Wilhelm Gräb, Lebenssinn und die Frage nach Gott: „Das mit dem Wort ‚Gott‘ Gemeinte kann überhaupt nur als etwas gedacht werden, das die Welt als Ganze und unser eigenes Dasein in ihr mit einschließt und begründet. Das Wissen und die Wissenschaften sind immer auf etwas in der Welt, auf Teile der Welt, auf Vorgänge mit der Welt, und seien es die Ursprünge des uns bekannten Universums oder die genetischen Informationen des Lebens, ausgerichtet.“

Die Sinnfrage hat mich theologisch nie wirklich berührt, hatte ich schon vor meinem Theologiestudium Gerhard Sauters Traktat „Was heißt: nach Sinn fragen?“ gelesen und mich danach über Jahre Niklas Luhmanns Systemtheorie verschrieben. Für den im Januar 2023 verstorbenen liberalen Theologen Wilhelm Gräb hingegen war die Sinnfrage der Zugang zur Frage nach Gott:

Lebenssinn und die Frage nach Gott

Von Wilhelm Gräb

Was gibt dem Leben einen Sinn? Adolf von Harnack, nicht nur ein großer Theologe des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern zugleich ein bedeutender Wissenschaftsorganisator, als solcher Begründer der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, der späteren Max-Planck-Gesellschaft, hat am Ende seiner berühmten Vorlesungen über das „Wesen des Christentums“ im Jahre 1900 auf diese Frage so geantwortet:

„Die Religion, nämlich die Gottes- und Nächstenliebe, ist es, die dem Leben einen Sinn giebt, die Wissenschaft vermag das nicht…. Es ist eine herrliche Sache um die reine Wissenschaft, und wehe dem, der sie gering schätzt oder den Sinn für die Erkenntnis in sich abstumpft! Aber auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu giebt sie heute so wenig eine Antwort wie vor zwei- oder dreitausend Jahren.“[1]

Die in der Gottes- und Nächstenliebe gelebte Religion ist im Unter­schied zur Wissenschaft die angemessene Weise, sich zur Frage nach dem Sinn des Lebens zu verhalten. Zwar können wir vom Sinn des Lebens nichts objektiv wissen, zugleich aber können wir nicht leben, ohne vom Sinn unseres Lebens selbst überzeugt zu sein. Manchmal finden wir uns in dieser Überzeugung freilich erschüttert. Dann beginnen wir möglicherweise ausdrücklich nach dem Sinn des Lebens zu fragen. Zumeist jedoch leben wir mit der impliziten Gewissheit, dass unser Leben einen Sinn hat, dass somit auch das Sinn hat, was wir tun, wofür wir arbeiten und uns engagieren. Dieses Vertrauen in den Sinn unseres Lebens und Handelns hängt eng mit der Hoffnung auf den Erfolg unseres Handelns zusammen. Es findet in solchem Erfolg immer wieder seine Bestätigung und fundiert insofern letztendlich alle wissenschaftliche Arbeit. Dennoch ist die Frage nach dem Sinn kein sinnvoller Gegenstand der Wissenschaft, sondern sehr viel eher eine Frage persönlicher Stellungnahme, lebenspraktischer Überzeugung und religiösen Glaubens.

1. Die moderne Kultur und die Frage nach dem Sinn

In der differenzierten modernen Kultur lösen sich Selbstverständlich­keiten und übersichtliche Lebenszusammenhänge auf. Leicht zerbricht das selbstverständliche Zutrauen in den Sinn des eigenen Lebens, schnell auch das Vertrauen in die Lebensdienlichkeit der Wissenschaft und anderer gesellschaftlicher Funktionssysteme. Sinnfragen sind letztendlich immer Fragen nach Zusammenhängen. Sie stellen sich, wenn Menschen sich selbst und ihre Handlungsabsichten mit ihrer Welterfahrung nicht mehr zusammenbringen können. „Ich passe nicht in die Welt. Mein Leben hat keine Perspektive mehr.“ – In solchen Empfindungen äußert sich die Erfahrung von Sinnverlust. Sie lässt nach neuem Anschluss an integrierende und beanspruchende Lebens­zusammenhänge verlangen. Die moderne Gesellschaft hat jedoch eben dazu geführt, dass viele integrierende und die individuelle Daseins­gewissheit stabilisierende Lebenszusammenhänge brüchig geworden sind. In der Politik büßen verpflichtende Hierarchien ihre Macht ein. In der Ökologie verschwindet die enge Gebundenheit an die Natur­gewalten. In den Wissenschaften wird vor allem hochgradige Spezialisierung verlangt.

Auch in der Religion lösen sich die verbindlichen Zugehörigkeiten zu Traditionen und Institutionen auf. Religiöse Gemeinschaften geben nur noch Minderheiten einen bergenden Halt. Kirchliche Sozialisations­instanzen stärken zwar immer noch bestimmte Wertorientierungen wie Nächstenliebe, Familiensinn und Pflichtbewusstsein. Aber die Kirchen und religiösen Gemeinschaften können kein Ethos, keine normativen Orientierungen für das Ganze des Lebens mehr verpflichtend vor­geben. Auch die kirchlichen Rituale und Symbolwelten beziehen die Einzelnen nicht mehr fraglos in sich ein. Diese sind vielmehr selbst zu mehr oder weniger autonomen Subjekten in der Aneignung religiöser Sinndeutungsangebote, Identität stabilisierender Lebensstile sowie den Lebensrhythmus formierender Ritualpraktiken geworden.

Wenn die sozialen Zusammenhänge, die den Individuen das Ge­fühl vermitteln konnten, dass sie in die Welt passen, zerbrechen, ver­lieren sich die äußeren Zusammenhänge, die die Einzelnen in Kontakt mit sich selber halten. Sie büßen das die Daseinsgewissheit stärkende Gefühl ein, gebraucht zu werden und mit dem eigenen Handeln einen Erfolg verbinden zu können. So entsteht ein Sinnvakuum auch in den Innenwelten. Die Kälte in den sozialen Verhältnissen, die so viele be­klagen und gegen die zugleich so schwer nur anzukommen ist, durch­dringt alle Poren, durch die unsere Körper und damit auch unsere Innenwelten unweigerlich mit den Außenwelten verbunden sind.

