Günter Anders über Rodins Höllentor (1943): „Hier fanden Skulpturen ihren Platz, aber wie Ausgesetzte, die von einem Boot ge­borgen werden, das seinerseits auf dem Ozean ver­schollen ist. Zwar waren sie zu Figuren auf einem Tor geworden; aber wo fand das Tor seinen Platz? Wie­derum nirgendwo. Während für gewöhnlich ein Tor eine Öffnung in einem Gebäude ist, ist Rodins Tor ein – Gebäude im offenen Raum; es führt nirgendwohin, es ist reine Vortäuschung.“

Über Rodins Höllentor

Von Günter Anders

Zurück zu Rodins Skulpturen. Wir kommen nun zu seinem dritten Versuch, die Obdachlosigkeit seiner Arbeiten zu überwinden. Er schuf sich eigene Baulichkeiten – als Obdach für sie. Die berühmteste dieser Obdachstätten – eine Stät­te ähnlich dem Grabmal des Julius, in dem Michelan­gelo seine Figuren unterbringen wollte – ist das soge­nannte „Höllentor“, eine Tür, die mit vielen seiner berühmten Stücke, wie dem „Denker“ und den „Schatten“, bevölkert ist, abgesehen von der anonymen Menschenmenge. Hier fanden sie ihren Platz, aber wie Ausgesetzte, die von einem Boot ge­borgen werden, das seinerseits auf dem Ozean ver­schollen ist. Zwar waren sie zu Figuren auf einem Tor geworden; aber wo fand das Tor seinen Platz? Wie­derum nirgendwo. Während für gewöhnlich ein Tor eine Öffnung in einem Gebäude ist, ist Rodins Tor ein – Gebäude im offenen Raum; es führt nirgendwohin, es ist reine Vortäuschung.

Als wir sagten, Rodin versammele seine Skulpturen auf diesem „Höllentor“, meinten wir damit nicht, daß das Resultat eine „Komposition“ sei. Nie plante Ro­din das Ganze im voraus; jede Figur kam in die Welt als verzweifelt einzelnes Geschöpf. Erst später wurde sie ein Insasse des „Höllentores“. Tatsächlich war die Gesellschaft, in die sie dort eintraten, das genaue Spie­gelbild der liberalen Gesellschaft; jede Figur stand für sich, die Zuordnung der Figuren war ganz beliebig; jede mögliche Harmonie sollte sich von selbst und aus dem Nichts ergeben. Rodin selbst gestand, daß er mit der Anordnung der Figuren seiner größten Gruppenskulptur, den Bourgeois de Calais, nie zufrieden gewe­sen sei.

Quelle: Günter Anders, Obdachlose Skulptur. Über Rodin, aus dem Englischen von Werner Reimann, München: C.H. Beck, 1994, S. 18f.

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