Johann Peter Hebels aufklärungstheologische ‚Ideen zur Gebetstheorie‘ (1799): „Das Gebet muß auf die Empfindung, nicht auf den Verstand wirken, nicht moralisieren. Nach einer Predigt wieder ein belehrendes und moralisierendes Gebet ist das nämliche Gericht zweimal mit einer andern Sauce.“

Ideen zur Gebetstheorie (1799)

Von Johann Peter Hebel

1. Wir haben unsere Gebete und Predigten von der alten Dogmatik gereiniget, reinige Gott auch unsern Stil von allem Schlendrian des Ausdrucks, von allem Hinüberdrehen ins Homiletische und Geistliche und Biblisch-Paulinische. Tausche der liebe Gott uns gegen diese frem­de Zunftsprache unsere natürliche Sprache wieder ein, die wir verloren haben, damit wir beten können, wie die lieben Kinder zu ihrem lieben Vater, nicht wie steife Handwerksgenossen und Alt-Gesellen im geschworenen Gruß.

2. O daß ich um reinen lebendigen Sinn und Trost in die Seele des gemeinen Christen hinein beten zu können, zuerst aus ihr heraus zu beten wüßte! Wie kann ich jenes ohne dieses?

3. Dem gemeinen Christen muß, wenn überall, dann vorzüglich im Gebet, das mehr durch Anempfindung als durch Andacht, Werth und Kraft erhält, das Unsichtbare an das Sichtbare, das Zukünftige an das Gegenwärtige geknüpft, und gleichsam als auf feine Basis ausgetragen werden, und auch dem Gebildeten thuts wohl. Es ist uns allen natürlicher und gedeihlicher auf der Erde zu bleiben und nach dem Himmel hinauf zu schauen, als uns dem Himmel entgegen zu schrauben und ohne ihn zu erreichen, in der leeren kalten, wenn auch noch so reinen Luft zu schweben. Wir sind Pflanzen, die, — wir mögens uns gerne gestehen oder nicht, — mit den Wurzeln aus der Erde steigen müssen, um im Aether blühen und Früchte tragen zu können.

4. Die Form der Fragen im Gebet, z. B. „Wie reich ist die Natur an Freuden für uns?“ „Wie viel Gutes empfangen wir von Menschen?“ „Wie viel können wir durch Anwendung unserer Kräfte uns selber seyn und geben?“ fordern Behutsamkeit. Bloß um der Abwechslung willen in der Construction sollte es wohl nie geschehen, besonders in längern Reihen. An sich ists etwas sonderbares Gott Fragen vorzulegen, wenn wir nicht gestehen wollen, daß wir uns selber fragen, und also statt mit Gott wirklich mit uns selber reden, und also nicht mehr eigentlich beten, d. h. unsere Gedanken etc. an Gott richten, sondern an uns.

Wohl ist diese Form: halb Ausrufung, halb Frage, die natürliche, um stärkere Gefühle, nicht alle, sondern vornämlich Reue, Klage und freudiges Staunen kurz auszudrücken. Hieraus die Regeln:

a) Es werde kein Stoff in diese Form gebrückt, der nicht hinein taugt, am wenigsten kalte Reflexionen.

b) Sie werde nicht angebracht, auch wenn man den Stoff dazu hat, wenn der Compositeur nicht darauf rechnen kann, daß durch das Vorhergegangene schon die Zuhörer gerührt, und dasjenige schon dunkler oder heiler in ihrer Seele vorhanden und gefühlt sey, was durch die fragende Ausrufung laut wird, also nie sogleich im Anfang des Gebets, sonst wird’s ein tönendes Erz.

c) Nie viel fragende Ausrufungen hinter einander! Es ist pathologisch richtig, der Mensch, der wahre Empfindung ausdrückt, ist in dieser Form nie wortreich; in Büchern ist’s Kunst.

Z. B. es sey vorher in rührender Sprache von der Bestimmung des Menschen die Rede gewesen, und dann aus der freudig-schüchternen Brust die ausrufende Frage: „Aber du Heiliger in deinem hohen Himmel, wie ferne sind wir noch von diesem Ziel? Wie ferne aus eigener Schuld?“ — und dann ohne das halbe Dutzend voll zu machen, unmittelbar wieder Gebet, und Gelübde ihm näher zu kommen und es zu erreichen; — so wird’s gut seyn.