2. Sinnfindung durch Lebenskunst

Die Schwächung vorgegebener Konventionen, religiöser und politischer Hierarchien, überlieferter Dogmen und Normen, ist grund­legend für die moderne Kultur. Insofern konnte und kann die moderne Kultur auch als Befreiung erfahren werden und zunächst ihrerseits Sinn gebend sein. Die neu gewonnene individuelle Freiheit wurde von vielen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein als ein Fortschritt empfunden. Inzwischen treten jedoch die mit der Auflösung von über­kommenen Sinnzusammenhängen verbundenen Sinnverluste stärker hervor. In weiten Bereichen der Gesellschaft wird heute die Auf­forderung wahrgenommen, Sinn neu zu gründen, soziale Zusammen­hänge und Bindungskräfte wieder zu stärken. Es ist den meisten allerdings klar, dass dies auf eine Weise geschehen sollte, die zugleich die Spielräume individueller Freiheit sichert.

Es kann nicht darum gehen, erneut heteronome oder gar totalitäre Herrschaftsverhältnisse herzustellen, auch nicht darum, etwa für ein bestimmtes kirchlich-religiös begründetes Ethos allgemeine Verbind­lichkeit zu beanspruchen. Die Moral bleibt unter den Freiheits­bedingun­gen der modernen Kultur an die individuellen Über­zeugungsgewissheiten gebunden. Nur im Durchgang durch das Nadelöhr der Subjektivität lassen sich individuell verbindliche Sinn­erfahrungen intersubjektiv geltend machen. Transindividuelle Verbind­lichkeiten, allgemeingültige Verhaltensnormen müssen auf der Basis des positiven Rechts gewonnen werden. Sie gelten somit nicht absolut, sondern immer nur nach Maßgabe demokratischer Gesetzgebung. Die Unterscheidung zwischen der Moralität einerseits, die an die individuelle Einsicht in das Tun des Guten gebunden bleibt, und der Legalität andererseits, die die Anerkennung des für alle gleichermaßen gültigen Rechts verlangt, ist in modernen Gesellschaften unhinter­gehbar.

Der Aufbau von Sinnzusammenhängen, in die Individuen sich ein­bezogen finden können, aus denen ihnen die Lebensaufgaben zu­wachsen und die ihnen die persönliche Daseinsgewissheit vermitteln und stärken, gehört auf die erste Seite dieser Unterscheidung, also die der Moralität. D.h., der Aufbau lebensweltlicher Sinnzusammenhänge muss in der Lebenswelt und damit auf der Basis der Aktivität der Individuen selbst geschehen. Die Wissenschaft beantwortet die Sinn­fragen nicht, aber auch die Politik und die Kirchen können dies nicht tun. Es gehört vielmehr zu unserer modernen Situation, dass die einzelnen Menschen selbst, wir Individuen, uns diese Fragen stellen und sie auch selbst beantworten müssen.

Richtig aber bleibt, dass wir es uns heute nicht mehr leisten können, nur den Abbau überkommener Daseinsfügungen festzustellen. Wir müssen uns vielmehr daran beteiligen, die sozialen und vor allem auch institutionellen Zusammenhänge, die den Individuen das Gefühl geben, in die Welt zu passen, zu stärken und Aufmerksamkeit für ihr Gegebensein zu schaffen. Diese Sinnzusammenhänge, die den Individuen ihr Lebenssinnbewusstsein vermitteln, sind ja nie ver­schwunden. Sie bleiben auch in der modernen Kultur erhalten. In un­gleich stärkerem Maß als dies in traditionsgeleiteten gesellschaftlichen Verhältnissen der Fall war, verlangen die gesellschaftlichen, kulturell vorgegebenen und überlieferten Sinnzusammenhänge jedoch die Aktivierung des Lebensglaubens der Individuen, ihres Sinnvertrauens und ihrer Erfolgshoffnungen.

Das nun macht heute den Sinngewinn zur Aufgabe der indivi­duellen Lebensführung, damit auch zur Herausforderung der Lebens­kunst, die zu lernen ist. Sich heute auf die Kunst des Lebens zu ver­stehen, bedeutet, dass wir uns im Zeichen von Freiheit und Autonomie nicht mehr mit der Auflösung von sozialen Zugehörigkeiten und Ver­bindlichkeiten begnügen, sondern dass diejenigen Aufgaben und Herausforderungen in den Blick rücken, die uns aus dem Einbezug in gesellschaftliche Institutionen erwachsen. Sich auf die Kunst des Lebens zu verstehen, heißt, das eigene Leben bewusst in umgreifenden Sinnbezügen zu verankern, sich Ziele zu setzen, auf den Erfolg des eigenen, selbstbestimmten Handelns im größeren Ganzen einer Welt zu hoffen. Wer diese Kunst des Lebens lernt, dem wird sich der Glaube an den Sinn seines Lebens festigen. Lebenssinnfindung ist unter den Be­dingungen der modernen Kultur heute manchmal tatsächlich eine Kunst. Sie braucht jedenfalls ausdrückliche Bemühungen und auch etwas Talent, eben weil die ehemals stabilen Vorgaben durch Sitte und Tradition, Religion und Moral zerbröckelt sind.

3. Die sinnreflexiven Herausforderungen durch die Lebenswissenschaften

Durch die Entwicklung von Technik und der mit Technik möglichen Naturbeherrschung entwickeln die Natur- und Lebenswissenschaften neue Lebensmöglichkeiten in geradezu ungeheurem Ausmaß. Die neuerdings in eine kulturelle Leitfunktion aufgerückten Lebenswissen­schaften, also Biologie und Medizin, Neurologie, Genforschung und Gentechnik sind ebenso, wie alle anderen Wissenschaften auch, dem grandiosen Freiheits-Projekt der modernen Kultur verschrieben. Wie alle Natur- und Technikwissenschaften wollen auch die Lebenswissen­schaften und die Gentechnologie uns Menschen aus zwanghaften, unter Umständen schädlichen Vorgaben der Natur befreien. Genetische Defekte, die Krankheiten verursachen, sollen behoben werden. Mit der Möglichkeit des Eingriffs in neuronale Prozesse können eventuell schwere seelische Störungen geheilt werden.

