verurteilt bzw. ihm eine Verfehlung oder eine Schuld anrechnet (ḥšb/logízomai).[1]
Das griechische Schlüsselwort im Neuen Testament dazu ist krínō in der in Bauers Wörterbuch zum Neuen Testament verzeichneten sechsten Bedeutung „ein Urteil über einen Menschen fällen bzw. diesen aburteilen, kritisieren, schlechtmachen, verdammen“[2]. In den Evangelien wird dieses moralische Richten an prominenter Stelle in der Bergpredigt (bzw. Feldrede) aus dem Munde Jesu auf eine eigene Verurteilung hin problematisiert: „Richtet nicht, auf das ihr nicht gerichtet werdet“ (Mt 7,1 par Lk 6,37).[3] Ebenso spricht der Apostel Paulus kritisch über das Richten anderer Menschen (Röm 2,1-3; 14,3f.10.13; 1.Kor 4,5). Und im Brief des Jakobus wird das moralische Richten mit dem Verleumden anderer (katalaléō/detraho)[4] ethisch auf die eigene Stellung vor Gott hin reflektiert:
„Macht einander nicht schlecht, liebe Brüder und Schwestern! Wer seinen Bruder schlechtmacht oder über seinen Bruder urteilt, der macht das Gesetz schlecht und urteilt über das Gesetz. Wenn du aber über das Gesetz urteilst, dann bist du nicht Täter, sondern Richter des Gesetzes. Einer nur ist Gesetzgeber und Richter, der kann retten und vernichten. Du aber, wer bist du, dass du über deinen Nächsten urteilst?“ (Jak 4,11f)
Interessanterweise wird dem moralischen Richten – das von institutionellem Richten (hebräisch šāfaṭ) zu unterscheiden ist – lexikographisch in biblischen, theologischen wie auch ethischen Wörterbüchern nur wenig Beachtung geschenkt. Dabei hat gegenwärtig das moralische, mitunter maliziöse Richten in den digitalen wie auch den Printmedien und den sozialen Netzwerken inflationäre Ausmaße angenommen. In der Herabwürdigung anderer Personen bzw. deren Äußerungen oder (vermeintlichen) Ansichten sucht man sich selbst in der eigenen Moralität zu bestätigen.
Das Bekenntnis der Selbstgerechtigkeit ist schnell gesprochen: Ich habe Recht und stehe damit nicht allein da. Ich habe Recht, weil ich mich mit meinem Bewusstsein bei anderen wiederfinde, die die Dinge genauso kritisch sehen wie ich. Gemeinsam wissen wir, was nicht gut geht – die globalen Lebensgefahren, die kollektiven Ungerechtigkeiten und die individuellen Ungleichbehandlungen. Ich weiß, was sich kollektivbewusst zu ändern hat. Und ich weiß, was wohlfahrtsstaatlich wie auch international zu tun ist, damit sich die Dinge so entwickeln, wie ich sie für uns alle gut finde. Mit den mir Gleichgesinnten stehe ich auf der richtigen Seite der Geschichte, in Solidarität mit Opfern, nicht mit den Tätern. Einwände und Rückfragen, Begründungen und Lösungen verbieten sich von selbst, weil ich ja per se eben Recht habe und damit auch Recht behalten muss, mit all den anderen, die es genauso wie ich sehen. Ich habe Recht und behalte Recht, koste es was es wolle.
Eingangs seiner Erinnerungen an den Assisenhof (Souvenirs de Cour d’Assise) schreibt der französische Schriftsteller André Gide (1869-1951):
Die Gerichte haben auf mich stets eine unwiderstehliche Faszination ausgeübt. Wenn ich auf Reisen in eine Stadt komme, so ziehen mich vor allem vier Dinge an: die öffentlichen Anlagen, der Markt, der Friedhof und das Gericht. Heute aber weiß ich aus Erfahrung, dass es eine Sache ist, einen Schuldspruch anzuhören, eine andere hingegen, persönlich dabei zu helfen. Gerechtigkeit zu üben. Gehört jemand zum Publikum, so kann man daran noch glauben. Sitzt er aber auf der Geschworenenbank, so wiederholt er sich das Wort Christi: „Richtet nicht“ (De tout temps les tribunaux ont exercé sur moi une fascination irrésistible. En voyage, quatre choses surtout m’attirent dans une ville : le jardin public, le marché, le cimetière et le Palais de Justice. Mais à présent je sais par expérience que c’est une tout autre chose d’écouter rendre la justice, ou d’aider à la rendre soi-même. Quand on est parmi le public on peut y croire encore. Assis sur le banc des jurés, on se redit la parole du Çhrist: Ne jugez point.).
Wie kann man nun der Selbstgerechtigkeit moralischen Richtens entgehen, ohne auf ein moralisches Urteilen zu verzichten? Ich sehe nur die eine Möglichkeit, sich im eigenen Urteilen mit denjenigen verbunden zeigen, die von meinem Urteil betroffen sind. Umgangssprachlich findet sich das in dem Bekenntnis wieder: „Ich selbst bin auch nicht besser, wenn nicht gar noch schlimmer …“
[1] Das hebräische Verb ḥšb bringt „die wertende Zuordnung von Personen und Dingen zu bestimmten Kategorien zum Ausdruck“ (W. Schottroff, THAT 1, 643). Vgl. außerdem Werner H. Schmidt/Gerhard Delling, Art. Anrechnen/Urteilen, in: Diess., Wörterbuch zur Bibel, Hamburg: Furche, 1971, 20-22.
[2] Bauer-Aland, Wörterbuch zum Neuen Testament, Sp. 918.
[3] Vgl. dazu Jürgen Becker, Jesus von Nazaret, Berlin-New York: De Gruyter, 1996, 308f.
[4] Die Verleumdung (katalaliá) ist Teil der neutestamentlichen Lasterkataloge in 2.Kor 12,20 bzw. 1.Petr 2,1.