5. Eine kahle Hererzählung oder Wiedervorzählung z. B. des Guten, was uns Gott schon gethan hat: — „du haste etc., du hast etc., du hast etc.“ taugt eben so wenig. Diese Erinnerung gehört in die Anrede des Predigers an die Gemeine. Im Gebet —wozu?

6. Beten heißt eine unsichtbare Person als gegenwärtig denken, und im Vertrauen, daß sie’s höre und theilnehmend darauf achte, mit ihr reden. Mehr nicht, aber dies alles gehört zum Gebet und macht also den Begriff davon aus. Gebet an Genien, Heilige, Verstorbene ist daher gedenkbar keine Sünde, aber Thorheit; Gebet an gegenwärtige Menschen ist undenkbar, eben weil sie sichtbar und gegenwärtig sind; Gebet an abwsende Menschen ist ebenfalls keine Sünde, aber Unsinn. Der aufgeklärte Christ kann nur zu Gott beten, denn Gott ist das einzige unsichtbare Wesen, daß er gegenwärtig denken und im Vertrauen, daß es ihn höre etc. mit ihm reden kann.

Was darf man also beten? Der Einzelne alles, was er nach seiner Individualität mit einem Freund, Vater, Wohlthäter etc. im Charakter der Gottheit gedacht reden kann. Der Beter für Viele, nur das, woran Alle Theil nehmen können.

Wie soll man zu dem Unsichtbaren beten? Gerade so, und gerade nur so, wir man mit dem Sichtbaren reden würde. Da liegts! Dies ist in so vielen Gebeten vergessen, und dann wird die Rede unvermeidlich Geschwätz. „Du hast etc., du hast etc., du hast“ — was du, o Gott, am besten weist, und wir auch wissen und einander nicht zu sagen brauchen. O wem Gott zu der heiligen Stunde des Gebetes wie ein menschlicher Freund sichtbar werden könnte, würde ihm der nichts besseres zu sagen wissen, als: „du hast etc., du hast etc.?“ Nicht wenigstens: „ich danke dir und liebe dich, daß du — hast, und freue mich deiner etc.?“

7. Sey die Dauer eines öffentlichen Gebetes auch nur auf ein Vierteljahrhundert und noch kürzer berechnet, so hüte man sich, es nicht den gegenwärtigen Umständen, die in wenig Jahren anders werden können, zu engsüchtig anzupassen, und seine eigenen Gefühle bei dem gegenwärtigen Zustand der Dinge einfließen zu lassen. Z. B. es regiere jetzt ein edler Fürst. Wie gerne ließe man dankbare Gefühle für diesen Segen eines Landes und aufrichtige herzliche Bitten für seine Erhaltung, für das Gedeihen seiner edeln väterlichen Absichten laut werden, und er verdiente es, daß seiner so vor Gott gedacht würde. Aber dies sind Empfindungen und Gesinnungen für ein Individuum, das der Hauch des Todes morgen anweht, und wer kommt nach? Formeln der Fürbitte, die nimmer passen, können nicht mehr abgeändert werden, wenn sie für einen würdigen Vorfahr gebraucht wurden; und werden sie für Nachfolger gebraucht, die da thun, was dem Herrn übel gefällt, so werden sie grobe Schmeichelei dem Regenten, Aergeniß dem Publicum, und Tortur dem armen Pfarrer von Sinn und Herzen, der sie sprechen muß.

8. Was macht ein Kirchengebet schwer?

  1. Daß es für Einfältige gerecht sehn soll. Gelehrten ist nicht nur gut predigen, sondern auch gut beten!
  2. Daß es für Gebildete und Aufgeklärte zugleich gerecht seyn muß.
  3. Daß es für beide nicht nur einmal, sondern lang und oft gut bleiben soll.

Gibts noch viel schwerere Aufgaben als diese?

9. Laßt uns nicht unaufhörlich mit dem Ketzer Augustinus beten, daß uns Gott geben wolle, was wir in uns selbst, und in der Religion und in unsern äussern Verhältnissen schon haben. Sonst meinen wir, wir habens nicht, und warten drauf und’s kommt doch nicht. Lieber laßt uns mit dem heiligen Kirchenvater Pelagius Gott danken, daß er’s uns ungebeten gab, und uns zur treuen Anwendung ermahnen, und Gott bitten, daß er’s uns‘ erhalten, und unsere treue Anwendung segnen  wolle.