Im Blick auf unsere äußere Umwelt, den Zustand der Wälder und Meere, die Entwicklung des Klimas und vieles mehr, stehen uns freilich deutlich die gefährlichen Folgen des wissenschaftlichen Eingriffs in die natürlichen Lebensgrundlagen vor Augen. Das Projekt der Befreiung von den kontingenten Vorgaben der Natur droht vielfach in deren Zer­störung einzumünden. Die Menschengattung selbst ist Teil der Natur und gefährdet somit sich selbst, wenn sie – sofern dies das Ziel der Lebenswissenschaften und der Gentechnik ist – sich von natürlich-kontingenten Vorgaben befreien möchte. Auf der einen Seite bestärken die Genomforschung und vor allem die molekulare Medizin die Hoffnung, dass die Befreiung von den kontingenten Vorgaben der Natur, die wir Menschen selbst sind, uns die Defekte beheben lässt, mit denen wir als Naturwesen konfrontiert sind. Möglicherweise könnte es eines Tages ja sogar gelingen, durch Eingriffe in unser genetisches Programm nicht nur bislang unheilbare Krankheiten, sondern auch unsere Sterblichkeit zu besiegen. Auf der anderen Seite befördert diese Forschung die Ängste davor, dass menschliches Leben zum Manipulationsobjekt wissenschaftlicher Programme und technischer Verfügung werden könnte. So erhält das Szenario, das sich mit den Lebenswissenschaften und den verschiedenen Gentechnologien ver­bindet, seine Dramatik.

Die Wahrung der Unverfügbarkeit der natürlichen Vorgaben menschlichen Lebens muss dann geradezu als Garant dafür gelten, dass uns Menschen die Bedingung der Möglichkeit von Freiheit zu­erkannt werden kann. Zugespitzt gesagt: Nur wenn ein Mensch sein Dasein nicht dem genetisch operationalisierten Planungswillen anderer Menschen verdankt, sondern es – wie jeder andere auch – als unver­fügbar gegeben hinnehmen muss bzw. darf – kann er den Anspruch auf Selbstbestimmung und die Anerkennung als gleichberechtigtes Wesen in der Menschengattung begründen. Jürgen Habermas hat diese Anmerkung in die Debatte um das Recht und die Grenzen der Gen­forschung vor einigen Jahren energisch eingebracht.[2]

Anzumerken bleibt dabei freilich, dass sowohl die Hoffnungen wie die Befürchtungen, die sich mit den Biowissenschaften und der Gen­forschung verbinden, den Menschen letztendlich auf die Bedingungen seiner bio-physischen Existenz reduzieren. Nur dann, wenn wir die Natur, die wir Menschen selbst sind, in ihren bio-physischen Konstitutionsbedingungen aufgehen lassen, entscheiden die Lebens­wissenschaften über das zukünftige Schicksal der Menschheit. Wenn wir unter Leben lediglich einen biologischen Organismus verstehen, kann sich aufgrund der Fortschritte der Genforschung und Gentechno­logie entweder die Hoffnung auf die Perfektionierung des Menschen­geschlechts und das Gelingen des Lebens einstellen, oder es folgen daraus die apokalyptischen Ängste vom Ende seiner Würde und seiner Freiheit. Möglicherweise greift aber gerade dieses biologistische Ver­ständnis der Natur, die wir Menschen selbst sind, entscheidend zu kurz. Möglicherweise erliegen wir, wenn wir dem Lebenswissen der Lebenswissenschaften die große Menschheitsbeglückung zutrauen oder mit ihm den Untergang der Menschenwürde verbinden, einem Reduktionismus, der dem menschlichen Leben als einem solchen, das sinnbewusst zu führen ist, nicht gerecht wird.

Es ist m. E. in der Tat so, dass die Fragen, vor die uns die Führung und sinnvolle Gestaltung unseres Lebens stellen, sich mit den Wissen­schaften überhaupt und auch mit den sog. Lebenswissenschaften nicht beantworten lassen. Deshalb sind möglicherweise aber auch viele Hoffnungen und Ängste, die mit den Lebenswissenschaften verbunden werden, Resultat sowohl einer Überschätzung der Wissenschaft wie einer Unterschätzung der Wissenschaftler/innen, denen durchaus wie allen vernünftigen Menschen in demokratischen Gesellschaftsverhält­nissen zuzutrauen ist, dass sie sich zumeist sinnorientiert und ver­antwortungsbewusst in ihrer wissenschaftlichen Arbeit verhalten.

4. Kategoriale Ordnungen des Lebens

Wir können und müssen uns auf all das noch einmal reflexiv und vor allem sinnhermeneutisch einstellen, was die lebenswissenschaftliche Erkenntnis unseres natürlichen Organismus uns an medizinischen und technischen Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Wir müssen uns fragen, wozu wir diese Freiheit von den kontingenten Vorgaben der Natur, zu der uns die Lebenswissenschaften zunehmend verhelfen, nutzen wollen, was wir positiv etwa mit den Möglichkeiten der Human­genomforschung und der Gentechnologie anfangen wollen und was nicht. Wir selbst sind es, die die Wissenschaften betreiben, und dabei in die Natur, die wir selbst sind, immer tiefer eindringen. Wir selbst sind es aber auch, die über den Gebrauch entscheiden, den wir von unseren wissenschaftlichen Erkenntnissen machen wollen.

