Über Rodins Höllentor
Von Günter Anders
Zurück zu Rodins Skulpturen. Wir kommen nun zu seinem dritten Versuch, die Obdachlosigkeit seiner Arbeiten zu überwinden. Er schuf sich eigene Baulichkeiten – als Obdach für sie. Die berühmteste dieser Obdachstätten – eine Stätte ähnlich dem Grabmal des Julius, in dem Michelangelo seine Figuren unterbringen wollte – ist das sogenannte „Höllentor“, eine Tür, die mit vielen seiner berühmten Stücke, wie dem „Denker“ und den „Schatten“, bevölkert ist, abgesehen von der anonymen Menschenmenge. Hier fanden sie ihren Platz, aber wie Ausgesetzte, die von einem Boot geborgen werden, das seinerseits auf dem Ozean verschollen ist. Zwar waren sie zu Figuren auf einem Tor geworden; aber wo fand das Tor seinen Platz? Wiederum nirgendwo. Während für gewöhnlich ein Tor eine Öffnung in einem Gebäude ist, ist Rodins Tor ein – Gebäude im offenen Raum; es führt nirgendwohin, es ist reine Vortäuschung.
Als wir sagten, Rodin versammele seine Skulpturen auf diesem „Höllentor“, meinten wir damit nicht, daß das Resultat eine „Komposition“ sei. Nie plante Rodin das Ganze im voraus; jede Figur kam in die Welt als verzweifelt einzelnes Geschöpf. Erst später wurde sie ein Insasse des „Höllentores“. Tatsächlich war die Gesellschaft, in die sie dort eintraten, das genaue Spiegelbild der liberalen Gesellschaft; jede Figur stand für sich, die Zuordnung der Figuren war ganz beliebig; jede mögliche Harmonie sollte sich von selbst und aus dem Nichts ergeben. Rodin selbst gestand, daß er mit der Anordnung der Figuren seiner größten Gruppenskulptur, den Bourgeois de Calais, nie zufrieden gewesen sei.
Quelle: Günter Anders, Obdachlose Skulptur. Über Rodin, aus dem Englischen von Werner Reimann, München: C.H. Beck, 1994, S. 18f.