10. Die Allgemeinheit der Ausdrücke und Vorstellungen taugt nichts, weil dadurch dem Betenden es schwer gemacht, wenigstens kein Anlaß gegeben wird, an sich und an das Spezielle, was für ihn in der Allgemeinheit liegt, zu denken. Z. B. „Gott du bist sehr gütig.“ — „Ach wir hören nie auf zu sündigen.“ — Hingegen: „Gott du hast bisher unsere Gesundheit erhalten, unsere Kraft zur Arbeit gestärkt, unsere Arbeit gesegnet etc.“ weckt schon mehr individuelle Erinnerungen.

Hingegen muß man doch nur bis auf einen Grad der speziellen Ausführung eines allgemeinen Gedankens gehen; und je öfter das nämliche Gebet mit Wirkung soll vorgelesen werden können, desto allgemeiner und weniger ausgeführt müssen die Gedanken seyn. Die Ideen müssen nämlich so viel unentwickeltes enthalten, und so ausgedrückt seyn, daß der Zuhörer, wenn er das Gebet oft hört, auch oft etwas neues dabei denken oder eine neue Anwendung machen kann. Wenn ich aber eine Idee so völlig ausführe, daß der Zuhörer mit mir jedesmal an alles, was darin enthalten seyn kann, denken muß, und nie Gelegenheit hat wieder etwas neues dazu zu denken, so wird ihm das neue Gebet in kurzem alt und verliert alle Wirkung.

11. Das Gebet muß auf die Empfindung, nicht auf den Verstand wirken, nicht moralisiren. Dazu ist die Predigt da; und weil Verstandesideen ohne Empfindung kalt, Empfindungen ohne jene verworren und unwirksam bleiben, so wird auch beides, Vortrag und Gebet, in jeder Versammlung verbunden. Dort müssen die Empfindungen in Begriffe und deutliche Vorstellungen aufgelöst, hier die deutlichen Vorstellungen in Empfindungen zusammengeschmelzt werden. Nach einer Predigt wieder ein belehrendes und moralisirendes Gebet, ist das nämliche Gerücht zweimal mit einer andern Sauce.

12. Popularität kann nicht nur, sie muß mit schöner Sinnlichkeit gepaart sehn. Schöne Sinnlichkeit ist ein Theil der Popularität und die einzig mögliche Blüthe der populären Schreibart.

13. Gebete für ein gemischtes Publicum sollen, wenn der Concipient ganz gerecht seyn will, nicht durchgehends in allen Ausdrücken und Wendungen populär bleiben. Wie der Gebildete um des Ungebildeten willen sich manches auf eine gemeinere Art muß vorsagen lassen, als er ertragen und erwarten könnte, so muß sich umgekehrt dieser auch hie und da etwas gefallen lassen. Nur dürfen die unpopulären Ausdrücke und Wendungen die Klarheit des Sinnes im ganzen nicht stören, und kein plötzliches oder allmähliges Sinken der Empfindung bei dem Ungebildeten veranlassen.

14. Man muß sich in Acht nehmen bei einer Sprache und Darstellung, die sehr lebhafte und starke Empfindungen und Rührungen zu wecken geeignet ist. Einmal überhaupt, oder einmal alle Jahre, z. B. in Festgebeten mag es angehen; — aber je öfter das Gebet wiederkehrt, desto gewisser verliert es nach und nach seine Kraft stark auf die Gefühle zu wirken, und dann klingt nichts erbärmlicher als Sprache der Rührung, wo keine Rührung mehr ist.

15. Der Verfasser des Gebets darf seinen Ideengang so wenig als möglich bemerkbar machen, oder um Zusammenhang in die Bitten zu bringen; sie durch Übergänge mit einander verbinden. Z. B. nach einer Bitte um geistliche Gaben: „Und weil wir auch mancherlei Bedürfnisse des Körpers haben, welche du für dieses gegenwärtige Leben mit unserm unsterblichen Geiste verbunden hast, so bitten wir dich, um alles, was zu unserer Erhaltung nöthig ist“ etc. Bei solchen Uebergängen, Vorbereitungen und Einleitungen auf neue Gegenstände des Gebetes sinkt allemal die Andacht um etwas herab, und erlahmt oft ganz. Es ist nicht die Sprache der Empfindung, sondern des künstlichen Denkens.