Solches Gebrauchs- und Orientierungswissen entwickeln zu kön­nen, verlangt jedoch den Blick auf weiter ausgreifende Sinnzusammen­hänge zu richten, die uns die Welt in der Bewandtnis, die sie für uns hat bzw. vermittels weiter entwickelter Technik gewinnen soll, er­schließen. Die Beantwortung der Frage nach dem Sinn, den wir mit unserem Handeln im Allgemeinen, mit unserer Wissenschaft und ihrer technischen Umsetzung im Besonderen verbinden, ist nicht mehr die Sache der experimentell verfahrenden Natur-, Lebens- und Technik­wissenschaften. Die Beantwortung der Sinnfragen fällt in die Zu­ständigkeit des Lebens, das wir, eingebunden in unsere Lebenswelt, zu führen haben, in die ethisch verantwortete Forschungspraxis der Lebenswissenschaften, dann auch in die Zuständigkeit der Kultur- und Geisteswissenschaften, die in der Praxis des Lebens aufbrechende Sinn­fragen reflektieren und ins Gespräch mit überlieferten Sinnkonzepten, moralischen Normen und Diskursen bringen.

Geboten wäre deshalb eine sehr viel engere Kooperation der Lebenswissenschaften mit den Geistes- und Kulturwissenschaften, zu denen selbstverständlich auch die Theologie gehört. Sie kann jedoch nur auf der metawissenschaftlichen Ebene der Sinnreflexion statt­finden. Sie setzt damit die Bereitschaft der Lebenswissenschaftler/innen voraus, sich auf diese Ebene der Sinnreflexion zu begeben. Und von den Theolog/innen verlangt sie die Kenntnis der Intentionen und im Groben auch der Verfahren lebenswissenschaftlicher Forschungspraxis. Eine Lebenswissenschaft im Sinn der Wissenschaft vom bio-physischen Organismus ist die Theologie so wenig wie die anderen Kultur- und Geisteswissenschaften es sind. Im Verbund mit den Geistes- und Kulturwissenschaften muss vielmehr auch der Theologie daran gelegen sein, den in den Lebenswissenschaften drohenden biologistischen Reduktionismus und damit die Ausklammerung der Frage nach dem Sinn des Lebens und der lebenstechnologisch möglichen Lebens­steigerungen zu kompensieren. Die Theologie kann sich mit daran be­teiligen, die lebenstechnologisch ermöglichten Lebenssteigerungen sinnhermeneutisch abzufedern. Dazu hilft auch, dass wir uns die unterschiedlichen kategorialen Ordnungen des Lebens deutlich vor Augen halten.

Es ist eben nicht so, dass das Verständnis von Leben, mit dem die sog. Lebenswissenschaften arbeiten, das einzige Verständnis von Leben ist, das wir alltagsweltlich teilen und mit dem wir kulturell umgehen. In zahlreichen wissenschaftlichen Diskussionen hat es zwar durchaus den Anschein, dass unter der Kategorie „Leben“ lediglich eine bio­logische Kategorie zu verstehen ist. Wenn Lebendiges von Nicht-Lebendigem unterschieden oder wenn Anfang und Ende des Lebens bestimmt werden sollen, wird vornehmlich ein bio-physischer Organismus in den Blick genommen. Entsprechend werden dann auch biologische Modelle und Methoden verwendet, um die Entstehung von Leben und die Funktionen einzelner Lebewesen zu erklären. Grund­bestandteile von Leben sind dann vor allem Zellbakterien. Ganz ohne Frage lassen sich viele Aspekte des Lebens auf diese Weise genauer be­stimmen und durch empirische Forschung erklären. Ebenso eindeutig tritt freilich hervor, dass unter Leben damit lediglich ein in der Be­obachterperspektive zu untersuchender bio-physischer Organismus verstanden wird.

Schauen wir demgegenüber auf Beschreibungen des Lebens in der Literatur, in der darstellenden Kunst, in philosophischen und theo­logischen Texten, in religiösen Erzählungen, so fällt auf, dass dort in einer ganz anderen Sprache vom Leben gesprochen wird und zwar nicht erst im Blick auf die Menschen, sondern auch im Blick auf andere Tiere, ja auch auf Pflanzen. Die dort verhandelten Fragen und Probleme betreffen nicht das Funktionieren eines Organismus, sondern ein Individuum, das über geistige Zustände verfügt und sich dadurch als Individuum versteht, dass es sich von anderen Individuen abgrenzt und gleichzeitig in eine Gemeinschaft einfügt.

In Literatur und Kunst, in der Philosophie, der Theologie und der Religion sind die Beschreibungen des Lebens wie in den Lebenswissen­schaften auf Individuen gerichtet. Aber sie betreffen gerade nicht deren bio-physischen Organismus, seine konstitutiven Bestandteile und deren Funktionieren. Leben meint in Literatur und Religion, in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften bewusstes und im Selbst­verhältnis sich bewegendes, sich selbst bestimmendes Leben. Es geht um Individuen, auch schon bei den Tieren, die über mentale Zustände verfügen, planen können und Absichten verfolgen, in Beziehung zu sich und im Austausch mit der Umwelt stehen, sich zu anderen ihres­gleichen verhalten, sich durchsetzen und im Leben behaupten müssen. Hier werden deshalb auch keine objektiven, empirisch abgesicherten Analysen angestellt, sondern es werden subjektive, narrativ fassbare Ausdrucksformen, gestische Signaturen und symbolische Artikula­tionen von Gefühlen, Gedanken, Reaktionen, Absichten und Motiven beschrieben.

Auch Tiere, ja sogar Pflanzen sind individuelle Lebewesen, die sich selbst zu erhalten streben, also in Beziehung zu sich stehen. Und bei Tieren haben wir durchaus Veranlassung, von bewussten, mentalen Zuständen ihres Selbstverhältnisses zu reden, bei höher entwickelten Tieren besonders ausgeprägt. Auch Tiere außerhalb der Gattung Mensch müssen sich von anderen Individuen abgrenzen, im Kampf und Konflikt mit anderen ihr Leben bewältigen, sich zugleich in eine Gemeinschaft eingliedern und somit Sozialverhältnisse in der Ko­operation mit anderen Lebewesen aufbauen.

Verstehen wir unter Lebewesen solche Individuen, die im Verhält­nis zu sich und im ebenso konfliktträchtigen wie kommunikativen Austausch mit ihrer Umwelt und mit anderen Lebewesen stehen, dann befinden wir uns – und darauf kommt es hier an – in ganz anderen kategorialen Ordnungen des Lebens als wenn wir einen bio-physischen Organismus bis hinein in seinen genetischen Bauplan analysieren. Nur in diesen nicht lebenswissenschaftlichen Ordnungen des Lebens, wie sie in der Literatur und der darstellenden Kunst, in Philosophie und Theologie, in den Erzählungen der Religionen entwickelt werden, stellen sich jedoch die Sinnfragen, die normativen Fragen, die Fragen der bewussten und entscheidungssensiblen Lebensführung.

Und dann schließlich erst, wenn menschliche Individuen gemeint sind, die ihr Leben selbstbewusst führen müssen, die sich an Normen orientieren, vor Wahlentscheidungen stehen, sich Ziele setzen, die Erfolge haben und Niederlagen erleben, schuldig werden und Ver­antwortung übernehmen, stellt sich mit den Sinnfragen auch die Frage nach den Zwecken der Forschung in den Lebenswissenschaften und ob wir sie überhaupt verfolgen sollen. Auch die Fragen der Ethik ergeben sich erst dann, wenn wir in die anderen, nicht allein biologischen, sondern praktischen, soziokulturell vermittelten, vom menschlichen Handeln sinnorientiert geschaffenen und normativ reflektierten Ordnungen des Lebens eintreten.

5. Das Lebenswissen und der Glaube an Gott

Nach der Entschlüsselung des menschlichen Genoms sind die Lebens­wissenschaften dabei, die Naturbedingungen des Lebens vollständig aufzuklären. Ebenso wird die Elementarteilchenphysik irgendwann die letzten Fragen zur Entstehung des Universums im Urknall be­antworten. Die Evolutionstheorie mit ihrem Anspruch, die Höherent­wicklung der Arten bis hin zum Menschen zu erklären, steht schon lange nicht mehr ernsthaft in Frage, auch wenn ihr Erklärungsmodell dem biblischen nicht entspricht.

Ebenso klar ist jedoch, dass Gott und seine Schöpfung kein Gegen­stand der Natur- und Lebenswissenschaften sein können. Wer recht versteht, was der Glaube an Gott und an die Welt als Gottes Schöpfung bedeutet, der kann ohne jede Verunsicherung seines Glaubens zur Kenntnis nehmen, dass die Physik es definitiv ausschließt, Gott als eine Entität vorzustellen, die über den Wolken oder irgendwo anders im Weltall wohnt. Es muss den Glauben an Gott auch keineswegs irritieren, dass Chemie und Biologie es verbieten, die Entstehung des Lebens als bewussten Schöpfungsakt eines absichtlich handelnden, transmundanen Handlungssubjekts anzusehen. Gott ist überhaupt nicht nach Art eines personalen Gegenstandes, der in Raum und Zeit existiert, vorzustellen. Das würde bedeuten, ihn auf das Niveau einer Tatsache in der Welt herunterzuziehen. Als Gegenstand in der Welt könnte und müsste er dann auch zum Gegenstand unseres Wissens werden können bzw. es wäre dem Wissen zuzugestehen, behaupten zu dürfen, dass Gott nicht existiert, da er als ein Gegenstand in der Welt oder über der Welt bislang nicht hat aufgefunden werden können.

Genau dieses Vorgehen wird jedoch dem mit dem Wort ‚Gott‘ seit jeher Gemeinten nicht gerecht. Das mit dem Wort ‚Gott‘ Gemeinte kann überhaupt nur als etwas gedacht werden, das die Welt als Ganze und unser eigenes Dasein in ihr mit einschließt und begründet. Das Wissen und die Wissenschaften sind immer auf etwas in der Welt, auf Teile der Welt, auf Vorgänge mit der Welt, und seien es die Ursprünge des uns bekannten Universums oder die genetischen Informationen des Lebens, ausgerichtet. Das Wissen macht alles, was es weiß, zu seinem Gegen­stand, zu Tatsachen unter vorkommenden Ereignissen. Das aber kann nicht der intentionale Gehalt des mit dem Wort ‚Gott‘ Gemeinten sein. Das mit dem Wort Gott Gemeinte muss etwas sein, das per definitionem gar nicht Gegenstand eines Wissens sein kann. Gott kann nicht gewusst werden, er muss geglaubt werden. Das ist gerade mit dem Fortschritt des Wissens und der Wissenschaften klar hervor­getreten. Insofern kann man sagen, dass dieser Wissensfortschritt, auch der in den Lebenswissenschaften, überhaupt nicht die Kraft hat, den Glauben an Gott das Fürchten zu lehren. Im Gegenteil, der wissen­schaftliche Fortschritt hat den Glauben an Gott allererst zu sich selbst befreit und von allen ihm fremden Ansprüchen auf die Welterklärung entlastet.[3]

Der Glaube an Gott muss vor dem Wissen und den Wissenschaften nicht zurückschrecken. Gerade wenn Glaubende bereit sind, das Wissen zu achten und an seiner Förderung mitzuarbeiten, werden sie sich durch den Wissensfortschritt in ihrem Glauben bestätigt finden. Denn auch das Wissen hat seine Grenzen, deren gerade derjenige an­sichtig wird, der möglichst viel wissen will. Worin schließlich ist das Vertrauen in das Wissen eigentlich begründet? Wie kommt es, dass wir auf der Basis unseres Wissens erfolgreich in dieser Welt handeln können, dass also die Dinge in der Welt tatsächlich unserem Wissen von der Welt entsprechen und sie sich aufgrund dieser Entsprechung durch Technik einrichten, verändern und steuern lassen? Warum das so ist, wissen wir letztendlich nicht. Wir sind, wenn wir handeln, viel­mehr darauf angewiesen, unser Handeln auf Wissen zu stützen und auf den Erfolg zu hoffen. Könnten wir den Grund der Ermöglichung unseres Wissens vor uns bringen, dann wäre er zu seinem Gegenstand geworden und gerade nicht als dasjenige erfasst, was uns die Gegen­stände in ihrer Zugehörigkeit zur Welt wahrnehmen, in ihren Sinn­zusammenhängen bestimmen und uns absichtsvoll, auf Technik ge­stützt, mit ihnen umgehen lässt. Wir können, wie leicht einzusehen ist, weder den Ermöglichungsgrund noch die Folgen unseres Wissens und damit auch nicht die Folgen des durch unser Wissen ermöglichten Handelns in der Welt vollständig überblicken, sie somit auch nicht im Ganzen wissend vor uns bringen.