16. Seitenlange Weltbürgers-Bitten für den Frieden unter allen Völkern, allgemeines Menschenwohl, für Ausbreitung der christlichen Religion, oder der Wahrheit und Aufklärung, der Moralität unter der Menschheit, sind nicht nur unnütz, sondern auch zweckwidrig, da Zeit und Raum zu bitten in näherer Anwendung auf uns, und die um uns sind, dadurch eingeengt wird.

Jene allgemeine Bitten sind durch falsche Anwendung einiger biblischen Gebetsvorschriften, und durch die Meinung, daß sie etwas nützen, d. i. daß sie auf die Determination des göttlichen Willens Einfluß haben, eingeführt worden. n

Das bessere Zeitalter muß andere Gründe für sie haben, wenn sie sollen gerechtfertigt werden. Sie können aber fast einzig den Zweck haben, in dem Gemüthe des Betenden Interesse für allgemeines Menschenwohl zu wecken und zu stärken.

Sey nun dieses Interesse für allgemeines Menschenwohl so wichtig als es will, so ist es doch nur ein Zweig unserer vielastigen Moral, und fehlerhaft einen unverhältnißmäßig großen Theil des Gebets demselben zu widmen.

Allein dies Interesse scheint mir nicht einmal sehr wichtig für den gemeinen Christen zu seyn. Liebe deinen Nächsten, als dich selbst. Sey dir und denen, mit welchen du in Verbindung lebst, und welche dir die Vorsehung aus der großen Menschheit entgegenführt, was du dir und ihnen seyn sollst, und bitte Gott, daß er dich zu einem guten Menschen machen, und deinen Angehörigen, Mitbürgern etc. wohl thun, den Unglücklichen helfen möge etc., und fühle im Gebet, daß Gott durch dich selbst deine Bitte erhören will, sobald er dich in den Stand setzt, gutes unter deinen Nebenmenschen zu wirken.

Das Interesse für die übrige große Menschheit kann uns fast zu keiner andern Wirksamkeit bestimmen, als eben wieder für sie zu beten. Dies ist aber ein moralischer Zirkel. Ich bete für sie, um Interesse für sie zu bekommen. Das Interesse für sie determinier mich für sie zu beten. Ohnehin ist diese ganze christliche Weltbürgerliebe, so sehr sie durch ihre Erhabenheit das Gemüth eines sehr gebildeten und moralischen Menschen afficirt, für den gemeinen Menschen, für den Bauern auf seiner Scholle Ackers, auf der er von der ganzen Menschheit gleichsam abgeschnitten ist, etwas leeres, eben weil sie ihm zu erhaben ist.

Ein anderer moralischer Zweck der allgemeinen Bitten könnte zwar der seyn, dem Betenden den Werth der Güter und Gaben selber im höchsten Grade fühlbar und wichtig zu machen, indem er mit dem Pfarrer beten muß, daß Gott sie allen Menschen wolle zu Theil werden lassen. Allein dies scheint mir etwas winkelzügig und verkehrt. Soll die Behandlung des Zuhörers zweckmäßig und vernünftig, und das Benehmen des Predigers gegen ihn aufrichtig, und das Gebet wahres Gebet, nicht didaktischer Handwerksvortheil seyn, so müßte der Lehrer den Zuhörer zuerst im Vortrag über die Wohlthätigkeit der Religion, über den Werth der Tugend, des Friedens etc. unterrichten und überzeugen, und erst alsdann, wenn er’s zweckmäßig und nö­thig findet, mit ihm beten, daß Gott diese erkannten Wohlthaten allen Menschen wolle zu Theil werden lassen.

Ich halte es daher für zweckmäßiger, mit dem Zuhörer immer in seiner Sphäre, die er selber übersieht, im Kreis seiner Familie, seines Gewerbverkehrs, seiner Gemeine, seines Vaterlandes zu bleiben, und nur seltener Blicke darüber hinaus zu thun. Gewiß mehr Wirkung selbst ins Allgemeine und Große wäre zu erwarten, wenn jede Christengemeine für sich beten, und dadurch den moralischen Segen des Gebets sich zuwenden wollte, als wenn alle für alle beten, und alle in ihrem Kreis unthätiger bleiben, als sie seyn sollten.

J. P. Hebel’s Sämmtliche Werke, Neue Ausgabe, Band VII, Karlsruhe: Müller, 1838, S. 3-14.

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