Wenn wir daher nach dem Grund des Vertrauens in unser Wissen und nach der Rechtfertigung der Hoffnung auf die Erfolge unseres wissenschafts- und technikgestützten Handelns in der Welt fragen, stoßen wir auf die Tatsache, dass wir eine einzigartige Beziehung zwischen uns Menschen und der Welt in Anspruch nehmen. Diese ein­zigartige, grundfügende Beziehung zwischen Mensch und Welt be­wirkt, dass uns unser Dasein als zugehörig zur Welt in absichtsvoller Weise bewusst ist. Und viel spricht dafür, eben diese grundfügende Einheit aller Gegensätze, mit der uns die Welt als Ganze entgegentritt, mit dem Wort ,Gott‘ zu bezeichnen und in ihrer lebenspraktischen Relevanz zu deuten. Weil ein Gott ist, der Stimmigkeit zwischen unserem Denken und der uns gegenüber stehenden Welt stiftet, können wir Bestimmtes in ihr wissen und zielorientiert in ihr handeln. Diesen Gott können wir nicht wissen, denn wir hätten ihn damit zu einer Tatsache unter den vielen anderen Gegenständen des Wissens herabgezogen. Diesen Gott, der die Einheit und damit den Sinn des Ganzen der uns wissend und handelnd zugänglichen Wirklichkeit garantiert, können wir nur glauben. Auf ihn können wir nur kraft einer Bewegung unseres Gemütes vertrauen. Für diesen Glauben gibt es allerdings gute Gründe und verschiedene Wege, auf denen er sich ein­stellt und zu finden ist. Diese Wege führen, wenn wir sie rückwärts gehen, hinein in unser leib-seelisches Dasein, in unsere Emotionen und Phantasien, in alle unsere mentalen Zustände, Erfahrungen und Tätig­keiten.

Der Glaube an Gott fängt in den praktischen Vollzügen unseres Lebens gar nicht direkt mit Gott an, sondern mit einer unmittelbar in uns aufkommenden Daseins- und Weltgewissheit, die uns absichtsvoll handeln und auf unser Wissen vertrauen lässt. Wir sind uns vor aller Reflexion unmittelbar dessen bewusst, dass sich uns die Welt im Wissen fortschreitend erschließt und wir mit unserem Handeln zumeist erfolgreich sind. Den Grund dieser Selbst- und Weltgewissheit können wir nicht wissend vor uns bringen. Diese Gewissheit hat den Charakter einer emotionalen Selbsterschlossenheit. Sie ist ein Gefühl, ein Grund­gefühl der Welteinpassung, ein unmittelbares Realitätsbewusstsein, das uns in unserer Weltzugewandtheit trägt und zum Handeln affektiv be­fähigt. Als diese emotional-affektive Selbst- und Welterschlossenheit ist die ursprünglich ins uns aufkommende Lebenssinngewissheit noch kein Glaube an Gott. Sie muss zu einem solchen Glauben an Gott auch nicht in allen Fällen werden. Dass wir aber aufgrund der Entsprechung, die wir zwischen unserem Denken und dem Gegebensein einer uns er­schlossenen und im Handeln gestaltbaren Welt emotional erfahren, die wir gewissermaßen leibhaft spüren, einen Gott postulieren, ist ver­nunftmäßig erfassbar. Diesen Gott, an den wir dann vernünftigerweise auch glauben können, verstehen wir als den Grund der Einheit von Denken und Sein.[4]

Was uns zu Gott und in den Glauben an ihn führt, ist somit das unwillkürliche Aufmerken auf die in uns als selbstbewussten Wesen aufkommende Daseinsgewissheit. Der Glaube an Gott ist eine Artikulation der Tatsache, dass wir vom Sinn unseres Daseins und Handelns in dieser Welt zumeist fraglos überzeugt sind und hierfür eine Deutung suchen. Zunächst erfahren wir den Sinn unseres Daseins auf sinnliche Weise, eben dadurch, dass wir durch unsere Sinne un­mittelbar mit der uns gegenüberstehenden Welt verbunden sind. Wir fühlen sodann an uns selbst, dass unser Handeln in der Welt und damit unser ganzer personaler Lebensvollzug Sinn hat. In unserem unmittel­baren Selbstbewusstsein nehmen wir die Einheit von Denken und Sein wahr, sind wir emotional dessen gewiss, dass wir selbst denkendes Sein und seiendes Denken sind. Aber erst in der Reflexion auf dieses Gefühlsbewusstsein versuchen wir die in unserem Gefühl präsente Einheit des Ganzen der uns selbst einschließenden Wirklichkeit zu denken und in ihrer Relevanz für unsere Lebensführung zu bestimmen. Demnach erfahren wir gewissermaßen auf dreifache Weise den Sinn, dessen wir uns in unserem praktischen Lebensvollzug – zumeist implizit und damit bedenkenlos – bewusst sind. Wir leben unmittelbar mit und aus dem Sinn, der sinnlich zu erfahren ist. Wir empfinden ihn als den inneren Zusammenhang der Wirklichkeit mit uns selbst, fühlen die Einheit der Wirklichkeit gewissermaßen in der Tiefe der Seele. Wir greifen dabei schließlich mit bewussten und sprachlich artikulierten Deutungen auf den Sinn des Ganzen von Welt und Leben aus. Dann versuchen wir zu sagen, worauf der Sinn des Ganzen, also der innere Zusammenhang zwischen uns selbst und der Welt, in der wir ziel­bewusst tätig sind, beruht bzw. worin er gründet. Dafür aber ist schließlich das Wort ‚Gott‘ seit alters und zumal im Kontext der christ­lichen Symbolkultur der treffende Ausdruck. Gott, so spricht der an ihn glaubende Mensch, ist der Garant des Sinns, in dem wir unser Leben führen.

Auf den Weg zu Gott führt somit das sinnliche Sinnempfinden, in das uns der Lebensvollzug selbst hineinzieht. Erst mit seiner sprach­lichen Deutung und Artikulation wird dieser Sinngrund jedoch als Gott bewusst. Nur im Rahmen dieser Deutung und Artikulation wird ein Mensch von seinem Glauben an Gott sprechen. Wer von seinem Glauben an Gott spricht, übersteigt damit zugleich auch sein Selbstver­trauen und seine Lebenssinngewissheit auf den unbedingten Grund hin, aus dem sie entspringen. Er bezieht sich im Glauben an Gott bewusst auf den Garanten dafür, dass ein unbedingter Sinn ihn selbst und die ihm erschlossene Welt im Ganzen trägt. Sein Glaube ist geradezu die ihm eigene Fähigkeit, sich selbst auf bewusste Weise zu diesem das Ganze der Wirklichkeit tragenden Sinngrund zu verhalten. Er ist die ihm eigentümliche Kraft, sich selbst auf diesen Grund, der ihn mit dem Ganzen der Welt verbindet, hin zu überschreiten. Indem er den Glauben an Gott zugesteht, überführt er gewissermaßen die von ihm emotional empfundene Sinngewissheit in ein bewusstes Vertrauen auf die Verlässlichkeit und Tragfähigkeit ihres Grundes. Er transzen­diert sich selbst und sein Gefühlsbewusstsein, indem er den Gedanken eines Unbedingten entwickelt, von dem er selbst mit seiner Sinn­gewissheit unbedingt abhängt, in das er damit aber auch einbezogen ist. Dieses Transzendieren, das nicht auf ein gegenständlich Anderes geht, sondern die gedankliche Einkehr in den Grund der sinnlich un­mittelbar, emotional empfundenen Sinngewissheit ist, ist ein Tun und Erleiden des Menschen zugleich.

Gerade aus solcher Erfahrung und Einkehr erwächst das ge­steigerte Vermögen, den Sinngrund im Lebensvollzug auch angesichts manifester Sinnkrisen festhalten zu können. Selbst in den Erfahrungen der Angst und Unsicherheit, der Sorge und der Verzweiflung, des Leidens und der Not kann der glaubende Mensch auf den Lebenssinn vertrauen, weil er ihn letztlich nicht in sich und dem Glücken seines Lebensvollzuges, sondern in Gott als dem das Ganze, Glück und Un­glück, umgreifenden Sinngrund festmacht. Wer auf Gott vertraut, ver­traut auf keine ins Übermächtig-Überweltliche hypostasierte, subjekt­haft-gegenständliche Wirklichkeit, sondern verlässt sich auf die Beständigkeit des ihm sinnlich-emotional gegenwärtigen Sinns seiner Lebenswelt. Er vertraut auf die unzerstörbare Verlässlichkeit eines un­bedingten Sinngrundes. Glaube an Gott als Vertrauen zu Gott bewirkt, dass eine glaubende Person auch in den Erfahrungen des Ungeheuren und Desaströsen die Lebenssinngewissheit nicht verlieren muss.

Solcher Glaube bleibt damit freilich eine persönliche Über­zeugungsgewissheit, die in enger Verbindung steht mit anderen Über­zeugungen, die uns in unserem Lebensvollzug orientieren. Sofern Glaube die bewusste Artikulation einer im Lebensvollzug sinnlich-emotional aufkommenden Sinngewissheit ist, bleibt er davor bewahrt, über diesen Gott Aussagen zu machen, die ihn zu einem gegenständ­lichen oder subjekthaft in die Welt eingreifenden Wesen hypostasieren. Sofern Glaubende wissen, dass sie sich auf eine für jeden Menschen spürbare Sinngewissheit stützen, können sie überzeugt sein, dass Gott als der Garant des Lebenssinns auch dort wirksam ist, wo Menschen sich seiner nicht bewusst sind, möglicherweise sogar seine Existenz leugnen. Als Hilfe zum Leben und als Stärkung der Sinngewissheit wird Gott freilich nur erfahren, wo auch der Glaube an ihn bewusst vollzogen und er als der unbedingte Halt im Leben artikuliert bzw. bekannt wird.

6. Die Grenzen des Wissens und das Recht des Glaubens

Nach anfänglichen Kulturkämpfen haben Literatur und darstellende Kunst, Philosophie, Religion und Theologie davon Abstand ge­nommen, eine mit den modernen Wissenschaften konkurrierende Lebens- und Welterklärung zu geben. Alle Gottesbeweise, um die sich Philosophie und Theologie in früheren Zeiten immer wieder bemüht haben, sind gescheitert. Empirisches Wissen ist nur von Sachverhalten möglich, die wir gegenständlich untersuchen können. Gegenständlich gegeben sind moralische Normen, Sinnzusammenhänge, mentale Zu­stände und damit zwar die emotionalen und kognitiven Grundlagen für den Glauben an Gott – aber nicht Gott selbst. Es gibt keine Wissensgehalte, die dafür sprechen, dass die Behauptung von Gottes Existenz für wahr zu halten ist. Ebenso wenig lassen sich jedoch objektive Tatbestände z. B. dafür geltend machen, dass wir Menschen frei entscheiden können und unser Leben wirklich einen Sinn hat. Entsprechend führt uns die Reflexion auf den Garanten des Sinns, aus dem und durch den wir leben, nicht zu einem Wissen um die Existenz Gottes, aber sie lässt an diese mit guten Vernunftgründen glauben. Denn die Reflexion auf den Grund der von uns empfundenen Sinn­gewissheit motiviert zu deren religiöser Deutung, die uns dann auch von Gott sprechen und auf dessen wirksame Existenz vertrauen lässt. Gott gibt es, kann eine glaubende Person sagen, so wahr wir uns des Sinnes unseres tätigen Lebens in dieser Welt bewusst sind. Aber im Gang der Argumentation wird auch deutlich, in welchem Sinne dieses Reden von der Existenz Gottes gemeint ist. Es ist eine auf der Basis des Sinnvertrauens postulierte Existenz. Gott wird nicht auf einen Gegen­stand in der Welt oder über der Welt, nicht auf ein höchstes oder tiefstes Seiendes reduziert. Gott ist vielmehr der vernünftige Gedanke des Sinngrundes unseres im Wissen und Handeln auf die Welt be­zogenen Lebens. Er ist der Gedanke des Sinngrundes einer Welt, die uns in ihren Sinnzusammenhängen erschlossen und insofern unserem Wissen und Handeln zugänglich ist. Gottes Existenz ist, kann der glaubende Mensch sogar sagen, so gewiss wie wir uns des Sinnes unseres Lebens in dieser Welt gewiss sind. Ja, mehr noch, Gottes Existenz ist als der Gedanke eines unbedingten Sinngrundes unseres Daseins sogar gewisser als der Lebenssinn, dessen wir gewiss sind. Wer auf Gott vertraut, kann sich deshalb des Sinns seines Lebens auch dann und dort gewiss sein, wo scheinbar aller Lebenssinn sich entzieht. Einer Person, die glaubt, wachsen das Vermögen und die Kraft zu, selbst in Erfahrungen offenkundigen Sinnverlustes, in Erfahrungen von Angst, Verzweiflung, Not und Tod am Sinn ihres Daseins festhalten zu können. Allerdings, dass Gott als der Sinn des Ganzen unser endliches Dasein umgreift und unendlich in sich birgt, darauf eben vertraut und hofft der glaubende Mensch. Ob es tatsächlich so ist, wie er glaubt, weiß er nicht.

Der Glaube an Gott ist keine theoretische Erkenntnis, kein wissen­schaftliches Wissen wie es die Natur- und Lebenswissenschaften hervorbringen. Er beruht damit aber auch auf keinem Wissen, das mit dem Wissen der Natur- und Lebenswissenschaften in Konflikt geraten könnte. Der Glaube an Gott entspringt der Deutung einer emotional empfundenen, sinnlich unmittelbaren Sinngewissheit. Er gewinnt im Lebensvollzug die Gestalt eines moralischen Glaubens oder, so könnte man auch sagen, einer praktischen Lebensüberzeugung, die auf einer anderen kategorialen Ebene liegt als das Wissen der Lebenswissen­schaften. Immanuel Kant war der Meinung, dass wir neben der wissen­schaftlichen Erkenntnis diesen praktischen Vernunftglauben ebenso dringend brauchen. Er sollte in seinen Augen kein Grübeln darüber veranlassen, ob Gott vor und jenseits der Welt existiert bzw. ob es einen objektiven, metaphysisch verankerten Sinn des Lebens gibt. Schleier­macher nahm diese Argumentation auf und führte die Rede von Gott und seinen Eigenschaften dezidiert auf die Reflexion unseres gefühls­basierten Selbstbewusstseins zurück. In seiner Betrachtung ist der Glaube an Gott nie das Ursprüngliche und Unumgängliche im religiösen Selbstverhältnis eines Menschen – d.h. im Selbstverhältnis jedes Menschen. Wer sich zu seinem Glauben an Gott bekennt, artikuliert den Gedanken eines unbedingten Grundes des von ihm wie von jedem Menschen empfundenen Selbst- und Sinnvertrauens. Er findet eine Sprache, die ihn sagen lässt, von woher wir kommen, wohin wir gehen und was uns trotz allem, das dagegen steht, auf einen guten Ausgang aller Dinge hoffen lässt.

Lebenssinn vermitteln können die Natur- und Lebenswissenschaften nicht. Sie können dafür anderes, was uns allergrößten Respekt abnötigt und uns unsere Zukunft sichern hilft, sofern wir diese nur mit ver­einten Kräften sinnvoll gestalten. Aber eben die existentiellen Sinn­fragen sind Fragen, die keinen bestimmbaren und analysierbaren Gegenstand haben, sondern auf das Ganze gehen. Entsprechend ist es mit den praktischen Glaubensfragen – dies sind Fragen, die in unserer privaten, beruflichen und politischen Existenz aufkommen, wenn wir handeln müssen. Dann brauchen wir Orientierung an größeren Sinn­zusammenhängen und an Normen, über die wir uns verständigen können. Schlicht vorgegeben sind uns der Sinn und die ethischen Normen in der modernen Kultur nicht. Deshalb ist es für uns so dring­lich geworden, dass wir neben der Bedeutung, die wir den Lebens­wissenschaften geben, uns einüben auch in die Lebenskunst des rechten Umgangs mit ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Die Lebenskunst ist die Sorge um uns selbst. Sie nimmt die kulturelle Arbeit an den Sinnfragen auf. Sie kann uns, so wir nur aufmerken auf die sich in uns immer schon bildende Sinngewissheit schließlich dahin führen, uns bewusst in Gott zu festigen und zur Welt wie zu den anderen Lebewesen hin zu öffnen.

Quelle: Thomas Klie/Martina Kumlehn/Ralph Kunz/Thomas Schlag (Hrsg.), Lebenswissenschaft Praktische Theologie?!, Berlin-New York: De Gruyter, 2011, S. 79–95.


[1] Vgl. Adolf von Harnack, Das Wesen des Christentums, hrsg. und kommentiert von Trutz Rendtorff, Gütersloh 1999, 261f.

[2] Vgl. Jürgen Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?, Frankfurt a. M. 2002.

[3] Vgl. zu diesem Argumentationsgang Volker Gerhardt, Die Vernunft des Glaubens. Zur Atheismusdebatte, in: Christ in der Gegenwart, 59. Jahrgang, Nr. 50/2007, 417f.

[4] So verläuft auch Schleiermachers Argumentation für seinen transzendentalen Religionsbegriff wie er sie in den entsprechenden Passagen seiner Dialektik-Vorlesungen aufgemacht hat. Schleiermacher hat zu Recht jedoch das transzendentale Argument für die Existenz Gottes vom Lebensvollzug der Frömmigkeit, den er als ein ganzheitliches Existentialverhältnis beschreibt, unter­schieden wissen wollen. Die folgenden Ausführungen beziehen sich stärker auf eben diese Theorie der Frömmigkeit und der religiösen Erfahrung.

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